Читать книгу Die andere Schwester - Peter Schmidt - Страница 9
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ОглавлениеEr wurde in den Salon gebeten. Ein schwarzer Hausdiener wie aus einem Film über die Kolonialzeit – dunkel gekleidet, mit einer Warze auf der Nase und zwei ungleich langen Beinen – nahm ihn in Empfang und klopfte vielsagend und mit heftiger werdenden Handschlägen sein schmuddeliges Jackett ab.
Er nieste unwillig wegen der Staubwolken, während er ihn hineingeleitete und die hohe Tür hinter ihm zuschob.
Gorden glaubte sich plötzlich zu erinnern, dass es ein verflossener Liebhaber der Orlowsky war.
Ein Schauspieler aus dem Odeon-Theater, der sich – um weiter in ihrer Nähe bleiben zu können – wegen ihrer Liebesaffären hatte zum Hausbüttel degradieren lassen.
Statt in einem der breiten Plüschsessel Platz zu nehmen, durchquerte er, immer noch auf den Spuren seiner verlorenen Erinnerungen, den Salon – vorüber an großformatigen Porträts aus der Gründerzeit des Zeitungsimperiums – und öffnete eine kleine, mattgrün lackierte Tür.
Er vermutete, dass dahinter die Küche lag. Die hellen, alten Kacheln und rohen Holztische mit dem Herd aus Großmutters Zeiten waren ihm besonders ans Herz gewachsen.
Es erleichterte ihn, genau das zu finden, was er erwartet hatte. Er strich liebevoll über die Wandungen der aufgehängten Kupfertöpfe. Die Patina der Holzlöffel, ein Aroma aus tausendundeiner Speise, brachte ihn darauf, dass er seit vielen Stunden nichts mehr gegessen hatte. Zum letzten Mal wahrscheinlich hier ...
Die kalten Büfetts der Orlowsky waren berühmt für ihre kulinarischen Finessen – und bei diesem Gedanken entsann er sich auch wieder des Grundes, aus dem Zambrini herkam. Er gehörte jener bedauernswerten Spezies mittelloser Gourmets an, die sich von Party zu Party durchfutterten.
Falls man nur lange genug dabei war und sorgfältig seine Kontakte pflegte, um die Datenbank auf dem neuesten Stand zu halten, gab es immer irgendwo etwas Gutes zu ergattern.
Und wenn das Gesicht erst einmal genügend bekannt war, passierte man die Türkontrollen auch ohne offizielle Einladung.
Gordens Nase folgte dem Geruch der Kochtöpfe auf dem Herd wie eine Hundeschnauze, die vergangenen Zeiten nachtrauerte. Sein Magen machte sich durch nachdrückliches Knurren bemerkbar.
Er hob einen schwarzen gusseisernen Deckel ab – der Griff war noch warm – und entdeckte zu seinem Entzücken, dass es Chili con carne nach Art des Hauses gab: rote Bohnen, Mais und gewürfelte Rindfleischstücke in scharfer Würzsoße.
Er nahm einen Teller aus dem bemalten Bauernschrank, gönnte sich eine reichlich bemessene Kelle und setzte sich damit ans Fenster. Durch seine Butzenscheiben konnte man die Bäume im Innenhof sehen.
Die Tür ging auf, und er probierte noch schnell einen großen Löffel, genoss den Geschmack des zarten, faserigen Fleisches, seine feurige Würze ... es war, als sei er jetzt wieder völlig klar, als werde er mit jedem Bissen gesünder.
"Mark ..."
"Hallo, alles verschlingende Ziehmutter", murmelte er und legte den Löffel beiseite.
Die Frau im Durchgang zum Salon zwirbelte mit beiden Händen ihre Haarspitzen in die Wangen. Sie hatte einen Bubikopf im Stil der zwanziger Jahre und eingefallene, dafür aber um so greller geschminkte Züge. Eine magere, leicht vorgebeugte Gestalt, an deren Gesicht er sich kaum noch erinnerte. Wie die meisten Frauen ihrer Körpergröße wirkte sie jünger, als sie war. Sie musste doppelt so alt sein wie er.
"Hab mir schon große Sorgen um dich gemacht, Jul."
"Ich um mich selbst nicht weniger."
"Du warst plötzlich verschwunden. Das Fest ist in vollem Gange, und mein Mark verabschiedet sich so mir nichts dir nichts, als sei ich Luft", lamentierte sie händeringend. "Sagt nicht mal auf Wiedersehen."
"Bin abgestürzt, Tantchen. Zuviel Alkohol, zuviel geraucht."
"Du musst eine Menge geraucht haben", bestätigte sie. "Dein Blick war ganz starr, als ich dich zum letzten Mal sah. Das war ... ja, warte ... das muss zusammen mit Zambrini und Lopez gewesen sein. Eine Frau war an deiner Seite, Marlis, Margret oder so ähnlich. Ihr saßt hinter dem Flügel an der Bildergalerie und stecktet die Köpfe zusammen."
"Zambrini, aha. Und eine Frau namens Marlis, sagst du?" Er erinnerte sich an niemanden dieses Namens. "Ich hatte einen Gedächtnisausfall, Tantchen. Jemand muss mir was gegeben haben. Momentan versuche ich herauszufinden, wer ich bin und wieso ich zwei verschiedene Schuhe trage."
"Oh, die Schuhe", sagte sie überrascht. "Du wirst beim Weggehen den Falschen erwischt haben. Wenn's gemütlich wird, lümmeln sich die jungen Leute gern ohne Schuhe im Salon."
"Ich glaube, das kommt mir bekannt vor."
"Ist es denn so schlimm?" Sie legte begütigend ihren mageren Arm um seine Schulter. Er roch ihr herbes Altfrauenparfüm, eine Mischung aus Haarspülmittel und Kernseife, gar nicht der Geruch, den man bei ihrem stark geschminkten Gesicht erwartet hätte. Der knochige, warme Arm, der langsam in seinen Nacken hinaufglitt, gab ihm ein unerwartetes Gefühl von Geborgenheit.
Wie so manche Kämpfernatur liebte er es, wenn vielleicht auch nur uneingestanden, bemuttert zu werden. Stachus, der große Psychologe, hätte sofort diagnostiziert, sein martialisches Gebaren sei bloß Fassade mit einem Kern so weich wie Ziegenkäse. Journalismus sei eine Art Vorwärtsverteidigung für ihn.
Und vielleicht lag er damit gar nicht so falsch.
Sie gab dem schemenhaften, unklaren Dasein Konturen, beseitigte die schmerzliche Ungewissheit. Was war schon klar, was nach genauerem Hinsehen wirklich gewiss?
Man musste sich entscheiden, man musste sprechen, urteilen, annehmen und verwerfen. Die Pose des Analytikers erlaubte es einem, auf unauffällige Weise von den eigenen Schwächen abzulenken.
Gorden, hätte Stachus behauptet, sei weniger an Politik interessiert als daran, ihr den Garaus zu machen.
Er erinnerte sich nur an Kleins ironische Kommentare, aber nicht an seine Arbeit. Er war eine Tabula rasa, von den kläglichen Überresten seines Gedächtnisses einmal abgesehen, und einen Augenblick lang fand er diesen Zustand gar nicht unangenehm.
Man konnte ganz von vorn anfangen, eine Seele ohne äußere Eindrücke. Aber dann siegte seine angeborene Neugier ...
"Du könntest mir helfen, Tantchen."
"Gern, Mark."
"Ich muss meine Vergangenheit zusammensetzen, wie ein Mosaik. Ich muss langsam vorgehen, Stück für Stück. Vielleicht sollte ich bei diesem Abend anfangen."
"Es kommen noch viele solche Abende. Freitag werden wir einer hübschen jungen Malerin auf die Beine helfen. Sie ist erst vor ein paar Tagen zugezogen. Wir veranstalten einen großen Vorstellungsabend, ihre Bilder werden in den Salons aufgehängt, und alle sind eingeladen, alle." Der Gedanke, so viele bekannte Gesichter um sich zu scharen, bereitete ihr sichtlich Vergnügen. "Sie wird dir gefallen, Mark."
"Bin ich denn ein Frauenheld, Tantchen?"
"Na, sagen wir mal, es fällt dir schwer wegzusehen. Nicht mal die Freundinnen deiner Schwester Katja sind vor dir sicher. Sogar für ihre Brieffreundin Martha in London hast du dich schon mal interessiert. Und nenn mich nicht immer Tantchen – ich komme mir ja wie eine alte Frau dabei vor."
"Und wo steckt ... Katja?"
Ihre Miene verdüsterte sich. "Katja ist verschwunden. Solltest du das etwa auch vergessen haben?"
"Aber dann weißt du sicher, wo Stachus ist?"
"Stachus? Keine Ahnung. Ist er denn nicht mit dir nach Hause gegangen?"
Gorden war kaum dazu aufgelegt, ihr zu gestehen, dass er in einem Hotel erwacht war und dass ein Spediteur sein Zuhause für einen unbekannten Auftraggeber auf den Müll geworfen oder irgendwohin ausgelagert hatte. Es hätte seine Fähigkeit zur Selbstbeherrschung überfordert.
Ein älterer Mann mit Bauch und kurzen Beinen nahm am Fenster des Durchgangs Platz. Seine Hände waren voller Ölfarben, und er reinigte sie schnaufend mit einem terpentingetränkten Lappen, den er aus dem Atelierraum neben der Küche mitgebracht hatte. Sein Atem rasselte, vielleicht litt er an Asthma. Er starrte offenkundig interessiert in seine Richtung – als würden sie sich kennen. Aber Gorden erinnerte sich nicht an sein Gesicht.
"Das ist Alois", sagte sie. "Er malt wie van Gogh – wie seine Reinkarnation. Alois und ich werden bald heiraten, nicht wahr, Alois?"
Der Mann am Fenster lächelte und machte eine skeptische Handbewegung. Er hatte eine Warze auf der Nase wie der Hausdiener. Bei den ungleich langen Beinen ließ sich die Ähnlichkeit im Sitzen schwerer feststellen, aber wegen der seltsamen Existenzen, die hier ein und aus gingen, hätte es ihn kaum gewundert zu hören, Alois sei sein hellhäutiger Bruder.
"Werden wieder dieselben Gäste kommen wie beim letzten Mal, Tantchen?"
"Und noch einige mehr", bestätigte sie. "Die Einladungsliste ist so lang wie der Perserläufer im Foyer."
"Keine schlechte Gelegenheit, der Sache auf den Grund zu gehen. Die Liste könnte der Schlüssel sein. Jemand muss mich vergiftet haben."
"Vergiftet? Was soll das nun wieder heißen? Doch wohl keiner von meinen Gästen, Mark?" Sie bedachte ihn mit einem langen, ungläubigen Blick. Ihre blaugrün schillernden Lidschatten ließen sie aussehen wie die Regenwaldgöttin eines Indianerstamms im tiefsten Amazonasgebiet.
"Ich werde mir ihre Namen ansehen und Freitag Abend jeden unter die Lupe nehmen. Was hältst du davon?"
"Du wirst uns doch keinen Ärger machen wollen?"
"Jemand will mir Ärger machen, Tantchen."
"Und warum?"
"Zambrini sagte mir, Stachus schriebe an einem Buch mit dem Titel 'Die Meinungsmacher'?"
"Mag sein, dass darüber gesprochen wurde. Etwa wieder eines dieser schrecklichen Enthüllungsbücher, die Stachus verfasst? Und du hast deine Finger mit drin", sagte sie vorwurfsvoll, " – natürlich, wer sonst? Dich mit so zweitrangigen Texten abzugeben! Wie oft habe ich dir schon geraten, dir lieber ein Beispiel an den amerikanischen Pulitzer-Preisträgern zu nehmen, als dich mit Sachbuchliteratur zu befassen."
"Wie ich gehört habe, geht's dabei unseren Politikern an den Kragen", bemerkte Alois vom Fenster her.
"Ich weiß, ich bin zu Höherem geboren", nickte Gorden. "Wenn ich richtig verstehe, war es meine Aufgabe, das Buch stilistisch zu überarbeiten?"
"Bewahre", seufzte sie. "Du bist einer der Mitautoren. Ich glaube, jetzt erinnere ich mich wieder. Es ist diese Geschichte über die angeblich gewissenlose Informationspolitik der Regierenden. Klein hat sogar einen Sonderdruck in Auftrag gegeben, um ihn an der Universität zu verteilen."
"Erwähnte er, wer ihn drucken sollte?"
"Ich habe Stachus die Adresse eines ehemaligen Mitarbeiters gegeben. Er hat sich kürzlich als Drucker selbständig gemacht. Ich lehne es ab, meine Betriebe für eure Zwecke einspannen zu lassen."
"Das ist dein gutes Recht, Tantchen, keiner kann über seinen Schatten springen."
"Du und Stachus, ihr werdet noch viel böses Blut damit aufrühren. Man flüstert schon hinter vorgehaltener Hand, dass ihr etwas paranoid geworden seid bei euren Recherchen."
"Hat's sich denn schon so weit herumgesprochen?"
"Stachus glaubt wohl, dass er sich damit die Anwartschaft auf eine Professur verdienen könnte."
"Na, das ist doch ein ehrenwertes Anliegen, oder?"
"Über den Wassern, über den Wassern", murmelte er. "Ich schwebe über den Wassern wie der Geist Gottes." Ich habe das alles geschaffen, aber ich weiß nicht mehr, wann und warum. Ein Gott, der seinen Verstand verloren hat. Das Mosaik ist ein Scherbenhaufen.
Er fuhr am Hafen entlang und sah über die hohe, von Algen bedeckte Kaimauer auf die Lastkähne hinab.
Das Wasser war ein schwarzer Ölfilm, und auch der Morgennebel aus Schleiern gelben und weißen Dunstes, in den die Sonne flirrende Lichtpfeile warf, passte zur Erschaffung der Welt.
Ich erfinde meine Welt neu, dachte er. Vielleicht bin ich ja völlig frei. Vielleicht entwickelt sie sich erst mit jedem Schritt, mit jedem Wimpernschlag zu dem, was sie dann ist, wie die alten Philosophen geglaubt haben?
Vielleicht bewegte er sich gar nicht auf den Spuren seines Gedächtnisses? Das Kopfsteinpflaster fiel zur Rampe hin steil ab und rüttelte ihn nachdrücklich in die Wirklichkeit zurück. Container mit Fischabfällen engten die Durchfahrt ein, und er manövrierte das chromblitzende Ungetüm der Orlowsky vorsichtig zwischen ihren zerschrammten Metallwänden hindurch. Hinter den blaugestrichenen Lagerhallen mit dem rosafarbenen Emblem der Fischereigenossenschaft weitete sich der Blick unversehens auf den Jachthafen: das Bild einer friedlichen Segleridylle ...
Er suchte irritiert nach der Adresse, die man ihm genannt hatte.
Der Beschreibung zufolge hätte das Gebäude an der Ausfallstraße zwischen Schildermalern und einer Autolackiererei liegen sollen. Dann entdeckte er, dass er in die falsche Richtung blickte, denn die Küste beschrieb hier einen weiten Bogen, und das Pendant, das er suchte, eine Ansiedlung kleiner Industriebetriebe, befand sich genau auf der entgegengesetzten Seite der Halbinsel.
Kamine qualmten, Fischreiher vom nahen See schwebten in trägem Flug über den Innenhöfen der Konservenfabrik und auf den Dächern der ebenerdigen Gebäude verkündeten mit überlebensgroßen Köpfen und Figuren bemalte Blechschilder, welche Betriebe sich hier niedergelassen hatten.
Er holperte zwischen bellenden Hunden über einen Sandweg, der seiner Stoßstange zweimal einen glockenähnlichen Schlag versetzte, dann bog er mit unwillig hustendem Motor auf den Hof der Druckerei ein. Als er anhielt, entdeckte er an der Tür das Schild Vorübergehend geschlossen.
Gorden stieg aus und trat an die Scheibe, um in den Innenraum zu sehen. Hinter der Verkaufstheke stand ein moderner Laserdrucker. Es war eine jener kleinen Druckereien, die damit werben, dass man auf seine Visitenkarten oder Geschäftsformulare warten kann.
Der Auffangkorb am Ende der Anlage lief über. Er fasste vielleicht fünftausend Blatt im DIN-A5-Format, Handzettel auf rosa Papier, deren Text aus dieser Entfernung nicht zu entziffern war, und die Maschine hatte ungefähr ebenso viele Blätter auf den Boden neben der Theke verstreut.
Gorden klopfte mit der Faust gegen die Eingangsscheibe. Eine instinktive Unruhe hatte ihn erfasst.
Er lief unschlüssig vor der Fensterreihe hin und her. Als er seinen hastigen Gang für einen Moment unterbrach, weil ein paar Entwurfsskizzen auf dem Arbeitstisch seine Aufmerksamkeit fesselten, stoppte hinter ihm ein Taxi.
Eine verhärmte Frau mit zwei Kindern und prallen Einkaufstüten entstieg dem Wagen. Ihr dunkelbrauner Baumwollmantel war abgewetzt, man sah ihr an, dass sie nicht auf der Seite der Gewinner stand, und er hätte wetten mögen, dass der Inhalt der Plastiktüten keinem Vergleich mit den kalten Büfetts der Orlowsky standhielt.
Schlangengurke, Blutwurst, eine Tüte Brötchen im billigen Zehnerpack, das waren die lukullischen Finessen ihres Abendbrots. Ihre Kinder strahlten beschämende Armut aus, vielleicht, weil die Familie ihr ganzes Geld in den neuen Laserdrucker gesteckt hatte.
"Sie warten auf meinen Mann?" Ihre Stimme klang selbstbewusst und viel angenehmer, als er sich bei ihrem Anblick vorgestellt hätte.
"Es scheint niemand dazusein?“, sagte er und sah wieder durch die Scheibe.
"Hm, merkwürdig." Sie stellte ihre Einkaufstüten neben der Tür ab. "Thomas verlässt das Geschäft sonst nie während der Öffnungszeiten."
"Wenn Sie uns aufschließen, werden wir schon herausfinden, wo er steckt."
"Oh, ja ... natürlich", sagte sie und verhedderte sich gleich darauf mit den Schlüsseln. "Hier, bitte versuchen Sie's für mich?"
Sie hatte einen leichten Silberblick und stotterte ein wenig, wenn sie nervös war, aber das machte sie in Gordens Augen nur noch reizvoller.
Er schloss auf, taxierte fachkundig den Laserdrucker, als habe er nie etwas anderes getan, als rosafarbene DIN-A5-Blätter mit Reklametexten für karitative Kleidersammlungen zu bedrucken, dann legte er den roten Hauptschalter um, und das Geflatter der Blätter über dem Fußboden verebbte.
"Danke, sehr freundlich. Mein Mann muss vergessen haben, den Drucker abzuschalten." Sie machte ein paar zerstreute Schritte durch den Raum und sah besorgt in die Halle hinter dem Ladenlokal.
"Keine Ursache. Es dürfte Ihnen leichtfallen, sich für meine Dienste zu revanchieren", sagte er und lächelte gewinnend.
Die Gewissheit, über die Beredsamkeit des geborenen Charmeurs zu verfügen, eine Fähigkeit, die nicht im flüchtigen Gedächtnis, sondern, viel tiefer und unangreifbarer, in den Genen verankert war, gab ihm Kraft, ja beflügelte seine Worte.
"Ach?" Sie schien den Gedanken an ihren Mann für einen Augenblick vergessen zu haben und stemmte belustigt ihre Arme in die Hüften. "Was kann ich denn für Sie tun?"
"Sie brauchen nur in den Auftragsbüchern nachzusehen, ob dort ein gewisser Doktor Stachus Klein zu finden ist. Wegen des Sonderdrucks einer wissenschaftlichen Arbeit."
"Ihr Name ist Klein?"
"Nein, ich bin nur sein Kompagnon."
Die beiden Kinder musterten ihn nach dieser Antwort so aufmerksam, als sei er ein Betrüger.
Der Junge beugte sich neugierig über die Theke, und das Mädchen verschränkte seine Arme auf der Brust und fixierte ihn mit lehrerhafter Strenge. Ihre skeptischen Sherlock-Holmes-Blicke beraubten Gorden augenblicklich jener Sicherheit, in der er sich eben noch dank der kleinen Komplikation mit der Druckmaschine gewähnt hatte.
Schließlich besaß er keine Quittungen oder Belege, man konnte ihm ohne weiteres die Auskunft verweigern.
"Um was für eine Arbeit handelt es sich dabei?“, erkundigte sie sich, während sie das Auftragsbuch, eine pfundschwere rote Kladde, auf die Theke hievte.
"Ich nehme an, dass mein Freund Klein sie unter dem Titel 'Die Meinungsmacher' publizieren will. Ein gekürzter Sonderdruck, soviel ich weiß."
"Merkwürdige Bezeichnung für eine wissenschaftliche Arbeit ..." Ihr Zeigefinger fuhr die Einträge entlang. "Nein, einen Doktor Klein haben wir hier nicht."
"Der Untertitel lautet: Manipulation und Desinformation in der westlichen Politik nach dem Zweiten Weltkrieg", murmelte er so undeutlich, als sei es ihm peinlich, derart verfänglich klingende Worte auszusprechen.
Ihr Finger fuhr zum zweitenmal die Liste entlang.
Er beugte sich ein wenig vor, um ihre Nähe zu spüren. Ihr Körper strahlte etwas aus, das eine längst vergessene Erinnerung in ihm wachrief. Vielleicht der Geruch ihres Haars? Weil es nach ... Kastanien duftete? Ein Extrakt zum Spülen, nahm er an. Sie war kaum älter als Pamela und genauso anziehend.
Warum bin ich plötzlich nur so scharf auf jeden Rock? dachte er. Hing das mit seiner Vergiftung zusammen? Oder war es schon immer so gewesen?
"Nein, bedauere." Sie schüttelte den Kopf und wollte das Buch zuschlagen – aber er war schneller und legte seine Hand darauf, dabei berührte er leicht ihre Fingerspitzen. Sie zuckte ein wenig zurück und errötete unmerklich, als sich ihre Blicke trafen.
"Hm ... sind da nicht ein paar Seiten aus der Kladde herausgerissen?"
Ihr Blick folgte verblüfft seinem Zeigefinger. "Ja, Sie haben recht. Der Auftragseingang für diesen Tag ist auch viel zu gering."
"Merkwürdiger Zufall. Erst die Druckmaschine, dann ist Ihr Mann verschwunden und jetzt die fehlenden Seiten."
"So, finden Sie? Warum glauben Sie denn, dass er verschwunden ist?"
"Ich verwette eine Einladung zum Abendessen darauf. Für Sie beide und die Kinder", fügte er schnell hinzu, als er ihren überraschten Blick bemerkte. "Im Jachthafen gibt's ein nettes italienisches Lokal mit ausgezeichneten Rotweinen."
"Na, Sie machen mir Spaß. Wo soll Thomas denn stecken?" Wieder wanderte ihr Blick unsicher zur Hintertür. "Es wäre wohl kaum der richtige Anlass zum Feiern, oder?"
"Das da hinten sind Ihre Arbeitsräume?“, fragte er und zeigte durch die Scheiben.
"Nur Garagen und der Lagerraum."
"Darf ich ...?" Er machte ein paar Schritte zur Halle, und sie folgte ihm zögernd, nachdem sie den Kindern bedeutet hatte, im Laden zu bleiben.
Außer Papierstapeln, die von Blechbändern zusammengehalten wurden, und Kanistern mit Druckfarbe und Lösungsmitteln gab es wenig zu entdecken.
In den Drahtschlaufen an der Decke hingen Entwurfsschablonen aus Weißblech und Karton. Weiter hinten sah man durch das Zwischenfenster in ein winziges Atelier. Es war leer, aber die Deckenleuchte brannte.
Das Verdünnergemisch verschlug ihm den Atem. Er versuchte die Luft anzuhalten, doch damit schien er eher das Gegenteil zu bewirken. Es war, als würden seine Schläfen von einem Schraubstock zusammengepresst.
Also gab er nach und sog widerwillig das Gemisch aus Terpentin und Nitroverdünnung ein. Seine Schritte wurden schwankend – dann streifte er auch schon mit der Schulter einen Betonpfeiler.
"Mein Gott, was für ein fürchterlicher Gestank", hörte er ihre Stimme hinter sich. "Jemand muss den Kanister mit Verdünnung umgestoßen haben."
Er ging unsicher bis zur Mitte der Halle, seine Beine waren bleischwer. Die Wände machten einen Sprung und verschoben unvermittelt ihre Winkel, als beständen sie nicht mehr aus Stein, sondern aus elastischem Material ...
Gorden ließ argwöhnisch seinen Blick durch den Raum wandern. Es krachte und knirschte über ihm – und die Betondecke schien sich auf ihn herabzusenken. Eine feine Staubspur rieselte ihm aus dem langsam größer werdenden Spalt ins Gesicht, als er zu den Lampen hinaufblickte. Schwindel hatte ihn erfasst. Er schloss die Augen und griff sich mit einer würgenden Geste an den Hals, fiel aber sofort aus großer Höhe in die Tiefe ...
Halluzinationen ... fuhr es ihm durch den Kopf. Mein Nervensystem ist außer Rand und Band. Alle Arten von Giften schienen seinen Verstand zu verwirren. Alkohol, der Geruch von Nitroverdünnung, sogar Koffein.
Er kehrte auf wackeligen Beinen zum Eingang zurück und sog die frische Morgenluft ein.
"Ist Ihnen nicht gut?"
"Danke, es geht schon wieder. Nur ein kleiner Schwächeanfall ..."
Gorden streckte tastend die Hand nach dem Torgriff aus. Er fühlte sich sicherer, als seine Finger das kühle Metall umschlossen. Dann warf er einen vorsichtigen Blick zur Decke. Sie blieb an ihrem Platz, wie es sich für ein gehorsames Stück Realität aus Stahl und Beton gehörte.
Der klaffende Riss war verschwunden. Er strich sich prüfend übers Gesicht und betrachtete seinen Handrücken. Keine Spur von Staub. Gorden, der Kämpfer, dachte er und biss entschlossen die Zähne zusammen. Dich bringen sie damit nicht ins Grab.
Da müssen sie schon stärkere Geschütze auffahren.
Er hörte, wie seine Stimme mit fremd klingendem Tonfall sagte: "Ist das da hinten der Lieferwagen Ihres Mannes?"
"Ja, merkwürdig. Ich glaube, er steht schief ... was ist bloß mit den Hinterrädern los?"
Gorden stützte sich an der Betonwand ab, während er in die Garage hinüberging. Sie musste einmal zu einer Autowerkstatt gehört haben, so aufwendige Hebebühnen gab es nur in Werkstätten. An der gegenüberliegenden Wand hing das verblichene Plakat für ein zweisitziges rotes Kabriolett mit zurückgeklapptem Verdeck, fast schon ein Oldtimer, den bulligen runden Formen und chromglänzenden Stoßstangen nach zu urteilen.
Das Mädchen am Steuer winkte dem Betrachter fröhlich zu, es hatte einen Schmollmund und hellblonde, im Fahrtwind wehende Haare. Gordens Blick wanderte langsam nach unten ... der Lieferwagen unter dem Plakat war von den Schienen gerutscht und in die Grube gestürzt ...
Er sah über den Rand auf den ölverschmierten Boden hinunter. Neben der Schachtwand stand ein aufgeklappter Werkzeugkasten, und unter der rechten Hinterachse ragte ein Arm mit Schraubenschlüssel hervor.
"Nein, er ist tatsächlich nicht verschwunden", murmelte er kaum hörbar.
Dann wanderte sein Blick zur Armaturentafel, mit der die Hebebühne gesteuert wurde. Ein Druck auf den Knopf für die Einstellung der Spurweite hatte genügt, um die Halteschienen beiseite zu fahren und den Wagen auf den Mechaniker in der Grube stürzen zu lassen.
"Ist das da unten Ihr Mann?“, erkundigte er sich. Es war eine überflüssige Frage. Im selben Augenblick, als er die reglos eingeklemmte Gestalt in der Grube gesehen hatte, wusste er, dass es nur ihr Mann sein konnte.
Und er war ebenso sicher, dass die polizeilichen Untersuchungen ergeben würden, es sei ein ganz gewöhnlicher Unfall gewesen.