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ZWEITES KAPITEL

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Die Stimme des Dirigenten

Ich ging durch die Einkaufspassage, fuhr in dem von Spiegelglas und Kupfer strotzenden Schacht mit der Rolltreppe zur zweiten Ebene hinauf und betrat eine Kaufhaustoilette. Jemand hatte in fünfzig Zentimeter großen schwarzen Lettern seine Telefonnummer auf die Wand geschmiert, als könne er damit allen anderen Angeboten an Türen und Fliesen den Rang ablaufen.

Vor dem kleinen Spiegel hinter der Waschraumtür zog ich die beiden Silikoneinlagen heraus, die meinem Gesicht das Aussehen eines dicklichen älteren Mannes verliehen, löste die dichten rötlichen Brauen ab und legte meine beiden getönten Haftschalen in das dazugehörige Plastikkästchen zurück. Dann wischte ich mir mit einem Papierhandtuch den rötlichen Schimmer von den Wangen; aus einem halben Meter Entfernung hatte er wie das Adernetz eines Menschen mit Bluthochdruck gewirkt.

Irgendwann würden sie Traphan Fotos zur Identifizierung vorlegen, vielleicht erst in einem sehr späten Stadium aber es würde geschehen. Ich hielt es für unwahrscheinlich, dass sie dabei an das Kölner Amt dachten. Wenn überhaupt jemand auf diese abwegige Idee verfiel, dann würde es Rieder sein, die allmächtige zweite Hand des Münchener Dienstes

Seine Phantasie war schon immer etwas «absonderlicher» Art gewesen …

Stankowitz hatte mich aus Bulgarien zurückbeordert, weil ich für München ein unbekanntes Gesicht war, er ahnte nichts von dieser Verkleidung und es war von größter Wichtigkeit, dass er es nie erfahren würde. Ich kämmte mein Haar in gewohnter Weise aus der Stirn nach hinten, zog die dünne Überjacke aus, verstaute sie in der Plastiktüte, die sich in meiner Innentasche befand, und musterte mich im Spiegel. Känder, du bist alt geworden, dachte ich. Und du wirst noch älter aussehen, wenn dein Plan misslingt.

Trotzdem fühlte ich mich in meinem Element: Ich brauche das Gefühl des Risikos, wie andere ihre Rentenversicherung oder die Sicherheit einer zentral beheizten Vier-Zimmer-Etagenwohnung mit Frau und Kind. Und das ist kein leeres Gerede.

Ich ging durch die Marienstraße und am Valentin-Museum vorüber in Richtung Isar. An der Ludwigsbrücke nahm ich sicherheitshalber die Treppe zum Wasser hinunter, um zu prüfen, ob mir jemand unter den Brückenpfeiler folgte. Aber in dieser Phase würde ich kaum überwacht werden.

Dass Stankowitz sich persönlich nach München bemühte, zeigte seine Nervosität. Wenn einem Mann in seiner Position der Geduldsfaden reißt, ist das entweder ein Zeichen äußerster Bedrängnis oder ein Hinweis darauf; dass man ihn besser austauschen sollte, weil seine Nerven versagen; vielleicht auch beides.

Auf der anderen Isarseite wandte ich mich hinter dem Bürgerbräukeller nach links. Das Haus Nummer dreiundzwanzig stand leer und wurde zur Vermietung angeboten. Ein gelbes Schild im Fenster der ersten Etage zeigte die Telefonnummer des Besitzers.

Wenn man ihn anrief wurde allerdings niemals abgehoben. Deshalb würde das Haus noch in einigen Jahren unvermietet sein und schon bald – Gerüchte entstanden und vermehrten sich wie Bakterien, man mußte ihnen nur genügend Nährlösung bieten – aus irgendeinem dubiosen Grund als unvermietbar gelten. Dreimal in Abständen von einer Viertelminute klingeln bedeutete: Kontaktaufnahme.

Dann würde jemand aus der Kölner Zentrale noch am Abend desselben Tages im Hause erreichbar sein.

Ich trat in die Toreinfahrt. Der Eingang war von den gegenüberliegenden Häusern nicht einsehbar.

Auf der Rückseite, zwischen der S-Bahn-Station und den Fahrbahnen, lag ein winziger Park, deshalb konnten Beobachter nie sicher sein, ob ein Besucher das Haus oder den dahinterliegenden Park ansteuerte.

Nachdem ich aufgeschlossen hatte, horchte ich ins Treppenhaus. Eines von der Sorte aus Kaisers Zeiten, mit hohen, gipsverzierten Decken und losen Bodenfliesen. Die Glühlampen entweder defekt oder herausgedreht, um ungebetene Gäste im Dunkeln empfangen zu können, nahm ich an. Es war diese Art von Mätzchen, die Stankowitz‘ Schreibtischplaner austüftelten, wenn sie nicht gerade wieder von einem Skandal heimgesucht wurden.

Wie ein Blinder tastete ich mich durch das Dämmerlicht voran – und stieß prompt gegen die erste Treppenstufe ... ein polterndes Geräusch, das nur ein Schwerhöriger überhören konnte.

Meine verdammte Nachtblindheit!

Ich hatte sie so lange wie möglich vor Stankowitz und den anderen geheimgehalten. Aber er mußte trotzdem herausgefunden haben, dass ich gesundheitlich nicht auf der Höhe war. Er wollte mir einen «ruhigen Schreibtischposten» in der Kölner Zentrale verordnen (und ahnte dabei nicht, dass ich mit dem Rücken zur Wand kämpfte, weil Büros Gift für mich bedeuten).

In Bulgarien war es eine Kleinigkeit gewesen, den wichtigen Personen gegenüber zu verheimlichen, dass ich Telefonnummern und andere Daten auf Spickzettel notierte – diese Gedächtniskünstler in den Abteilungen hätten sich vor Lachen auf die Schenkel gehauen –- und nach Einbruch der Dunkelheit halbblind durch die Gegend tappte.

Ich teilte mir meine Arbeit selber ein, lernte das Programm auswendig und legte alle Treffen auf die hellen Tagesstunden. In Köln würde ich unter Neonlicht in einem dieser verdammten Büros von der Größe eines Schuhkartons sitzen und beim Nachhauseweg vor die Wand laufen, falls in der Tiefgarage das Licht ausfiel. Vom Autofahren bei Nacht und Nebel ganz zu schweigen. Aber alle diese Probleme waren harmlos gegen das, was mich nach ein paar Wochen zwischen vier Wänden erwartete: Ich brauche den Außendienst wie andere die Atemluft.

«Kommen Sie rauf», schallte Stankowitz‘ Stimme durch das Treppenhaus.

Ich nahm an, dass er auf dem obersten Treppenabsatz stand und schob meinen Kopf zwischen die Geländersprossen, um zu ihm hinaufzusehen.

«Sie blinzeln wie ein pensionierter Grubengaul …» murrte er prompt. «Wo, zum Teufel, ist Ihre Brille?»

«Hab nie eine getragen. Meine Augen sind in Ordnung …»

Als ich oben war, zeigte er in ein leeres Zimmer, in dessen Mitte zwei einsame Stahlrohrstühle standen, als habe man sie dort beim Auszug vergessen.

«Hinsetzen», sagte er und strich sich gedankenverloren durch das schlohweiße Haar (ich fragte mich, wie ein Mensch mit solcher Dirigentenmähne täglich den Kölner Berufsverkehr durchqueren konnte, ohne aufzufallen). Trotz seines militärischen Ranges bevorzugte er Zivilkleidung.

Es war sein knapper Ton, der mich immer in Rage brachte. Man munkelte, er verfalle damit unbewusst in die Sprechweise seines designierten Nachfolgers, eines Brigadegenerals.

Es sollte zwar noch nicht mehr als eine leere Drohung sein, konnte aber schon bald Wirklichkeit werden, wenn der militärische Abschirmdienst noch einmal in die Schlagzeilen geriet. Die Zeitungen hatten einen wahren Sturmlauf veranstaltet.

Für wahrscheinlicher hielt ich es allerdings – nach neuesten Gerüchten aus dem Kanzleramt –‚ dass sie den ganzen Laden der Münchener Führung unterordnen würden. Vor wenigen Monaten noch ein undenkbarer Zusammenschluss, nach den Fehlern und Schlampereien der letzten Wochen jedoch eine ganz reale Angstvision. In den Büros sprach man von nichts anderem. Ich glaube, Stankowitz fürchtete den Verlust seiner Selbständigkeit mehr als den Tod.

«Also?», fragte er und zeigte noch einmal auf den Stuhl. «Was haben Sie?»

Er selbst blieb stehen. Auf dem Boden an der Wand sah ich zwei zusammengerollte Tageszeitungen, eine Thermosflasche und seine lederne Umhängetasche, mit der er immer wie ein zum Boten degradiertes Vorstandsmitglied wirkte. Das Telefon und die Fernschaltung nach Köln mussten irgendwo in der Wand versteckt sein.

Ich ließ meinen Blick gedankenverloren über die Nähte der Tapeten schweifen, konnte aber nichts entdecken.

«Känder …», sagte er ärgerlich. «Ich rede mit Ihnen.»

«Positiv, ja, positiv.»

«Ich fragte, was Sie haben

«Wir finden etwas, ganz sicher.»

«Sie verschwenden seit zwei Wochen unsere Gelder und das Ergebnis ist negativ, absolut negativ.»

«Es war mager, ja. Aber dafür wird das Ergebnis um so fetter sein – der dickste Hund seit langem …»

«Ich wollte, Sie würden sich nicht bloß in Andeutungen ergehen», seufzte er. «Wie lange noch?»

«So was braucht Zeit.»

«Sie hatten nicht die Spur einer Spur.»

«Jetzt habe ich sie.»

«Auf einmal?»

«Sogar genau, was wir brauchen.»

«Also rücken Sie schon damit heraus ...»

«Ich würd‘s gern absichern. Lassen Sie mir noch etwas Zeit. Ein bis zwei Wochen.»

«So lange? Herr im Himmel ... Sie wissen, dass man mich dann schon wie einen feuchten Aufnehmer in die Besenkammer gehängt haben kann? Und den übrigen Laden dazu.»

«Wenn ich Erfolg habe, sind Sie und wir über den Berg.»

«Das alles sieht mir nicht nach weltbewegenden Erkenntnissen aus», meinte er kopfschüttelnd und begann unschlüssig im Zimmer auf und ab zu gehen. Seine Hände bewegten sich nervös in den Manteltaschen.

Schließlich blieb er stehen, bückte sich nach der Thermosflasche und goss sich Kaffee in den Schraubbecher ein. Er schien nicht auf die Idee zu kommen, mir auch etwas davon anzubieten.

«Sie sind kein schlechter Mann, Känder», sagte er, als er sich aufrichtete. «Nur etwas langsam. Arrogant, eigenbrötlerisch. Aber Ihr Verstand ist in Ordnung. Etwas langsam, wie gesagt ...»

Er kratzte sich voller Unbehagen.

Ich bin jetzt in der Aufbauphase, wenn Sie mir nur noch ein paar Tage ...?»

«Wir sollten Sie aus dem Außendienst nehmen und Ihnen die Leitung des Unternehmens anvertrauen, die Denkarbeit. Die Finten, Känder. Sie haben Phantasie. Im Planungsstab sind Sie ausgezeichnet. Aber leider Gottes benötige ich für diese scheußliche Geschichte ein unbekanntes Gesicht.»

«Mir liegt die Arbeit draußen besser.»

«Das glauben Sie natürlich nur ... wer weiß schon, was für einen gut ist? Nein, Sie sind ein Schreibtischhengst. Sie gehören in meine Nähe. Sie müssen Verantwortung tragen. Das Stehen an zugigen Straßenecken bekommt Ihnen nicht.“

«Bin prächtig in Form, wenn ich nur etwas Pflaster unter den Schuhen spüre.»

«Widersprechen Sie mir nicht», sagte er. Die Bläue um seine scharfen Nasenflügel nahm zu.

«Erasmie und Rieder schotten sich gegen alle Informationen nach draußen ab, seit es diese Pläne zur Zusammenlegung gibt» (ich sagte bewusst Zusammenlegung statt Unterordnung, um ihn nicht noch weiter gegen mich aufzubringen), «und ein zweitklassiger Mann könnte Sie durch einen Fehler in Teufels Küche bringen.»

«Das weiß ich, Känder. Da erzählen Sie mir keine Neuigkeiten. – Erasmie ...», meinte er versonnen. «Dieser barhäuptige Heilige unter all den Sündern! Ein Mensch, der nicht raucht, nicht trinkt, keine Frauen hat. Abgebrochenes Theologiestudium, wenn ich mich recht erinnere.

Anscheinend besitzen einige dieser Knaben eine Affinität zur Religion, ehe sie in den Geheimdienst gehen. Dieselbe Art von Eiferertum, nehme ich an. Waren Sie nicht auch mal in dem Verein, Känder? Zu Anfang Ihrer Karriere? Was bringt einen wie Erasmie, der vier Jahre seines Lebens hinter Klostermauern verbracht hat und einmal Mitglied der evangelischen Landessynode war …»

«1933, nach der Gründung», warf ich ein. «Nur ganz kurze Zeit. Ein oder zwei Monate. Unter den nationalsozialistischen Versuchen, ihn und seinen Laden für die Staatskirche zu vereinnahmen, wurde er schnell zum Falken.»

«… an die Spitze des größten deutschen Dienstes?» fuhr er fort, als sei mein Einwand Luft. «Ist das nicht Ironie, Känder, hundsföttische Ironie?»

«Ja, Ironie.»

«Sie müssten es doch am besten beurteilen können. Der Mann scheint nachts im Büßergewand ins Bett zu steigen?»

«Seine Weste ist rein», bestätigte ich.

«Wir wissen beide, dass es keinen Dienst geben kann, der nur auf Tugendpfaden wandelt. Das liegt in der Natur der Sache. Also erledigen andere für ihn die Drecksarbeit. Was ist mit Rieder?»

«Rieder wird als sein genaues Gegenteil angesehen. Skrupellos, verschlagen auf eine besonders unangenehme Weise, die man schlecht fassen kann. Dabei durchaus gebildet, umgänglich, wenn es die Situation erlaubt. Wer ihn nur flüchtig kennt, würde ihn für einen liebenswürdigen alten Oberlehrer halten, Typ neunzehntes Jahrhundert, mit dem Rohrstock hinterm Rücken. Ein großer Teil seiner Arbeit gilt der eigenen Absicherung und Verschleierung.»

«Haben Sie da etwas?»

«Ich arbeite dran. Als zweite Spur.»

«Zweite Spur, zweite Spur ...»

«Rieder soll sein Amt zu krummen Geschäften missbrauchen.»

«Soll – oder hat er?»

«Angeblich benutzt er seinen Apparat, um westdeutsche Geldgeber vor gefährlichen Geschäften zu warnen. Möglicherweise nur Gerüchte.»

«Das wäre doch etwas», meinte Stankowitz.

«Die Abschottung von Informationen ist fast vollkommen, seit es diese Gerüchte über eine Zusammenlegung der Dienste gibt Sie wollen nicht ins Gerede kommen, nicht den Braten verlieren, ehe er gegessen ist. Erasmie hat besondere Direktiven erlassen. Keine Skandale, keine Gerüchte, Informationsstopp und Desinformation auf ganzer Linie. Ich bin zwei Wochen unterwegs gewesen, um die lächerliche Protokollabschrift einer geheimen Nachtsitzung einzukaufen, und das, obwohl alte Kollegen von uns bei ihnen arbeiten.

Fehlanzeige – nur ein dubioser Bericht über angebliche Ränkepläne Gromykos gegen Tschernenko. Quelle unbekannt Drang nicht einmal bis ins Kanzleramt vor. Ansonsten keine Ergebnisse. Sitzen auf ihren Papierbergen und hämmern GEHEIM-Stempel drauf.»

«Sie haben doch dieses Mädchen – wie ist noch gleich ihr Name ...?»

«Puslowa, tschechische Überläuferin. Nein, sie hat mich verlassen, wegen meiner Auslandsaufenthalte.»

«Ahnt sie noch immer nichts von Ihrer Arbeit?»

«Ich habe mich streng an Ihre Anordnung gehalten.»

«Natürlich, ja. Behalten Sie sie im Auge.»

«Das hatte ich vor.»

Erfindergeist

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