Читать книгу Die andere Schwester - Peter Schmidt - Страница 8
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ОглавлениеDer Saal war so groß wie das Auditorium einer Hochschule und fiel zum Podium hin steil ab. Als er sich über die Sesselreihen beugte, überkam ihn wieder die Furcht, den Halt zu verlieren. Unter dem Podium zeichnete sich ein helles Viereck ab, das bei Boxveranstaltungen den Ring bildete.
Er ging durch die leeren Reihen, das Kuppelgewölbe aus Beton und grün gestrichenen Balken über sich, an denen Transparente eines Festivals hingen, und sein Blick folgte den weggeworfenen Handzetteln, Eintrittskarten und Pappbechern, als seien sie eine Spur, der sich nachzugehen lohnte.
Irgendwo erklang Musik. Jenseits der Flügeltüren war die grelle Sonne, und darin, solange ihn das Licht blendete, nur undeutlich abgezeichnet, eine Rennbahn mit niedrigen Gebäuden. Er ging den Wiesenhügel hinauf, bis er unter sich das Gelände der Kirmes sah.
Das Karussell mit seinen weit ausschwingenden Kettensitzen war in voller Fahrt, aber leer. Noch ein Stück weiter standen Wohnwagen. Dahinter bewegten sich Lastkähne über den Kanal, und ein Düsenflugzeug stieß durch den weißblauen Dunst.
Gorden ließ sich treiben, er versuchte sich über seine Gedanken und Gefühle klarzuwerden.
Wo war Doktor Klein? Gab es darauf einen Hinweis? Und Katja?
Man hat mich meiner Persönlichkeit beraubt, dachte er. Ich bin nichts weiter als ein Torso, ein Bauch mit Füßen – so gut wie tot. Aber warum hatte man das getan? Der scheppernde, rhythmische Klang der Kirmesorgel beraubte ihn für einen Augenblick jeder Konzentration.
Ein schmächtiger, asiatisch aussehender Mann mit Hängeschultern arbeitete sich dicht hinter ihm durch das Gedränge, jede neu entstandene Lücke ausnutzend, seine Bewegungen waren fließend und gelenkig wie die eines gutdressierten Hundes.
Einmal glaubte Gorden seinen Atem im Nacken zu spüren: den süß-sauren Geruch fremdländischer Gewürze. Aber als sie vor der Achterbahn standen, löste er ein Ticket am Kartenhäuschen, ohne ihm Beachtung zu schenken.
Gleich darauf sah er ihn im Wagen über die Bahnen sausen. Der Mann schwenkte seine dünne weiße Leinenmütze in Richtung einer Gruppe junger Mädchen.
Zu viele James-Bond-Filme gesehen, Gorden!
Das Mosaik, dieses Bild, das sich schon mit so klaren Andeutungen zusammenzufügen begann, löste sich unversehens in ein karges Gerippe auf. Was wusste er eigentlich über sich? Dass er einen Schuh verloren hatte und politische Artikel schrieb.
Aber selbst solcher Nebensächlichkeiten würde er sich erst in mühseliger Kleinarbeit vergewissern müssen. Ein langer, quälender Prozess der Rückerinnerung. Entnervt steuerte er auf ein Taxi zu, das zwischen den Kirmeswagen am Ende der Sackgasse wartete, seine runden Scheinwerfer sahen ihn an wie Augen.
Er ekelte sich davor, jede Einzelheit zu drehen und zu wenden, um in seiner Vergangenheit zu wühlen, die vermutlich genauso unerquicklich war wie die der meisten Durchschnittsmenschen.
Brotberufe, Sklaverei von acht bis vier, fünf Wochen Jahresurlaub und die schöne Illusion, man sei schon deswegen sein eigener Herr, weil man abends die Schuhe ausziehen und mit einer Flasche Bier in der Hand seine müden Füße vor den Fernseher betten konnte.
"Kantstraße neun."
Er horchte verwundert dem Klang seiner Stimme nach. Kantstraße, das musste die Straße sein, wo seine Wohnung lag.
Mit einem Schlage fühlte er sich wieder im Besitz seines Gedächtnisses, obwohl das eine mindestens genauso fragwürdige Illusion war wie die Überzeugung, als Angestellter über sein Schicksal verfügen zu können.
Aber dort würden Erinnerungsgegenstände in Hülle und Fülle sein: Papiere, Bilder, Möbel, Kleidung, Kalender und sogar Briefe.
Aus dem Markenetikett einer Hose ließ sich vielleicht rekonstruieren, wo sie gekauft worden war. Ein Foto musste einen ganzen Wust von Erinnerungen wachrufen. Bücher, Artikel, falls er denn wirklich welche geschrieben hatte, Rechnungen. Ein Zahlungsbefehl zum Beispiel würde wie ein Geständnis wirken.
Dein Charakter ist ausgezeichnet, Gorden, aber deine Zahlungsmoral läßt sehr zu wünschen übrig. Wie viele Tage Ihrer Schuld gedenken Sie als Haft abzusitzen? Selbst eine Verurteilung als Raubmörder wäre noch eine Erleichterung gewesen angesichts dieses konturlosen Daseins, dieses Taumels durch das Nichts.
Das Haus kam ihm unbekannt und grau vor. Ein glanzloser Wohnsilo, der aus den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg stammte. Seitdem musste sein Besitzer gerade zwei halbe Eimer Farbe für den Anstrich der Fassade verwendet haben. Sich an ein so exquisites Quartier nicht mehr erinnern zu können war fast schon wie Selbstschutz.
Er musterte die Türschilder. Den Namen Mark Gorden gab es hier nicht.
Aber im zweiten Stock hatte man das Schild entfernt. Er sah durch die Scheiben des Krämerladens auf der anderen Straßenseite. Der Verkäufer trug einen weißen Kittel und füllte Regale auf.
Angestellter eines kleinen Lebensmittelgeschäftes zu sein, dachte er – das würde alle Probleme mit einem Schlage beenden. Man wusste, wer man war, wenn auch um den Preis einer klaren Rangordnung von Herr und Sklave.
Man ging morgens zur festgesetzten Zeit an die Arbeit, und der Tag verlief ohne Überraschungen, denn wer im Viertel anschrieb und wer selten seine Rechnungen bezahlte, das erfuhr man schon in den ersten Wochen.
Er öffnete mit gespanntem Blick die Tür zum Treppenhaus. Auf dem Zwischenabsatz spielten Kinder, zwei rotznasige Banditen, die einem Mädchen mit stämmigen Beinen – es war zwei oder drei Jahre älter als sie – das Zigarettenrauchen beibrachten. Er versuchte an ihren Mienen abzulesen, ob sie ihn kannten.
Aber das war ein genauso hoffnungsloses Unterfangen, wie einem Pokerspieler vor dem Aufdecken seine Blattfolge zu entlocken.
Als er um den nächsten Treppenabsatz bog, glaubte er sich plötzlich zu erinnern. Ein unerkanntes Genie hatte sich auf der Wand zwischen den Korridortüren mit der in grellen Grundfarben gemalten Vision einer Welt verewigt, die aus Männern in Tauchanzügen, fehlgebildeten Gnomen und gallertartigen Außerirdischen bestand.
Hänsel-und-Gretel-Farben, Grün, Rot und Gelb in einer Intensität, die sogar einen Blinden hätte glauben machen können, das Dunkel vor seinen Pupillen beginne sich endlich zu lichten.
Er hoffte inständig, dass er nicht selbst dieser unbekannte Künstler war, es hätte ein etwas bizarres Licht auf sein Innenleben geworfen. Gorden drückte die Etagentür auf, sie war bloß angelehnt. Im Wohnzimmer stand ein voller Farbeimer. Der Raum hinter dem Durchbruch erweiterte sich an der Fensterseite zum alkovenartigen Erker, in dem nur noch ein paar leere Blumentöpfe standen. Der Boden des Podests war mit Sitzmatten aus geflochtenem Bast bedeckt.
Das Ganze erinnerte wegen seines vorgebauten Glasdachs an ein Atelier. Durch die Dachscheiben sah man den brüchigen Backsteinkamin. Die Tapeten oder das, was von ihnen übriggeblieben war, denn einige Bahnen hingen in Fetzen herunter, als habe man bereits mit der Renovierung begonnen, waren in nüchternem Weiß gehalten.
Auf dem Kaminvorsprung im Wohnzimmer lag ein Stapel alter Zeitschriften. Er durchstreifte unruhig die Räume und blieb erst wieder stehen, als der Blick aus dem Fenster seine Aufmerksamkeit erregte.
Ja, er erinnerte sich: Diesen Ausblick hatte er immer besonders gemocht …
Es war ein kreisrunder kleiner Park mit alten Bäumen und weißen Bänken. In der Mitte stand ein bronzener Vogelbauer.
Also gut, machen wir Kassensturz, dachte er. Dies ist zweifellos meine Wohnung. Aber warum wurde sie ausgeräumt?
Er kehrte ins Treppenhaus zurück und musterte noch einmal die Namensschilder. Keines kam ihm bekannt vor. Er sah zwischen dem Geländer hindurch auf den ersten Treppenabsatz hinunter. Die Kinder waren verschwunden, man hörte sie im Hof lärmen.
Gorden ging die Seitentreppe zum Anbau hinauf und folgte einem Geruch von Essen, der so scheußlich war, dass man damit leicht ganze Säle hätte räumen können – eine Mischung aus Kohl, ranzigem Öl und eingelegtem Knoblauch, Speck und Majoran, wenn er sich nicht täuschte. Aber das war sicher nicht das vollständige Geheimnis der Mischung.
Er läutete und wartete ab, bis sich schlurfende Schritte hinter der Tür näherten. Dann trat er einen Schritt zurück, damit man seine volle Statur im Türspion begutachten konnte.
"Sie wünschen?"
Das Gesicht der Frau erinnerte an einen fleischfarbenen Blasebalg. Er hatte nicht damit gerechnet, dass sie so unvermittelt ihren Kopf durch den Türspalt stecken würde. Ihre Hässlichkeit ließ ihn unmerklich zurückfahren.
"Na, Kleiner, 'n Schreck gekriegt beim Anblick einer richtigen Madam?"
"Wir kennen uns doch, oder?“, fragte Gorden.
"Kennen? Nein ... sollten wir das?"
"Ich bin der Mieter aus der Wohnung unter Ihnen."
"So? Na, da haben Sie Pech. Ich kümmere mich nicht um die Nachbarn im Haus. In dieser Bruchbude geht jeder seiner eigenen Wege."
"Aber wir müssten uns schon mal irgendwann im Treppenhaus begegnet sein," beharrte er.
Sie studierte kopfschüttelnd sein Gesicht. "Ihr jungen Burschen seht doch alle gleich aus."
Gorden verlor schlagartig die Lust, noch weiter sein Recht bei ihr geltend zu machen, ein Mensch aus Fleisch und Blut und kein nichtssagender Schatten zu sein: jemand, der irgendwann wahrgenommen worden war. Und sei es auch nur, weil er vergessen hatte, den Flur zu wischen oder die Mülleimer zu leeren.
Er ging hinunter und läutete an der Tür zwei Etagen tiefer.
Eine Frau um die Vierzig öffnete, Typ verhärmte Lehrerin in ausgeleierter Strickjacke.
"Pardon, ich war ein paar Tage lang nicht zu Hause", sagte er und zeigte durch die Flurdecke nach oben. "Haben Sie eine Ahnung, wer meine Wohnung ausgeräumt haben könnte?"
"Ihre Wohnung ausger ...? Nein."
"Aber Sie erinnern sich noch an mich?"
Ihr Blick forschte einen Moment lang in seinem Gesicht. Sie hatte dunkle, traurige Augen, als sei sie zu oft von den Männern enttäuscht worden. Gorden versuchte möglichst seriös und vertrauenswürdig dreinzublicken, ganz der nette Mieter von nebenan, der immer für eine Dose Kondensmilch oder vergessene Zündhölzer zur Verfügung stand.
"Bedauere. Ich bin gerade erst von einem längeren Studienaufenthalt aus Italien zurückgekehrt."
"Gorden, Mark Gorden", sagte er und streckte leutselig seine Hand aus. "Wie gefiel Ihnen Florenz?"
"Tut mir leid, hier im Haus kümmert sich niemand um den anderen."
"Hab' ich auch schon bemerkt." Gorden nickte vielsagend, er musterte die kleinen Fäuste in den ausgebeulten Taschen ihrer Strickjacke – dann machte er auf dem Absatz kehrt. Er hatte es plötzlich eilig, aus dem Haus zu kommen. Dass er so schnell aufgab, schien sie zu überraschen.
"Jemand hat Ihre Wohnung ausgeräumt?" rief sie ihm nach. "Ist ja ungeheuerlich. Wenn Sie wollen, koch ich Ihnen schnell einen Kaffee? Sie könnten von meinem Telefon aus die Polizei anrufen."
"Ihr freundliches Angebot in Ehren, aber das wäre doch wohl ein wenig zuviel Aufwand wegen einer verschwundenen Wohnungseinrichtung." Er spürte, dass mit seinem Ärger auch sein Sarkasmus zurückgekehrt war, und diese Beobachtung erleichterte ihn mehr als ein paar wiedergefundene Stühle. Jemand schien alle Erinnerungen an ihn ausradieren zu wollen, falls er seinen Hausstand nicht selber aufgelöst hatte, und offensichtlich hätte er dafür kein besseres Haus als dieses finden können.
"Und Sie sind sicher, dass Sie hier gewohnt haben?"
"Was meinen Sie mit 'sicher'? Kann man denn bei irgend etwas wirklich sicher sein? Ich erinnere mich. Und weil ich mich vergewissern will, dass andere sich auch an mich erinnern ..."
"Heutzutage sind eine Menge Verrückte unterwegs."
"Danke für den Hinweis. Ich bin eben aus der geschlossenen Anstalt entflohen, wo ich zwei Pfleger und die Stationsschwester als Geiseln genommen hatte", sagte er. "Bevor mir amtlich bescheinigt wurde, ich sei gemeingefährlich, hab ich draußen in den Straßen Jack the Ripper kopiert – das ist es doch, was Sie hören wollen?"
"So genau wollt' ich's nun auch wieder nicht wissen," sagte sie und schob die Wohnungstür zu.
Gorden verließ sein ehemaliges Zuhause mit der fast schon zur Gewissheit gewordenen Überzeugung, dass er nie mehr hierher zurückkehren würde. Dieses Haus brauchte weder ihn noch sonst jemand, es war vollauf damit beschäftigt, Hausierer und unerwünschte Vertreter abzuwehren. Er würde sich auf die Suche nach Katja, die offenbar seine Schwester war, und einem gewissen Doktor Stachus Klein machen.
Ein aufregendes und anstrengendes Unternehmen. Dazu taugte kein fester Wohnsitz. Man schlief unter Marktständen oder auf Parkbänken, und falls das alles nicht ausreichte, gab es immer noch Pamela.
Die Lokale und Kneipen in Doktor Kleins Umgebung schienen von seiner Existenz noch nie etwas gehört zu haben. Vielleicht war er ja Abstinenzler oder allergisch gegen Tabakrauch? Über den meisten Theken ballten sich die Rauchwolken, als sei der Holzfußboden in Brand geraten.
Gegen Abend begannen seine Füße zu schmerzen, besonders der mit dem Krokodillederschuh. Er ging die Treppe zu einem Kellerlokal hinunter, um jemanden zu finden, der etwas über Kleins Verbleib wusste.
Doch das schmierige Ambiente mit dem steifen, speckigen Filzvorhang im Eingang, dem verblichenen Spiegel an der Thekenwand, den silberfarbigen Gipsfiguren und roten Kunststoffleuchten kam ihm so passend vor für seine künftige Existenz als Stadtstreicher, dass er sich auf seine neue Wahlverwandtschaft einen Calvados genehmigte. Der scharfe Apfelbranntwein rann wie ein glühendes Lebenselixier durch seine Kehle.
Zwei Männer in abgetragenen Popelinemänteln beäugten ihn sachkundig, und ihre unrasierten Gesichter verzogen sich anerkennend, als er sich auf seinem Hocker reckte und streckte wie ein krankes Tier nach dem Heilschlaf. Sie erinnerten Gorden an entlassene Buchhalter.
Der eine hatte zwei Kugelschreiber neben sich liegen und notierte Zahlenkolonnen, und der andere pflegte vor jedem Schluck sein Glas gegen das Deckenlicht zu halten, als müsse er es erst auf seinen hygienischen Zustand prüfen. Das Ergebnis fiel regelmäßig zu seiner Zufriedenheit aus.
Gorden genehmigte sich noch einen Calvados, und die Bedienung kassierte sofort. Vielleicht, weil er beim erstenmal zu lange in seinen Jackentaschen nach Kleingeld gesucht hatte.
Die beiden Buchhalter hätten ihn gern auf ein weiteres Glas eingeladen, aber er lehnte dankend ab. So, wie er sich jetzt fühlte, war die Welt in Ordnung.
Doch ein paar Sekunden später begann der Spiegel vor ihm auf bedrohliche Weise seine Form zu verändern – Quadrat, Rhombus, Trapez –, ein oszillierender Wirbel aus Linien und Winkeln ... und dann, endlich, endlich, als er schon glaubte, alles nehme nie ein Ende, wieder jenes liegende Rechteck, das, hoffentlich, seine natürliche Gestalt war. Aber die stabile, rechtwinklige Geometrie war nur Täuschung, das sah er jetzt ganz deutlich. Eine Zufälligkeit seiner Pupillenkonstruktion. Die Kneipenfenster entpuppten sich als Bullaugen, und die Wand mit ihren Metallstangen und imitierten Kupferplatten nahm unversehens das Aussehen eines Unterseeboots an. Oben schlugen die Brecher gegen das Glas, schäumende, weiße Gischt ...
Die wandernde Form seines Gesichts im Barspiegel, die sich mit den Wellen des Belags verzerrte und seinen Nasenansatz wie eine Gummimaske dehnte und wieder zusammenschloss, wirkte auf unheimliche Weise realistischer als die Gesichter der beiden Buchhalter.
Er griff sich mit der Hand an die Kehle ... "Zu wählen zwischen Tag und Nacht steht jedem frei, und Schwarz und Weiß sind mit dem gleichen Licht bedacht ...", brachte er mühsam heraus. Der Satz war wie eine Bastion, ein Bollwerk der Freiheit gegen die Anbrandungen seines zerfließenden Bewusstseins.
"Alle Achtung, Sie sind wohl so was wie 'ne echte Kapazität, was?“, fragte der Mann mit den Zahlenkolonnen ohne jede Spur von Ironie. "Dann sollten Sie mal 'nen Blick auf das Gewinnspiel hier werfen. Mein Freund und ich, wir streiten uns darüber, ob man damit Millionär werden kann."
"Ist bloß 'n mieser Bluff wie das meiste auf der Welt", sagte der andere.
Gorden rutschte bereitwillig vom Barhocker. Der Raum hatte wieder sein normales Aussehen angenommen. Er atmete tief durch und versuchte nicht in den Barspiegel zu blicken. Doch als er stand, fühlte er, dass seine Beine wegsackten. Es war eine Schwäche, die sich nicht mehr beherrschen ließ.
Er kippte vorgebeugt gegen die Thekenstange, streckte noch einmal seine Hand danach aus ... dann wurde ihm schwarz vor Augen.
Als er erwachte, beugte sich ein bekanntes Gesicht über ihn. Gorden studierte fragend die lange, spitze Nase, das strohige, hellblonde Haar, so zerzaust und unregelmäßig wie abgerissene Weizenhalme, das dem Kopf mit den Sommersprossen etwas jugendlich Pfiffiges verlieh. Über dem linken Nasenflügel war eine kleine blaue Narbe, halbmondförmig, wie eine Sichel. Er kannte diese Narbe, und er kannte das Gesicht.
Er wusste momentan nur nicht genau, wo er es hinstecken sollte.
"Hallo, Mark, alter Junge. Kam gerade herein, als es passierte. Du bist ohnmächtig geworden."
"Wer sind Sie?"
"Großer Gott, geht's dir so dreckig, dass du dienen alten Schulfreund Zambrini nicht mehr erkennst?"
Richtig, er erinnerte sich wieder an den hellblonden Italiener, den nicht ganz freiwilligen Nachwuchs eines Sizilianers, der für ein ostdeutsches Export-Import-Unternehmen arbeitete, und einer Leipziger Stenotypistin.
Sie waren zusammen zur Schule gegangen. Zambrini hatte immer von ihm abgeschrieben, und als Dank dafür hatte er ihm angeboten, eines Tages seine Familie in einem Dorf hinter Palermo zu besuchen, sobald der Eiserne Vorhang etwas durchlässiger geworden sei.
"Hans, nicht wahr?"
"Volltreffer, alter Knabe. Na also, geht ja schon wieder. Was ist passiert?"
"Weiß nicht. Hab 'nen Filmriss."
"Zuviel getrunken?"
"Nur zwei, drei Glas."
"Setz dich da auf die Bank, und ruh dich erst mal einen Moment lang aus." Er fasste ihm unter die Achselhöhlen, und Gorden spürte, dass seine Knie noch genauso weich waren wie vor dem Sturz. "Einen Kaffee?"
"Lieber nicht. Mir fehlen mindestens vierundzwanzig Stunden. Kaffee macht die Sache nur noch schlimmer. Genauso wie Alkohol", fügte er nachdenklich hinzu.
"Du erinnerst dich nicht mehr an die Party?“, fragte Zambrini.
"Welche Party?"
"Hm, merkwürdig. Wir waren bei der Orlowsky eingeladen. Das übliche Spektakel, Parteifritzen, Künstler, Intellektuelle, die meisten wohl, weil sie sich bloß dafür halten."
"Bei der Orlowsky, ja, ich erinnere mich."
"Sie schafft es jedes Vierteljahr, noch ein paar Verrückte mehr einzuladen. Wenn die Kirmes in dem Tempo weiterwächst, muss sie sich bald ein neues Haus anschaffen."
"Erinnerst du dich noch, mit wem ich zusammen war?"
"Jemand gab dir was zu rauchen, glaube ich."
"Wer war bei mir?"
"Hm, du kamst allein, glaube ich. Lass mich überlegen ... ja, und es wurde über Stachus' neues Buch geredet."
"Ein Buch?"
"Ein Buchprojekt. Himmel noch mal, von deinem Gedächtnis scheint ja wirklich nicht viel übriggeblieben zu sein, Gorden." Zambrini verzog besorgt das Gesicht. "Du bist schließlich sein Mitautor – und stilistischer Berater. Ihr habt gemeinsam dafür recherchiert. Du, Stachus und Katja. Ich glaube, Katja hat sogar den Löwenanteil bei den Recherchen geleistet. Na ja, ist ja auch nicht weiter verwunderlich – bei ihrer Parteiarbeit und den Kontakten, die sie hat, meine ich."
"Stilistischer Berater, aha. Und wie lautet sein Titel?"
"Hm, da stellst du mein Erinnerungsvermögen aber auf eine harte Probe." Zambrini schüttelte betrübt den Kopf. "Irgendwas über Propaganda. Warte mal ... ja, jetzt hab ich's wieder: 'Die Meinungsmacher, Manipulation und Desinformation in der westlichen Politik nach dem Zweiten Weltkrieg'. Klingt 'n bisschen aufgesetzt, oder? Vielleicht solltet ihr den Titel besser ändern. Was hältst du von: Das Syndikat der Meinungsmacher?"
"Und wer gab mir was zu rauchen, Zambrini?"
"Keine Ahnung. Wie soll ich mich daran noch erinnern können – bei dem Gedränge?" Er zuckte hilflos die Achseln. "Die Halbirren haben wieder mal Theater Inferno gespielt."
Gorden dachte nach. "Du meinst die Zeitungsverlegerin Orlowsky? Das Haus mit den Verrückten?"
"Die Orlowsky würde dich gern an Sohnes Statt annehmen, wenn sie könnte. Sie glaubt, an dir wäre ein begabter Journalist verlorengegangen, aber du gehst ihr immer wieder durch die Fittiche.
Dabei ist sie ziemlich wohlhabend, seit sie ein paar Zeitungen geerbt hat.
Wenn du nur mit diesem antiquierten Bürgerrechtlergetue aufhören würdest ... Das mag damals vor der Wiedervereinigung ja angebracht gewesen sein, aber hier wirkst du damit bloß noch wie jemand, der den alten Zeiten nachtrauert."
"Danke für die Warnung."
"Ich hab's mir abgewöhnt, noch ein Wort über drüben zu verlieren. Besser, sie merken gar nicht, aus welcher Hälfte Deutschlands man stammt."
"Glaubst du, ich könnte der Orlowsky in meinem Aufzug einen Besuch abstatten?" Er sah skeptisch an sich hinunter und klopfte sich den Staub von der Hose.
"Bei dir drückt sie sicher ein Auge zu, alter Junge. Ich fahr dich rüber, wenn du willst."