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"Sagen Sie mir, wer ich bin, Pamela."

"Das haben sich schon viele gefragt."

"Hat Doktor Klein denn nie ein Wort über mich verloren?"

"Ich glaube, er war immer des Lobes voll über Sie. Er sagte, Sie seien sein bester Freund."

"Sie schmeicheln mir."

"Klein ist sehr zuverlässig."

"Das macht sein Verschwinden nur um so verdächtiger."

Er lehnte sich im Drehstuhl zurück und musterte die offenen Schreibtischfächer. Sie waren in Kleins Büro gegangen, weil er hoffte, dort Hinweise über sich und seine Vergangenheit zu finden.

Aber was er auch in die Hand nahm: zwei ungarische Fachzeitschriften, ein billiges Stofftier mit langer Nase, das wie ein Losgewinn von der Kirmes aussah, Pappbecher, lilafarbene Papierservietten und Kunststoffgeschirr – kein einziger Gegenstand löste in ihm so etwas wie Wiedererkennen aus.

Aus irgendeinem Grund hatten diese Universitätsbüros das Ambiente gemütlich eingerichteter Rattennester. Vielleicht lag es am malerischen Durcheinander von Papierstapeln, offenstehenden Karteikästen und vorgespiegelter Arbeitswut.

Zwischen den Mappen entdeckte er aufgeschlagene Illustrierte und Urlaubsfotos, und vor Kleins Schreibmaschine stand eine halbvolle Kaffeekanne. Er streckte die Hände aus, seine Fingerspitzen zitterten wie die eines starken Trinkers.

Als er hinter Pamela durch den Flur gegangen war, hatte sein Gang solche Zugkraft nach rechts gehabt, dass er dauernd Gefahr lief, mit den Schultern den rauen Verputz zu streifen. Rechts oder links – er nahm an, das war gleichgültig. Es war wie ein Schwindelanfall: Man neigte immer dem Abgrund zu, in den man hinabzustürzen drohte.

Pamela zog ihm das Hemd aus und rasierte ihn mit Doktor Kleins Tandemklinge. Sein Gesicht wirkte unter der Masse des zu dick aufgetragenen Schaums wie Augen und Nase in einem verrutschten Nikolausbart.

Die Prozedur fand im Waschraum statt, und als die Tür aufflog und ein dicklicher, asthmatisch wirkender Dozent mit hochrotem Kopf nach seinem Hosenschlitz greifen wollte, um sich jenes Körperteils zu bemächtigen, der nach Gordens fester Überzeugung bis jetzt mehr Unglück als Lust über die Welt gebracht hatte, verspürte er zum erstenmal seit seiner Kindheit wieder jenes wohlig einlullende Gefühl, dass alle Verantwortung an eine höhere Macht – die seines Erziehungsbevollmächtigen – abgetreten worden war.

Man brauchte sich um nichts mehr zu kümmern. Selbst was gutes Benehmen war, wurde von übergeordneter Stelle geregelt. Und er entdeckte entzückt Pamelas Sinn für Scherze.

"Sie müssen sich im Waschraum geirrt haben", fertigte sie den dicklichen Dozenten ab. "Nächste Tür rechts."

Der andere ließ seinen Blick ungläubig über die Waschbecken und Gordens eingeschäumtes Gesicht gleiten.

Als er eine Entschuldigung stammelnd in der Damentoilette verschwunden war, prusteten sie beide los und verstreuten dabei große Flocken des Rasierschaums über Spiegel und Kacheln.

"Was werden Sie jetzt tun?“, fragte Pamela.

"Warten, bis mein Gedächtnis zurückgekehrt ist."

"Das kann lange dauern."

"Malen Sie nicht den Teufel an die Wand."

"Sie sollten es erst mal mit Ausschlafen versuchen."

"Ich habe vergessen, wo ich wohne", sagte er und horchte dem trostlosen Klang seiner eigenen Stimme nach. "Ich bin in einem Hotel am Stadtrand aufgewacht. Wahrscheinlich, nachdem ich hilflos durch die Straßen geirrt war. Als ich spürte, dass ich ein Bett brauchte, muss ich dieses Zimmer genommen haben."

"Und Ihre Papiere?" Sie zeigte auf die Pässe und Visitenkarten in der gläsernen Ablage, den Inhalt seiner Jackentaschen.

"Alles fingiert. Gefälschte Identitäten, nehme ich an."

"Klingt ziemlich abenteuerlich, oder?"

"Ich tappe genauso im dunkeln wie Sie. Wenn Sie sich mit mir einlassen, werden Sie keine ruhige Minute mehr haben, Pamela. Mein Leben ist wie einer Ihrer Romane. Ich ahne – ach was, ich bin sicher, dass ich eine ziemlich bemerkenswerte Vergangenheit habe."

"Wollen Sie damit bei mir Eindruck schinden?"

"Ich versuche alles, um Sie 'rumzukriegen", bestätigte er. "Ich lasse keinen Trick aus. Vielleicht sind meine Gedächtnisausfälle ja nur vorgetäuscht, weil Sie einen hilflosen Narren wie mich niemals in die schnöde, kalte Welt zurückjagen würden?"

"Es ist ziemlich warm für diese Jahreszeit."

"Ja, leider."

"Was halten Sie davon, zur Polizei zu gehen? Dort wird man schon herausfinden, wer Sie sind."

Er zuckte unsicher die Achseln. "Wer weiß – vielleicht werde ich ja steckbrieflich gesucht? Vielleicht wird man mich sofort in eine Zelle stecken, weil ich den alten Damen im Park ihre Handtaschen entrissen habe?"

"Ja, das wäre Ihnen zuzutrauen. Sie könnten bei mir schlafen", sagte Pamela zu seiner Überraschung. "Im Zimmer meiner Mutter. Sie ist voriges Jahr gestorben – wenn Ihnen Häkeldeckchen, Trauerflors um die Bilder meines Vaters und schwarze Eichenmöbel mit Holzwürmern nichts ausmachen?"

"Sehr freundlich, ich nehme Ihre Einladung an."

"Natürlich nur, bis Sie sich wieder an Ihre eigene Adresse erinnern."

"Bei so angenehmer Behandlung wird sich mein Gedächtnis noch etwas länger Zeit lassen."

"Vielleicht sollte ich Sie doch lieber ins Krankenhaus bringen, falls man Sie wirklich vergiftet hat?"

"Nein, ich misstraue diesen Geschäftemachern im weißen Kittel. Dann schon lieber ein indianischer Medizinmann, der ums Feuer tanzt und gelegentlich eine Handvoll Pulver in die Flammen wirft, um die bösen Geister zu vertreiben. Das ist ein ehrliches Unternehmen, ohne Vorspiegelung falscher Tatsachen."

"Medizinmänner sind in unseren Breiten schwer aufzutreiben."

Beim Frühstück traf er ein paar Mal mit der Gabel seine Oberlippe. Je länger er seine zitternden Hände betrachtete, desto weniger Vertrauen setzte er in seine Fähigkeit, allein mit der Vergiftung fertig zu werden. Er hatte den festen Willen zu überleben, aber seine Muskeln und Nerven wirkten noch unkontrollierbarer als am Vortag.

Irgendwo in der Stadt gab es eine kleine Kirche mit buntem Glasdach und angebauter Kapelle, die Tag und Nacht für unermüdliche Beter geöffnet war – vor deren Altar man sich notfalls hinknien konnte, falls man einer höheren Macht die Regie überlassen wollte. Fehlte nur noch ihr genauer Standort.

Ihre Turmspitze winkte ihm aus dem Dunst der Erinnerung zu wie der Mast eines Schiffes, das im nebligen Hafen dauernd seinen Ankerplatz wechselte. Er wusste, dass er immer stark und unbeugsam gewesen war, ein Mensch mit robuster Natur. Vielleicht war gerade deshalb sein Sturz aus solcher Höhe besonders schmerzhaft.

"Ist das eine Marotte von Ihnen, dieser Schuh mit dem Krokodillederbesatz?“, erkundigte sich Pamela, als er sie nach Dienstschluss zum Essen abholte. Sie schien guter Dinge zu sein, als freue sie sich aufrichtig, ihn wiederzusehen. Aber sein Blick war abwesend.

Er sah sich auf magische Weise von einem politischen Plakat angezogen, das, gar nicht einmal besonders werbewirksam oder aufdringlich, an einem Steinmast der Oberleitung hing.

"Was sagten Sie, bitte?"

"Ihr Schuh ..."

"O ja, richtig ... etwas exzentrisch, oder? Den anderen muss man mir weggenommen haben. Ich werde ihn so lange tragen, bis mir eingefallen ist, wer mir das Ding verpasst hat", fügte er hinzu. "Und vor allem: warum." Sein Blick kehrte wieder zum Plakat zurück. "Dieser Slogan da oben ...?"

"Ja, was ist damit?"

"Das wollte ich Sie fragen. Er erinnert mich an irgend etwas."

"Nur weiter so. Sie sollten allem nachgehen, was Sie wieder gesund werden läßt, Gorden."

Helfen Sie uns, dass unsere Brüder in der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik keine Bürger zweiter Klasse werden! las er. Gegen den unkontrollierten Zuzug von Ausländern. Gegen die Öffnung nach Osten. "Dieses Gesicht – der Mann ist doch ein Rechtsradikaler, oder?"

"Rechtsradikale Parteien schießen jetzt überall wie Pilze aus dem Boden."

Er versuchte sich an den Politiker zu erinnern. Seine Brauen waren dunkel und kräftig, die Züge so glatt und makellos wie auf den idealisiert gemalten Porträts russischer Revolutionspolitiker. Sein Gesicht wirkte weder besonders vertrauenswürdig noch wie das eines Gauners. Eher schon ein wenig weltentrückt, als hätte er sich für einen Augenblick großmütig aus seinem Platz im Olymp dazu herabgelassen, den Wählern gute Ratschläge zu erteilen.

"Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, wer solche Prozesse steuert?“, fragte Gorden. "In einer Zeit, in der man in Europa sein Herz für den Osten entdeckt?"

"Nein, was wollen Sie denn damit andeuten?"

"Manchmal fällt es einem schwer, an Zufälle zu glauben. Das Ganze hat zu sehr den Charakter einer absichtlichen Gegensteuerung."

"Was meinen Sie mit 'absichtlicher Gegensteuerung'?"

"Na, wenn eines guten Tages die polnische Westgrenze genauso durchlässig werden sollte wie die Grenzen innerhalb der europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, ich meine: nicht bloß visumfrei, sondern wirklich freizügig, dann führt das zu einer engeren Anbindung an die Menschen drüben. Zu persönlichen Kontakten, zu Freundschaften. Man lernt einander besser verstehen."

"Wer sollte dagegen etwas haben?“, fragte sie.

"Den Falken im Westen kann das gar nicht gefallen. Den Waffenschiebern, den Rüstungsfabrikanten, den Geheimdiensten, die ihre Feindbilder verloren haben."

"Ist das Ihre Aufgabe – solchen Ideen nachzugehen?"

"Ich weiß nicht", sagte er nachdenklich. "Ich glaube, Stachus und ich haben uns tatsächlich mit diesen Fragen beschäftigt."

"Verdächtigungen, Verschwörungstheorien ...", sagte Pamela und warf ihm einen belustigten Blick zu.

"Ja, mag sein."

"Das Hobby von Männern, die Kinder geblieben sind! Entdecken überall böse Hintermänner in der Politik. Arbeitete Doktor Klein nicht sogar an einem Buch über dieses Thema?"

"Hm, ja, kommt mir bekannt vor", bestätigte er. "Aber ich erinnere mich nicht, welchen Titel es hat."

Er schwankte leicht, als sie die Fahrbahn überquerten und zwischen hohen Blumenkübeln den Eingang des italienischen Lokals betraten. Die Kälte einer Klimaanlage drang surrend aus dem Gitterrost über der Garderobe. Wieder wurde seine Schulter magisch von der Wand angezogen, sein linkes Bein trat zu kurz, und sein Arm streifte schmerzhaft den rauen Verputz, als er hochfuhr, um sich abzufangen.

"Großer Gott, ich stütze Sie besser ...", sagte Pamela und versuchte ihn zu halten.

Aus den Muskeln auf seiner linken Seite schienen große Stücke entfernt worden sein. Er musste sich erst mühsam wieder in jede einzelne Muskelfaser hineintasten, sie dehnen und strecken.

"Das Fabelhafte daran ist, dass man keine Schmerzen hat", murmelte er. "Daran merkt man, dass es anfängt."

Sie setzten sich an einen Tisch in der Ecke, über dem eine anheimelnde grüne Lampe hing. Unter den hölzernen Nischenbögen und der Dekoration aus alten Kupfervasen, getrockneten Seesternen und Fischernetzen wurde er sich noch deutlicher der Tatsache bewusst, dass er sich draußen auf eine merkwürdig ungreifbare Weise bedroht gefühlt hatte.

"Was haben Sie da eben zitiert?“, fragte Pamela.

"Zitiert?" Er schüttelte überrascht den Kopf. "Ich habe nichts zitiert."

"Der Satz steht in Hemingways 'Schnee auf dem Kilimandscharo'."

"So? Na, dann scheine ich ja literarisch einigermaßen beschlagen zu sein. Auf die Weise setzt sich das Puzzle meiner Erinnerungen zusammen, ich mache Fortschritte, Pamela! Eigentlich dachte ich nur darüber nach, dass meine Gleichgewichtsstörungen keine Schmerzen verursachen."

"An Ihrer Stelle würde ich lieber einen Arzt aufsuchen."

"Wenn Sie wollen, dass meine Liebe zu Ihnen so alt wird wie mein Großvater, sollten Sie mir niemals Vorschriften machen. Haben Sie eigentlich englische Vorfahren – wegen Ihres Vornamens?"

"Meine Mutter war Britin."

"Sie folgte Ihrem Vater also auf das Festland? Das muss die große Liebe gewesen sein, oder? Ich bin ein unheilbarer Romantiker", fügte er entschuldigend hinzu. "Im Restaurant essen ohne Kerzen auf dem Tisch – Neonlicht, künstliche Blumen, Vernunftehen, das alles ist mir ein Gräuel."

"Lassen wir die Toten lieber ruhen, Gorden. Was sagten Sie da eben über das Alter Ihres Großvaters? Es hörte sich nett an.

Übrigens erinnere ich mich jetzt an den Namen eines Journalisten – relativ unbekannt, keiner von den wirklichen Stars, glaube ich –, der genauso heißt wie Sie. Ich bin noch gar nicht darauf gekommen, dass er und Kleins Freund ein und dieselbe Person sein könnten", meinte sie überrascht.

"Erinnern Sie sich auch an seinen Vornamen?"

"Nein, tut mir leid." Sie dachte nach. "J ... ja, J. Gorden ... das wäre möglich. Wenn wir zu Hause sind, werde ich Ihnen einige seiner Artikel heraussuchen. Soviel ich weiß, war er drüben Bürgerrechtler, vor der Wiedervereinigung. Warten Sie mal, dann gibt es da noch einen Gorden, J. C. Gorden, glaube ich, der ..."

"Einer von diesen verdammten Wortverdrehern", meinte er, eher nachdenklich als überrascht. "Sieht mir wieder ähnlich. Sich den blasiertesten und dünkelhaftesten Beruf von allen auszusuchen. Das passt zu mir, oder?"

"Sie sind nicht so schlimm, wie Sie vorgeben."

"Es würde auch erklären, wieso ich in diesen Kreisen verkehre, bei Stachus und an der Universität."

Die andere Schwester

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