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Ich habe mich oft gefragt, in wie viel Köpfen das Wort "Verrat" schon seinen profanen Abdruck hinterlassen hat, ohne dass daraus etwas Rechtes geworden wäre. Jede Missachtung oder Beleidigung, jede längst fällige Beförderung kann solche Tagträume nach sich ziehen – aber meist bleiben es Träume.

Ich eigne mich wenig zum Verräter. Wenn ich mich ehrlich prüfe, würde ich, um das eigene Leben zu retten, sicher Schritte erwägen, die ich unter normalen Bedingungen ablehne. Verrat setzt religiöses Eiferertum oder tiefempfundenen Hass voraus, beides Gemütsbewegungen, die mir gewöhnlich fremd sind.

Forum würde sich wegen meiner Loyalität keine Sorgen machen müssen. Um sie zu erschüttern, wäre schon ein schwereres Kaliber nötig gewesen als mangelndes Vertrauen. Aber auf ähnlich schwankendem Boden wie die Phantasien eines Tagträumers, den ein vorübersausendes Auto plötzlich in die Wirklichkeit zurückgerufen hat, bewegten sich auch meine Gedanken und Vermutungen, als ich mir die letzten Tage vergegenwärtigte.

Ich ging eine Gracht im Amsterdamer Rotlichtviertel entlang, bog zum Rembrandtsplein ab, und als ich die wütenden politischen Parolen an den Backsteinwänden hinter der Universität las, fragte ich mich, was mich eigentlich bewogen hatte, meine Vorbehalte gegen Sehlen so leichten Herzens über Bord zu werfen. Vielleicht meine Ahnung, dass auch Forum nicht mit der ganzen Wahrheit herausrücken wollte.

Und würde er überhaupt jemals damit herausrücken? Versuchte ich mich einfach nur mit meiner Rolle anzufreunden?

Im Wasser zwischen den Grachtenwänden schwammen gelbe Blätter. Novemberwinde aus Afrika hatten ein unerwartet mildes Herbstwetter zurückgebracht. An den Teerpappedächern der Hausboote steckten kleine Zettel mit Wohnungsangeboten, und zwischen den Regenrinnen und den Bäumen am Ufer waren farbige Girlanden gespannt. Ein schwarzer Hund mit hochgestellten Ohren und struppigem Fell verfolgte meine Schritte zum Eingang der Van-Aaren-Gedächtnisbibliothek.

Ich erinnerte mich, dass ich mich früher vor dem Eingang immer vergewissert hatte, ob ich unbeobachtet war.

Diesmal verzichtete ich darauf, vielleicht um mir zu beweisen, dass ich meine Regeln selbst bestimmte. Das Portal bestand aus zwei hohen Mahagonitüren, die einen Vorraum zur Halle bildeten. Jede Seite hatte runde Plexiglasfenster, ein krasser Stilbruch angesichts der schönen alten Mahagonikassetten, und genauso wenig zum Interieur der Vorhalle schien auch das Gesicht des kahlköpfigen kleinen Mannes hinter einem der "Bullaugen" zu passen, der überrascht seinen Zeigefinger vor die Lippen legte, als er mich erkannte, und mich dann eilig an der leeren Pförtnerloge vorüber in den Packraum führte. Unter seinem blauen Arbeitskittel wölbte sich ein kugeliges Bäuchlein, seine abgewinkelte Linke hielt eine stark parfümierte Zigarette, und seine rechte Hand ruhte zur Faust geballt in der Kitteltasche.

"Das schickt man uns aus aller Welt", sagte er bekümmert und sog heftig am feuchten Mundstück, spie ein paar Tabakflusen aus und fuhr sich ärgerlich über den Mund. "Jeder will der Van-Aaren-Gedächtnisbibliothek Geschenke machen. Dreimal wöchentlich treffen ganze Berge von Kisten und Paketen ein, alle wollen ihren Namen möglichst auf der Stelle als Spender im Bibliotheksverzeichnis sehen. Und wen nimmt man dafür in die Pflicht? Den alten Beil! Beil, komm her und pack die Kisten aus Beil, zur Post Beil, wo haben wir das verdammte singapurische Postskriptum? Beil, Jakob – ich sehe nirgends eine Moskauer Ausgabe von "

"Kann man hier ungestört reden?"

"Kein Ort im alten Amsterdam ist sicherer."

"Jakob, alter Halunke "

Wir fielen uns in die Arme.

"Ich dachte, dieser Außenposten sei längst aufgegeben worden? Forum erwähnte mal wegen Einsparungen, weil sich das politische Klima geändert habe? Unsere Art von Zeitvertreib wird bald dem Hammer des Auktionators zum Opfer fallen, Jakob. Alternder Agent mit randvollem Gedächtnis aus den Zeiten des kalten Krieges, alles noch in gebrauchsfähigem Zustand, zum ersten, zum zweiten – wer bietet mehr?"

"Die Van-Aaren-Bibliothek ist nicht mehr, was sie mal war, Adrian."

"Aber sie arbeitet noch?"

"Als gewöhnliche Bibliothek."

"Heißt das, es gibt keine Verbindungen mehr über den großen Teich?"

"Ein paar Informationen rauschen schon noch herein, und sie werden auch ordentlich von mir nach Paris oder München weitergeleitet, wie in alten Zeiten. Aus der Zentrale ist eine Ein-Mann-Postleitstelle geworden. Die Bibliotheksleitung wurde vorigen Winter durch studierte Bücherwürmer ersetzt. Niemand von denen ahnt etwas von meiner Aufgabe. Ich bin Beil, das tumbe Faktotum. Beil hier, Beil da."

"Hast du schon von Quands Entlassung gehört?"

"Wir fallen alle, einer nach dem anderen. Kegel mit leicht angeschlagener Oberfläche, zum Aussortieren bestimmt. Eines Tages wird man die Rollläden herunterlassen und aus den Diensten Altenheime und Pflegeanstalten für geistig Behinderte machen."

"Klingt mir etwas zu pessimistisch, Jakob. Sie werden nie ganz auf uns verzichten können."

"Manchmal glaube ich, ich hätte nur geträumt. Was ist aus unseren großen Vorstellungen von Politik geworden? Unseren Idealen. Dort die Mauer mit den Teufeln und hier die glanzvollen Ritter ohne Furcht und Tadel, die sie das Fürchten lehren werden. Da kommt ein einzelner Mann im Schafspelz aus dem hintersten Winkel der Republik, legt sich ein wenig mit altbekannter Rhetorik und kleinen politischen Geschenken ins Zeug, die ihn wenig kosten, ganz im Gegenteil, er entrümpelt nur sein Haus damit – und schon glauben wir ihm, Addi, werfen wir die Schwerter weg und werden zu Friedensengeln. Fünfzig zu fünfzig, vielleicht sogar weniger, stehen seine Chancen, dass er politisch überleben wird. Vom Erfolg seiner Wirtschaftsreformen ganz zu schweigen. Und wie viel Durcheinander hat er schon im eigenen Laden angerichtet?"

Ich setzte mich auf einen der Hocker, die zwischen den Bücherregalen und einer Sendung afrikanischer Bildbände über die Serengeti standen. Das Plakat an der Wand zeigte eine traurig dreinblickende Giraffe. Beil lehnte neben der hohen Bibliotheksleiter, sein Gesicht gedankenverloren der Decke im Lagerschacht zugewandt; wegen des schwachen Lichts war nicht zu erkennen, wo ihre letzten Sprossen endeten.

"Gibt es Nachrichten, Jakob?"

"Irgend etwas ist im Gange."

"Große Sache?"

"Sehr große."

"Schon eine kleine Interpretation auf Lager?"

"Wie man's nimmt."

"Ich frage aus persönlichem Interesse."

"So? Doch nicht, weil dein eigener Stuhl wackelt? Forum ist ohne dich ein Nichts. Das gäbe einen prächtigen Offenbarungseid, wenn man dich aus dem Dienst entfernte, Adrian! Er müsste Farbe bekennen, er müsste vor aller Welt eingestehen, dass er ein elender Stümper ist."

"Schafspelz – sagt dir der Name was?"

Beil fuhr sich über den kahlen Hinterkopf, doch seine Hand löste sich sofort wieder, als finde sie dort keine Ruhe, und schraubte sich dem unsichtbaren Leiterende entgegen. "Ein Teil des Materials, das über den großen Teich kommt, macht hier immer noch Zwischenstation. Die Dechiffrierung liegt beim Adressaten, wie in alten Zeiten. Hält man dich etwa an der kurzen Leine?"

"Ist ausnahmslos alles chiffriert, was durch deine Hände geht?"

"Ein paar Krumen fallen immer mal wieder für den Postboten ab."

"Was Verdauliches dabei?"

"Topsecret. Man erkennt's an der Art der Verschlüsselung."

"Du machst mich wirklich neugierig."

"Welches andere Vergnügen haben wir denn noch? Vorgestern waren Luise und ich im Van-Gogh-Museum. Wir standen vor den Bildern und fragten uns, warum ein Mann, der es nicht unter seiner Würde fand, sich selbst ein Ohr abzuschneiden, plötzlich so hoch gehandelt wird, dass man jeden seiner Pinselstriche mühelos vergolden könnte. Wir kamen zu keinem Ergebnis. Seine Welt ist grau und ziemlich verrückt. Von all den leuchtenden Farben der Reproduktionen bleibt wenig übrig, wenn man sich die Originale ansieht. Luise und ich wurden sehr nachdenklich, wir dachten darüber nach, was wir eigentlich verkehrt gemacht hatten – wo liegt der Fehler, Adrian?"

"Vielleicht wird deine Arbeit später einmal von den Historikern als Bastion der Freiheit angesehen werden. Als ein wichtiger Stein im Mauerwerk – das Fundament ist ausschlaggebend für die Stabilität des Gebäudes, sonst würde es zusammenstürzen."

"Laufburschenarbeit ich war nicht mal Maurer, wenn wir schon im Bilde bleiben wollen. Man wird mich in der Luft zerreißen, falls ich überhaupt wahrgenommen werde."

"Das Iran-Contra-Geschäft", sagte ich, um ihn ein wenig aufzumuntern. "Eine Tat von historischer Bedeutung, wenn sie auch in die Hose gegangen ist, weil ein paar Plappermäuler sich wieder mal zu wichtig vorkamen. Ohne deine Hilfe wäre sie ein Torso geblieben. Na gut, vergessen wir lieber, was die Öffentlichkeit darüber denkt, das alles setzt politisches Urteilsvermögen voraus – Abwägen von Vor- und Nachteilen."

"Ich spielte nur eine ganz unbedeutende Rolle dabei. Ich hielt die Lampe, sozusagen."

"Meines Wissens warst du sogar mal als Dolmetscher bei einem Geheimtreffen mit Ortega im Gespräch? Als die Contras ihre Waffen niederlegen sollten?"

"Nur weil ich akzentfrei spanisch spreche", sagte er geschmeichelt. "Sie brauchten dringend einen Neutralen. Die Amerikaner waren dem Commandante nicht gut genug, aber dann wurde der Kuhhandel abgeblasen. In der Öffentlichkeit gab es Gerüchte, und die beste Übersetzung taugt nicht mehr viel, wenn das Ergebnis schon ein paar Tage vorher in den Zeitungen zu lesen war."

Es klang, als habe die internationale Politik nicht genügend Rücksicht auf den Wert seiner Übersetzung genommen. Wir sind alle unverbesserliche Egozentriker, die Weltgeschichte sollte sich nur um uns allein drehen, aber womöglich tut sie das ja auch.

Ich nahm eines der angestaubten Bücher vom Stapel, eine ältere Ausgabe von Nabokovs Lolita, und blätterte darin. Hinter der ersten Seite von "Zweiter Teil" waren drei hauchdünn mit Bleistift geschriebene Zahlen zu lesen. Man musste sich anstrengen, um sie im Licht der Wandlampen entziffern zu können: zweiundneunzig, einundvierzig, achtzig …

"Immer noch die alten Methoden der Informationsübermittlung, Jakob?"

Er machte eine wegwerfende Handbewegung, als sei mein Spott ganz unangebracht. "Es gibt modernere Wege heutzutage. Satelliten-Richtfunk auf schwer zu knackenden Trägerfrequenzen um 15 GHz. Fingernagelgroße Chip-Speicher, die sich selbst zerstören würden, wenn ein Unbefugter sie in die Finger bekäme. Ein Messauge auf der Erde liest, was per Laserstrahl von einem Satelliten weitergegeben wurde, der wiederum ein tennisballgroßes Stück Information auf der Erde analysiert, das, mit einer entsprechend codierten Markierung versehen, ganz einfach irgendwo in die Landschaft geworfen wurde – darauf läuft die Entwicklung hinaus, Adrian. Man schmeißt eine leere Zigarettenschachtel aus dem fahrenden Zug, und der Kontakt ist hergestellt. Dann setzt man sich wieder in den Speisewagen und genießt sein Soufflé. Aber dies hier", sagte er und klopfte so heftig auf den Bücherstapel unter der Leiter, dass Staubwolken aufflogen, "ist nun mal die gute alte Klassik."

"Wie steht's mit einem Kaffee im Omartje?"

"Als Bestechung?" Ein vielsagendes Lächeln zog über sein Gesicht, das schlitzäugige Grinsen des orientalischen Basarhändlers, und ein großer orientalischer Basar war diese Stadt ja schließlich auch. "Keine Sorge, wir werden uns bestimmt handelseinig."

"Großer Gott", seufzte ich. "Ich dachte eigentlich, ein Kaffee würde reichen?"

Er griff nachdenklich ins Regal, als spiele er mit dem Gedanken, sein Marihuanapfeifchen anzuzünden – die altbekannte Verzögerungstaktik, um den Kaufpreis hochzutreiben. Dann schüttelte er den Kopf, nahm ein zusammengefaltetes Blatt aus dem großen Bildband am unteren Ende des Stapels und steckte es bedeutungsvoll grinsend ein. Ich bekam nur mit, dass es wie ein Grundriss aussah. Seine Wangen hatten eine frische, rosige Farbe bekommen. Es war wie in guten alten Zeiten. Geheimdienstarbeit regt die Blutzirkulation an.

"Lass uns erst mal an die frische Luft gehen, Adrian, hier drinnen verrottet mein Gehirn."

Wir gingen die Gracht an der Bibliothek entlang und bogen in die ruhigere Huidenstraat ein. Beil hatte einen dünnen braunen Ziegenledermantel übergeworfen, er verdeckte vorteilhaft seinen Bauchansatz, darunter war sein blauer Arbeitskittel zu erkennen. Gegenüber auf der Insel sah man die erleuchteten Fenster der Lesesäle. Das Universitätsgebäude mit seinen angeketteten Fahrrädern lag hinter uns, und die Straßen wurden leerer. Dafür waren die Bäume und Vordächer voller Möwen – ihre Schreie gingen mir auf die Nerven.

"Man munkelt, sie hätten einen Mann im Allerheiligsten", sagte er plötzlich in das Geschrei der Möwen hinein.

Ich blieb stehen und blickte mich nach den Passanten am Brückengeländer um. Ein junges Pärchen, das abwechselnd an derselben Zigarette rauchte. Er war mindestens einsfünfundneunzig groß und überragte das Mädchen um fast zwei Köpfe. Als sie fertig waren und die Fahrbahn überquerten, schnippte er seinen Joint nach den Enten, die unten auf dem dunklen Wasser schwammen.

"Wer ist 'sie' und wer ist 'man'?"

"Vor vier Tagen kam was über den Ticker. Du erinnerst dich an den altersschwachen Fernschreiber, den wir für die sogenannten 'Buchbestellungen' verwendet hatten? Er ist immer noch im Einsatz, nur dass jetzt wirklich bloß noch alte Schwarten damit bestellt werden. Mogadischu, Kairo, Gütersloh – die Van-Aaren-Bibliothek beschafft Ihnen jedes Druckwerk, Pornos und Aktfotografien ausgenommen. Das ist ein Service des Hauses, den sich der alte Aaren in den fünfziger Jahren höchstpersönlich einfallen ließ, um sein schlechtes Gewissen wegen seiner internationalen Waffenschiebereien zu beruhigen. Er dachte wohl, Bücher seien was Seriöses."

"Über den Ticker?", fragte ich. "Ist das nicht ziemlich leichtsinnig?"

"Galt einer Adresse in Zandvoort. Leichtsinnig wär's nur, wenn es jeder hergelaufene Meisterspion dechiffrieren könnte. Es war wie in alten Zeiten als Bestellung aufgemacht. Nur dass man dabei eine winzige, aber aufschlussreiche Kleinigkeit übersehen hatte."

"Die wäre?"

"Reykjavik."

"Reykjavik, aha."

"Na, fällt bei dir der Groschen, Addi?"

"Nein. Spann mich nicht auf die Folter, Jakob."

"Hat dir denn noch keiner gesteckt, dass Simons' Buchladen schließen musste?"

"Ich befasse mich schon lange nicht mehr mit der isländischen Verbindung."

"Dann allerdings. Es gibt wohl noch mehr Leute in der Firma, die unsere gute alte isländische Verbindung aus den Augen verloren haben. Simons starb vorigen Herbst an Altersschwäche, mit achtundsiebzig Jahren."

"Was du nicht sagst? Sah man ihm gar nicht an, als ich ihn vor drei Jahren in Monte Carlo traf. Da war er noch so fit, dass er zweimal wöchentlich am Barren turnte."

"Diese Nordländer wirken immer, als würden sie mühelos hundert Jahre alt. Wegen ihrer strohblonden Haare. Dann kommt ein langer strenger Winter "

"Irgendwas war also faul an der Nachricht?"

"So faul wie Simons in seinem Sarg, Addi, wenn ich mal einen etwas unappetitlichen Vergleich ziehen darf. Reykjavik bestellte was bei uns, aber Reykjavik ist längst von der Liste gestrichen. Also nahm ich mir den Text zur Brust. Jagte ihn durch sämtliche bekannten Dechiffrierroutinen. Ich brauchte dabei nur aus meinem riesigen Fundus zu schöpfen." Er tippte sich bedeutungsvoll an die Stirn. "Sie hatten mir gesagt, ich könnte ruhig vergessen, was ich wüsste. Es sei Schnee von gestern. Beschränk dich ganz auf den Buchversand, Beilda wollen wir dich haben, da bist du am richtigen Platz. Nur, Beil-Kindchen hat noch lange nicht vergessen, was hier oben schlummert. Sollte doch mit dem Teufel zugehen, wenn sie damit nicht meine Neugier herausforderten. Warum Island, wenn Island out ist, Addi? Was steckte dahinter? Wen wollten sie damit verscheißern? Mich doch wohl nicht. Ich sitze hier und packe Bücherkisten aus."

"Klingt alles ganz plausibel", bestätigte ich.

"Also machte ich mir ein paar Gedanken darüber."

"Wie jeder an deiner Stelle."

"Ich dachte in aller Ruhe darüber nach."

"Sollte man, Jakob, sollte man Wir sind schließlich keine Postboten."

"Und genau dazu wollten sie mich machen, Adrian. Zum Briefträger. Also zeigte ihnen der alte Beil mal, was 'ne Harke ist. Drei Stunden Arbeit, und der Text lag vor mir wie ein offenes Buch. Ich hatte die Bestätigung an eine Adresse in Zandvoort weiterzuleiten, in chiffrierter Form, aber nach einem anderen Code. So geht man immer vor, aus Sicherheitsgründen. Die alte Version wird vernichtet oder als Notiz mit dem Stempel ERLEDIGT abgelegt – nachdem man aus Alibigründen die Bestellung ausgeführt hat, versteht sich. Um neu zu chiffrieren, muss man lediglich rechnen können, Tabellen vergleichen und nicht das geringste von der Nachricht selber verstehen. Aber diesmal verstand ich genau, was ich in den neuen Code übertrug."

"Unser Mann im Allerheiligsten?"

"Diesmal verzichtete ich darauf, dem alten Simons ein Buch über Moskauer Museen zu schicken. Einen architektonischen Schinken voller Gegenlichtaufnahmen und beleibter russischer Lehrerinnen, die ihren Schülern eine Lektion in Stadtgeschichte geben." Beil lächelte triumphierend. "Er hätte es ja doch nicht mehr zu den anderen ins Regal werfen können, um es irgendwann im internationalen Leihbuchverkehr auf die Reise zu schicken."

"Du willst sagen, wer einen Absender fingiert, der gar nicht mehr existiert, hat etwas zu verbergen, Jakob?"

"Und ob ich das sagen will."

"Da Simons den Auftrag nicht angenommen haben kann, wird er auch niemals etwas über seinen wirklichen Absender ausplaudern können?"

"Und was sagt uns das, Addi? – Sie sind noch vorsichtiger als sonst. Und warum sollten sie noch vorsichtiger sein? Weil es ein heißes Eisen ist."

"Ein Russe, Jakob?"

"Russe, Georgier – spielt das eine Rolle?"

"Was sagen die Auguren? Hat er ein Gesicht?"

"Wenn er eins hat, Adrian, dann ist es das am besten gehütete Geheimnis der Welt."

"Verrate mir nur, ob aus dem Politbüro – oder einer der Kandidaten? Oder vielleicht aus dem ZK? Ich nenne einfach ein paar Namen: Witalij Worotnikow, Wadim Medwedew, Nikolaij Sljunkow? Jurij Solowow? Georgij Rasumowski? Viktor Tschebrikow oder Alexander Jakowlew?"

"Viel zu hoch angesetzt. Ich würde unseren Mann nicht in der Führungsspitze suchen. Das wäre natürlich eine Sensation. Er scheint bei Gorbatschow ein und aus zu gehen. Putzt er ihm die Schuhe, klopft er seine Teppiche? Ob man ihn zu seinen engsten Vertrauten zählen darf, ist fraglich. Aber er sitzt an der Quelle. Er bekommt mit, was gesagt wird. Er bedient den Fernschreiber und die Tonbandgeräte – oder arbeitet in der Nähe. Es gibt keine Geheimnisse vor ihm. Er ist vertrauenswürdig. Vielleicht einer seiner Zuarbeiter, der sich den Schlüssel zu den Aktenschränken um den Hals gehängt hat."

Beil blieb vor einem kleinen Antiquitätenladen stehen. Sein Schaufenster lag unterhalb des gepflasterten Gehwegs. Ein rostiges Geländer sperrte den Treppenschacht ab, damit niemand durch einen unvorsichtigen Schritt in die Tiefe stürzen konnte, und er hängte seinen vorgewölbten Bauch darauf und blinzelte nachdenklich in das Gewirr der Taschenuhren, Bilder und Puderdöschen hinab.

"Die da wäre nicht schlecht."

Ich folgte seiner ausgestreckten Hand, sie deutete auf eine goldgerahmte Miniatur, kaum größer als ein Handteller. Plötzlich begriff ich, dass er mich nur in diese elende Gegend geführt hatte, um mir zu zeigen, was er als Gegenleistung erwartete. Auf dem hölzernen Rückwandsockel stand ein Emailleschild mit der Aufschrift: Jan BormannSpezialist für alte Miniaturen.

Beil sammelte das Zeug seit seinem vierzigsten Lebensjahr (ungefähr der Zeitpunkt, an dem er sich selbst und den Rest der Welt aufgegeben hatte). Er und Luise breiteten ihre Reichtümer abends auf den Sesseln und Tischen aus, um sie mit van Goghs Werken zu vergleichen. Van Gogh war ihr künstlerischer Kontrahent, das Malergenie, an dem sich ihr Widerspruch entzündete. Seine blinden Originale konnten einfach nicht mit der Farbenpracht von Beils Miniaturen konkurrieren. Er hatte ein Stück mit rotem Ziegeldach und drei krummen Erlen ausgesucht. Über den Bach vor dem schiefen Häuschen, das aussah, als würde es gleich unter der Last seines Dachs zusammenbrechen, spannte sich die Miniaturausgabe einer weißen Zugbrücke. Irgendwo im Bild war auch ein Schaf zu sehen, aber etwas zu klein und zu weit weg, um es genau erkennen zu können.

"Kostet?", fragte ich.

Er zuckte die Achseln und bog wiegenden Schritts um das Geländer. Unten angekommen, winkte er mir mit krummem Zeigefinger zu. Im Hintergrund brannte eine grüne Glaslaterne, und nicht weit vom Durchgang zum Lagerraum, der mit zwei ungeöffneten Holzkisten verstellt war, bewegte sich die Silhouette eines alten Mannes. Ich nahm an, dass er alt war. Er trug einen etwas zu weiten Anzug, der längst aus der Mode gekommen sein musste, dem vorsintflutlichen Schnitt nach zu urteilen, und seine gedrungene Gestalt und sein kahler, wie aus Stein gehauener Kopf machten nicht den Eindruck, als wenn er mit sich handeln ließe. Handeln kann man nur mit jüngeren Verkäufern, am ehesten mit denen, die manchmal zur besten Geschäftszeit ihren Laden abschließen und auf einen Sprung hinüber ins Rotlichtviertel gehen, um sich eine Live-Show anzusehen.

"Zweihundertfünfzig – wir gehen auf keinen Fall höher als zweihundertfünfzig", versuchte er mich zu beruhigen. "Für einen alten Spittelmann ist das ein Spottpreis."

"Spittelmann? Nie gehört den Namen."

"Spittelmann ist im Kommen."

"Also gut, packen Sie's ein", murmelte ich gedankenverloren.

"Bitte?" Er blieb stehen, den Türgriff in der Hand und äugte zum mir herüber, als sei ich nicht ganz bei Trost.

"Hab nur geübt."

"Na gut, Konzentration jetzt "

Er drückte die Tür auf, und irgendwo tief drinnen in den Spinnweben bimmelte die obligatorische Klingel für alte Leute. Jeder faire Geschäftsmann mit Sinn für zeitgemäße Ladenausstattung hätte sich längst eine elektronische Türglocke zugelegt. Ich will nicht knickrig erscheinen, aber diese alten Leutchen hängen an ihren Habseligkeiten wie die Insassen eines Altersheims. Er würde fünfhundert verlangen und nach vielem Hin und Her auf vierhundert heruntergehen, das spürte ich, so wahr mir Gott helfe.

"Also bitte, Adrian "

Seine Stimme klang noch ungeduldiger als die Margrits, wenn ich nach Feierabend in meinem Arbeitszimmer Zeitungsausschnitte sortierte. Ich folgte Beil zögernd zur Stätte der Hinrichtung. Es war eine Ladenkasse aus purem Messing, metallgewordenes Ornament. Die elfenbeingefassten Tasten sahen wie kleine Folterwerkzeuge aus. Obenauf lag ein Stapel unbezahlter Rechnungen. Ich nahm an, dass sie unbezahlt waren. Mag sein, dass ich meinen geizigen Tag hatte oder dass ich fürchtete, ausgeraubt zu werden. Vielleicht war alles nur eine fixe Idee. Aber irgendwie lag der Geruch von Nepp und Kommerz in der Luft.

"Addi – was ist los mit dir?"

Er stieß mich an. Es war, als wenn ich aus meiner Trance erwachte.

Sie hatten das Bild gemeinsam aus dem Fenster geholt (eine manuelle Meisterleistung), und Bormann hielt es jetzt in den gewölbten Händen wie einen kostbaren Schatz. Er hatte eine Stange mit Drahtzug und Zange benutzt, während Beil ihm sekundierte, indem er mit der Linken den Glasturm voller Tablettendöschen und mit der Rechten eine abgeschlagene Schaufensterpuppe hielt. Die Puppe war aus gestrichenem Gips und trug den Kopf Kaiser Wilhelms II., sein Helm dagegen schien von einem deutschen Wachtmeister der Jahrhundertwende zu stammen.

"Ein echter Spittelmann", sagte der Alte. "Eitempera auf Holz. Sie können sicher sein, dass es noch in vierhundert Jahren "

"Hm, ja. Wie viel?"

"Vierhundert."

"Nein, ich meine den Preis."

"Das ist der Preis, mein Herr."

Beil zwinkerte mir aufgekratzt zu, seine Wangen leuchteten wie nach dem Genus von zuviel Glühwein. Er war das glücklichste Geburtstagskind in der Stadt, und dort gibt es weiß Gott noch ein paar andere Glückliche.

"Zweihundert. Das ist mein äußerstes Angebot."

"Also gut, zweihundert." Er sah mich aus seinen treuen, leicht wässrigen Altmänneraugen an. Sein Lächeln war so unmerklich, dass man es auch als gute Laune deuten konnte. Ich biss mir auf die Unterlippe. Ich war ihm leichter in die Falle gegangen als ein blutiger Anfänger, und dabei hatte ich das unangenehme Gefühl, dass mich auch seine winzigen Leberflecken und Sommersprossen um die Augen arglos anlächelten.

"Also gut, packen Sie's ein."

"Ein echter Spittelmann. Sie werden's nicht bereuen."

"Ich weiß, Spittelmann ist im Kommen."

Schafspelz

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