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DRITTES KAPITEL

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Alte Liebe rostet nicht

Die Puslowa wohnte im vierten Stockwerk eines Geschäftshauses aus der Vorkriegszeit. Es war die einzige Wohnung. In den Etagen darunter gab es drei Versicherungsbüros, eine Schauspieleragentur und die Gemeinschaftspraxis zweier Rechtsanwälte. Es mußte auch einen Zahnarzt geben, dem Geruch nach medizinischem Gurgelwasser zu urteilen, der mich immer anwehte, wenn ich die Fahrstuhltür öffnete.

Stankowitz hatte nicht ahnen können, dass die Puslowa einen festen Platz in meinem Plan einnahm. Deshalb würde er meine plötzlichen Besuche bei ihr auf seine Anregung zurückführen, falls ich irgendwann von seinen Leuten kontrolliert wurde.

Ich läutete und legte gleichzeitig meine Hand auf das Türauge.

«Känder ... nimm deine klebrigen Pfoten weg», sagte eine bös klingende Frauenstimme hinter der Tür.

Sie war noch immer die alte – poltrig und direkt. Eigentlich bevorzugte ich Frauen, die weniger laut und anstrengend waren. Aber ich hatte sie zu einer Zeit kennengelernt, als ich es mir nicht aussuchen konnte. Schon Stankowitz‘ rüder Ton strengte mich immer an. Ich bemerkte mit Entsetzen, dass ich es ihm gleichzutun versuchte und dabei etwas von einem Chamäleon annahm, obwohl es mir darin an Kräften mangelte.

Ehe die Tür nach innen gezogen wurde, nahm ich meine Hand zurück.

Eine füllige, rotgefärbte Frau in den Vierzigern musterte mich mit in die Hüften gestemmten Armen – noch etwas fülliger, als ich sie in Erinnerung hatte.

«Ich glaub‘s nicht …», sagte sie.

«Nur für eine halbe Stunde. Denk nicht, dass ich mich bei dir einquartieren will.»

«Das wäre ja noch schöner. Ich sollte dir die Tür vor der Nase zuschlagen.»

«Du bist so liebenswert wie immer.»

«Komm mir nicht mit der Feinen-Pinkel-Art …»

Ich drängte sie mit sanfter Bewegung beiseite, küsste sie flüchtig auf die Wange und ging ins Wohnzimmer.

Sie stand breitbeinig im Korridor und blickte sich verdutzt nach mir um.

«Wie lange ist es her?», fragte ich und setzte mich auf ein klobiges Monstrum von Couch, das unter meinem Gewicht den Geruch von feuchtem Seegras verströmte.

«Wie lange was?»

«Dass wir uns nicht mehr gesehen haben. Vier Monate?»

«Nicht lange genug für dich Saukerl.»

«Ob ich Kaffee möchte? – gern …»

«Du kannst deine Unverschämtheiten so wenig ablegen wie andere ihre Haut. Kaffee!»

Trotzdem verschwand sie kopfschüttelnd in der Küche und gleich darauf hörte ich eine altmodische Handmühle mahlen. Tassen klirrten, der Wasserkessel fauchte.

Die Wohnung war eine Mansarde und für Büros oder Arztpraxen ungeeignet. Da das Haus über einen Durchgang vom Hausmeister nebenan betreut wurde, zahlte sie mitten im Münchener Stadtzentrum einen Spottpreis an Miete; und das war sicher der Hauptgrund, weshalb sie sich als alleinstehende Frau in einem einsamen Büro- und Geschäftsgebäude einquartiert hatte. Wenn sie einen Spleen besaß, dann die Angst vor Vergewaltigungen. Damit konnte höchstens noch die Angst vor ihren Landsleuten konkurrieren, seit sie sich wegen ihrer Flucht aus der Tschechoslowakei politisch von ihnen verfolgt glaubte.

Sie war nur eine unbedeutende kleine Parteisekretärin gewesen. Aber bei den seltenen Gelegenheiten, wenn sie über ihr Leben drüben sprach, hatte ich immer heraushören können, dass sie sich im Westen für eine Art Geheimnisträgerin hielt. Da sie in der Organisation nur den Bereich der Materialbeschaffung verwaltete und weitläufig mit Rieder verwandt war, hatte man sie nach einigen Sicherheitsüberprüfungen ohne Bedenken eingestellt.

Sie setzte die Kanne vor mich hin und als sie eingoss, nutzte ich die Gelegenheit und kniff sanft in ihre Speckrolle, die sich unter dem dünnen bedruckten Kleiderstoff an ihrer Hüfte abzeichnete.

«Füllig geworden, altes Mädchen …»

Sie drückte meine Hand weg. «Was bist du nur für ein Mensch, Känder», sagte sie in ihrem östlich klingenden Deutsch. «Wo andere ihre schwarze Seele haben, ist bei dir ein Loch, dunkler als die schwärzeste Nacht. Ich werd nie wieder mit dir Die Gefangene und ihr Richter spielen.

Ich wird’ mich nie wieder in Seile und Riemen wickeln lassen, um dir zu gefallen. Und du wirst nie wieder mit deinen klebrigen Fingern mein Fleisch berühren. Ich hab viele Wochen gebraucht, um die letzten blauen Flecken loszuwerden.»

«Vergiss nicht, dass es dir gefallen hat.»

«Gefallen? Gelitten hab ich. Das war alles. Angst gehabt, dass dir die Sicherungen durchbrennen könnten.»

«Sag, dass es nicht wahr ist … Wir haben schöne Stunden miteinander verbracht!»

«Du bist ein Tier, Känder. Andere brauchen Alkohol, um zum Tier zu werden. Aber du bist es von Natur. Aus Schwäche. Deine Mutter muss dich schon so zur Welt gebracht haben, die ärmste ...» Dabei rang sie mitfühlend die Hände. «Ich frag mich wahrhaftig, warum ich mich jemals mit dir eingelassen habe.»

Sie schwieg und spuckte in ihre Kaffeetasse.

«Lass meine Mutter aus dem Spiel.»

«Sie leitete einen bolivianischen Tanzclub, hab ich recht? Oder war‘s Ecuador? Tanzclub nennen sie so was drüben. Hurenhaus für Reiche heißt das bei uns. In ihrem Alter!»

Ihr raues Lachen versetzte mir einen Stich.

«Schon gut, seh‘s deinem Gesicht an, dass ich ins Fettnäpfchen getreten habe. Nimm‘s nicht persönlich.‘>

«Ich bin nur gekommen, um dir einen jungen Burschen zu bringen, der auf deine Hilfe angewiesen ist, einen Emigranten.»

«Auf meine Hilfe?»

«Er ist völlig unbeleckt. Hat keine Ahnung, was die Ostdeutschen und Tschechoslowaken hier im Lande treiben. Wie sie den Flüchtlingen nachstellen.»

Ich wusste, dass ich damit bei der Puslowa einen Nerv traf. Jene Angst, die sie in ihrem Wahn empfand, unterstellte sie auch allen anderen. Und da sie letzten Endes eine mitfühlende Seele und überaus neugierig war, würde sie einwilligen. Sie würde sich Traphan ansehen wollen.

«Wozu, Känder – wozu soll das gut sein? Seit wann kümmerst du dich um solche Burschen?»

«Ein alter Geschäftsfreund in Bulgarien hat es mir bei unserem Abschied nahegelegt. Traphan ist sein unehelicher Sohn. Er möchte, dass sich hier im Westen jemand um ihn kümmert.»

«Geschäftsfreund, Geschäfte pah! Ich habe nie erfahren, welche Geschäfte das sein sollten. Krumme Geschäfte, was sonst? Du wusstest schon als junger Mann, dass dein Studium nur eine Ausflucht war, um es bei nächster Gelegenheit an den Nagel zu hängen. Dich in der Kutte des Landpfarrers zu sehen, ha, ha, zu komisch ...»

«Damals hab ich dran geglaubt.»

«Narren und Kinder glauben nicht mal dran.»

«Neun mich, wie du willst.»

«In Wirklichkeit war‘s so, dass dich das Treiben deiner Alten grässlich angeekelt hat. Du suchtest nach einem Halt und glaubtest ihn wahrhaftig bei den Pfaffen zu finden. Wenn auch nur in dem oberflächlichen Glauben, der nicht mehr wert ist als ein Lippenbekenntnis. Tief drinnen wusstest du immer, dass es nur ein Hirngespinst war. Du bist ein Verlorener, Känder ...»

«Ich werd dich zu meiner Psychologin ernennen, wenn es soweit kommen sollte.»

«Wenn du ins Gras beißt, Känder? Das kann früher passieren, als dir lieb ist. Ich sehe nicht, wie ein Mensch mit deiner Veranlagung und Haltung lange leben könnte.»

«Meine Gesundheit ist ausgezeichnet.»

«Gibt es nicht sogar eine dunkle Stelle in deiner südamerikanischen Vergangenheit?»

«In meiner Verg ... wieso?»

«Du hast mir nie über deine Zeit in Ecuador erzählt.»

«Wie sollte ich auch. Ich war nie in Ecuador.»

«Und deine Schreie nachts? Du sprichst im Schlaf, Känder. Ein Mann, der soviel Angst vor seiner Vergangenheit hat, sollte das wissen.»

«Wahrscheinlich hab ich von meiner Mutter geträumt.»

«Ja, wahrscheinlich.»

Ich musterte sie argwöhnisch und versuchte herauszufinden, was sie wusste. Sicher war es nicht viel, sonst hätte sie mir schon damals die Hölle heiß gemacht.

«Der Junge heißt Erich Traphan.»

«Meinetwegen. Ich kann ihn mir ja ansehen.»

Als ich ihre Wohnung verließ, hielt ich es für wahrscheinlicher denn je, dass die Begegnung mit Traphan der Puslowa nicht nur Schwierigkeiten einbringen, sondern sie sogar den Kopf kosten konnte. Ein Risiko, das ich gern in Kauf nahm. Sie hatte einen schwer zu ertragenden Fehler: sich über die Schwächen anderer lustig zu machen und dann in weinseliger Stimmung ihren Freunden davon zu erzählen. Ein Denkzettel würde ihr gut tun.

Der Himmel hatte eine seltsam gelbliche Färbung angenommen, als ich wieder die Straße betrat (als trage er Wüstensand aus der Sahara mit sich) und die Zeichnung der Wolken erinnerte an ein verwischtes Aquarell. In der Luft lag ein schriller, langanhaltender Ton, dem Reißen einer Feile über Stahlblech nicht unähnlich. Ich sah mich betreten um, vielleicht war es nur in meinem Kopf. Unten an der Straßenecke, vor dem Kriegerdenkmal aus grünspanbedecktem Kupfer, lag ein Parkgrundstück. Tauben pickten die ausgestreuten Grassamen auf. Ein räudiger, herrenloser Köter beobachtete sie dabei.

Er rührte sich nicht und stand nur da. Er wusste, dass er sie noch nicht fassen konnte. Aber eines Tages, das ahnte er, würde sein Augenblick kommen …

Ich setzte mich in das Eckcafé, bestellte eine Tasse Kaffee und beobachtete ihn bei seiner Jagdmeditation. Einmal kratzte er sich und gähnte ausgiebig und ich sah, dass er beinahe zahnlos war, aber seine Reißzähne standen noch.

Als ich herauskam, war die Wolkendecke aufgerissen. Ich ging durch die Sendlinger Straße und bog zum Jakobs-Platz ein.

Eine für diese Jahreszeit ungewöhnlich heiße Sonne – es war Anfang Juni – brannte aufs Pflaster. Sie erinnerte mich an die staubig trockene Luft und Backofenhitze jener so folgenreichen Monate in Ecuador. Bei meiner Ankunft in Quito hatte ich kein Wort Spanisch gesprochen; doch ich lernte es innerhalb weniger Wochen im «Orden der tätigen Nächstenliebe» (die Brüder und Schwestern dort zeigten sich wenig nachsichtig mit jemandem, der ihre Sprache nicht verstand; einige von ihnen waren reine Sprachwunder und beherrschten außer Englisch, Deutsch und Französisch auch noch Quechua und Chibcha, die einheimischen Indianersprachen).

An der Plakatwand blieb ich stehen und vergewisserte mich, dass mir niemand folgte.

Rechts am Rand eines Parkplatzes, dessen eine Seite von einer kahlen Backsteinwand begrenzt wurde, stand ein blauer, schon etwas rostiger VW-Bus, der im Laderaum keine Fenster besaß. Niemand außer mir wusste etwas von dem Wagen. Ich hatte ihn gleich nach dem Kauf mit einer Liege und allem, was ich zum Umkleiden oder für Übernachtungen brauchte, ausgestattet: zwei kleinen Schränken, einer starken Lampe, dem Schminkspiegel und verschiedenen Utensilien wie falschem Haar, Haftschalen und einem russischen Wörterbuch.

Ich zog mich sorgfältig um und steckte eine russische Abendzeitung so in die Innentasche, dass ihr Kopf bei geöffnetem Mantel zu sehen sein würde.

Dann schob ich die beiden Silikonscheiben unter meine Wangen, legte dunkelbraune Haftschalen an, befestigte die dichten, rötlichen Brauen und färbte meine Gesichtshaut ein.

Glücklicherweise hatte ich ein Dutzendgesicht. Man prägte es sich schlecht ein, aber dafür war es um so leichter durch kleine Manipulationen zu verändern.

Ein slawisch wirkender, älterer Mann sah mir aus dem Spiegel entgegen

Als ich den Wagen verließ, blieb ich einen Moment lang zwischen seiner Tür und der Backsteinwand stehen. Dann ging ich, als hätte ich dort nur meine Notdurft verrichtet, in Richtung auf die rückwärtige Seite des Platzes. Bei solchen Operationen waren meine Nerven seltsamerweise immer ausgezeichnet. Ich handelte mit der Sicherheit und Genauigkeit eines Schlafwandlers. Zwei, drei Wochen in einem dieser verdammten Büros dagegen würden mich in ein zitterndes Wrack verwandeln.

Traphans Heim war kaum fünfhundert Meter Luftlinie entfernt. Ein älteres Gebäude aus Felsstein, dem man einen Anstrich aus weißer Lackfarbe verpasst hatte. Hinter den spitzen schwarzen Eisengittern, die das Grundstück einzäunten, täuschte ein Springbrunnen Beschaulichkeit und Ruhe vor – aber vermutlich würde sein Plätschern kaum die Hilferufe und Schreie übertönen können, die manchmal aus den vergitterten Fenstern drangen.

Ein junger wohlgekleideter Neger in weißem Arztkittel, der am Rasen vor dem Goldfischteich eine Zigarette rauchte, öffnete auf mein Läuten.

«Die Besuchszeit ist vorüber», sagte er mit freundlichem Grinsen und blies mir seinen Rauch ins Gesicht.

«Ich komme nicht zu Besuch.»

Er horchte sekundenlang dem Klang meines frischen russischen Akzents nach.

«Sind Sie angemeldet?»

«Telefonisch, ja beim Anstaltsleiter.»

«Oh, dann müssen Sie Herr Bogdanowich sein? Waldenfels hält schon den ganzen Nachmittag nach Ihnen Ausschau. Er steht dort oben am Fenster seines Arbeitszimmers, sehen Sie ihn ...?»

«Bitte keine Namen. Es wäre mir peinlich, wenn jemand von meiner Anwesenheit hier erführe.»

«Wie Sie wünschen.»

Ich winkte kurz zu der dicklichen Gestalt eines fast kahlköpfigen Mannes hinter dem einzigen unvergitterten Fenster im ersten Stock der Felsenburg hinauf; dann gingen wir hinein.

Eine hydraulisch bewegte Scheibe öffnete sich vor uns, Panzerglas, nahm ich an. Dann sah ich den Glaskasten der Pförtnerloge: er erinnerte an die schusssicheren Glaskäfige mancher Landeszentralbanken, nur dass er noch mit etwas mehr Elektronik vollgestopft war. Ein raubeinig wirkendes altes Arbeitspferd mit weißem Schwesternhäubchen bediente das Schaltpult. Zahllose Bildschirme schienen jeden Winkel des Gebäudes auszuleuchten. Die Vision vom Großen Bruder war hier auf perfekte Weise Wirklichkeit geworden.

Eine altmodische Wendeltreppe aus weißlackiertem Holz führte als separater Aufgang zum Herrscher über jene armen Seelen, die nicht den geltenden Vorstellungen von geistiger Gesundheit und Normalität entsprachen. Ein Schaudern überkam mich, wenn ich mir vorstellte, wie nahe ich selbst schon früher dieser subtilen Art der gesellschaftlichen Fürsorge gewesen war. Und ganz unvermittelt überfiel mich Panik

«Was ist mit Ihnen?», fragte der schwarze Arzt.

Meine etwas zu lebhafte Einbildungskraft, hätte ich sagen können, unterließ es aber.

Ich war stehengeblieben. Er musterte mit fachkundiger Miene mein Gesicht.

«Nur die Beine, ein Wadenkrampf ...»

«Sie neigen zu Wadenkrämpfen? Etwa auch zu Thrombosen und Nervosität?»

Ich nickte leidend, weil mir dieses falsche Eingeständnis weniger Schauder über den Rücken jagte, als wenn sein Verdacht in eine andere Richtung gegangen wäre.

«Magnesiummangel. Trinken Sie Mineralwasser, das möglichst wenig Kalzium und viel Magnesium enthält. Kalzium wirkt im Stoffwechsel als Antagonist des Magnesiums.»

«Vielen Dank.»

Ich sah das fromme Leuchten uneingeschränkten Glaubens an die Wirksamkeit der Chemie in seinen dunklen Augen.

Zufrieden öffnete er eine Tür, an der Leitung stand.

«Da sind Sie ja», sagte Waldenfels und breitete feierlich die Arme aus. «Ihrem Zögling geht es ausgezeichnet.»

Er war klein und kurzsichtig und stand in etwas gebückter Haltung hinter seinem breiten Tresorschreibtisch, auf dem außer einer Orchidee im Glas nur noch ein schwerer goldener Füllhalter zu sehen war. Seine Handflächen griffen schüttelnd ineinander, als sei die Entfernung über den Tisch zu groß, um mir die Hand zu reichen.

Ein wenig erinnerten mich seine Gebärden an amerikanische Wahlkampfmanager. Er verkaufte eine Ware: geistige Gesundheit. Natürlich auch noch Sicherheit der Gesellschaft vor allem, was sie hinsichtlich anderer Formen des Bewusstseins in Irritation versetzen konnte; und seine Verkaufsmethoden waren kaum weniger skrupellos und an äußeren Erfolgen orientiert. So etwas drückt sich zwangsläufig in den Gebärden aus, wenn man nicht gerade ein begnadeter Schauspieler und Verstellungskünstler ist. Ich hätte ihm nicht einmal meinen Goldhamster zur Behandlung anvertraut.

«Wie ich Ihnen schon am Telefon sagte, bin ich im Auftrage eines bulgarischen Geschäftsfreundes hier, dem sehr daran liegt, dass es dem Jungen an nichts mangelt … eine Jugendsünde. Erich weiß nichts von seinem Vater.»

«Verstehe. Meine Diskretion ist Ihnen sicher. Bitte setzen Sie sich.»

Ich öffnete den Mantel und er starrte auf meine Zeitung.

«Sie sind Russe?»

«Nein, wieso?»

«Ihr, äh … hm, Akzent.»

«Mein ...? Ja, richtig, ich hatte russische Eltern. Aber ich bin in Paris aufgewachsen. Ich war selbst niemals in der Sowjetunion», erklärte ich, als sei es mir wichtig, diesen Gedanken möglichst weit von mir zu weisen. Ich beherrsche die Sprache nur noch unvollkommen und kann sie nicht einmal mehr lesen.»

«Paris!» erklärte er schwärmerisch und ließ sich die dreiste Lüge angesichts der Iswestija unter meinem Mantel nicht anmerken. «Was glauben Sie, wie ich mir wünschte, einmal aus diesem Loch herauszukommen. Aber qualifizierte Fachkräfte sind schwer zu finden. Die Leitung einer Anstalt verlangt besondere Fähigkeiten.»

«Die sicher durch beträchtliche Einnahmen aus fachkundiger Behandlung entschädigt werden?»

Er hob abwehrend beide Arme und zeigte mir seine rosafarbenen Handflächen.

«Es wird immer mehr zur finanziellen Gratwanderung, über den nächsten Monat zu kommen. Verstehen Sie mich nicht falsch – keineswegs Verschwendung oder die Unfähigkeit, zweckmäßig zu wirtschaften, ist es, die uns in Bedrängnis bringt, sondern die immer noch ablehnende Haltung der Gesellschaft diesen armen Seelen gegenüber. Man verweigert uns die Mittel, die wir zur Heilung benötigten. Man schweigt die Probleme lieber tot. Und das bedeutet eben auch, man finanziert ihre Beseitigung nicht.»

«Deshalb bin ich hier.»

Ich schob mit diskreter Geste ein in Zeitungspapier gewickeltes Paket über den Tisch. «Zur freien Verwendung, also nicht an einen besonderen Zweck gebunden – Sie verstehen?»

Er nickte dankbar.

«Alles, was mein bulgarischer Geschäftsfreund erwartet, ist, dass Traphan täglichen Ausgang erhält.»

«Ich verstehe nicht», sagte Waldenfels. Er beugte sich irritiert über den Tisch. «Sie wollen, dass dieser – mit Verlaub gesagt – Verrückte jeden Tag auf die Menschheit losgelassen wird? Er ist unberechenbar, ein klassischer Fall von Schizophrenie, die jeden Augenblick wieder ausbrechen kann. Unfähig, einen Fuß vor den anderen zu setzen.

«Selbstverständlich nicht ohne Obhut. Eine gute Bekannte, tschechische Emigrantin und mit allen Wasser gewaschen, wird sich seiner annehmen.»

Er wiegte zweifelnd den Kopf.

«Ich selbst schaue öfter nach dem Rechten. Abends kehrt Traphan pünktlich in die Anstalt zurück und falls Klagen auftauchen, widerrufen Sie einfach Ihre Einwilligung.»

«Dann könnte es schon zu spät sein.»

«Sie sehen das zu schwarz.»

«Sind Sie der Arzt oder ich?», fragte er missmutig, besann sich aber, als sein Blick auf das in Zeitungspapier gewickelte Päckchen fiel. Unentschlossen drückte er die Zeitung auseinander und ließ seine Hand prüfend über den Rand des Stapels gleiten. Dann schob er das Päckchen langsam mit der Spitze des Zeigefingers zurück, doch nicht so weit, dass es die Mitte seines Schreibtisches überquerte. «Ich kann mir die Gefährdung der Menschen draußen nicht durch Geld abkaufen lassen ...», erklärte er pathetisch. «Falls Sie das geglaubt haben?»

«Sie haben mich da völlig missverstanden.»

«So?»

«Ja, ich bin ganz sicher.»

«Inwiefern?», fragte er.

«Was sollte uns daran liegen, irgend jemanden zu gefährden? Halten Sie uns für gewissenlose Schurken, für Verbrecher?»

«Natürlich nicht»

«Mein Mandant hofft, dass Traphan unter normalen Menschen leichter sein seelisches Gleichgewicht zurückerlangt.»

«Das wäre möglich», bestätigte er.

«Die Atmosphäre einer Anstalt stellt auf Dauer eine schwere Belastung dar.»

«Deshalb bekommt er einmal im Monat Ausgang.»

«Zu wenig ... zu wenig!»

«Natürlich haben Sie recht.» Er sah wieder auf das Paket. «Aus seinem Krankenbericht weiß ich, dass Traphan als harmloser Fall angesehen wird.»

«Was sich schnell ändern könnte. Er gilt nur als harmlos, solange keine gegenteiligen Erkenntnisse vorliegen. Dieses Krankheitsbild zeichnet sich durch sprunghafte Veränderungen aus. Er mag Ihnen ganz normal erscheinen. Aber bei irgendeiner vom Normalen als geringfügig angesehenen Provokation kann es zur Katastrophe kommen.»

«Gilt das nicht für alle Ihre Insassen? Auch diejenigen, die täglich Freigang bekommen? Ich meine – ist nicht auch jeder Normale in diesem Sinne ein Risiko?»

«Also gut», sagte er zögernd. «Solange von außerhalb der Anstalt keine Klagen kommen ...»

«Vielen Dank. Ich glaube, mein Mandant wird Ihre liberalen Behandlungsmethoden zu schätzen wissen und sich dafür erkenntlich zeigen.»

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