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Als ich nach München zurückkehrte, war ich so klug wie am Anfang. Ich tappte weiter im dunkeln. Vielleicht glaubte Sehlen ja, Orientierungslosigkeit sei kein Beinbruch, und ich hätte Gott sogar dafür zu danken, dass ich nicht alles wusste?

Es gibt diese Weltenturner, die sich auf allen möglichen Drahtseilen bewegen, ohne etwas von der Tiefe und den Abgründen unter sich zu ahnen, und bei ihren dumpfen Spielen auch noch Spaß empfinden. Ich für meinen Teil habe immer danach getrachtet, mich zu orientieren, und ziehe eine Straßenkarte dem Umhertappen in der Finsternis vor.

Er sagte, unsere Operationsbasis sei wie gewöhnlich die bayerische Landeshauptstadt. Zandvoort, Brüssel und Amsterdam nur ausnahmsweise. Weshalb und warum, darüber schwieg er sich aus. Er hatte mich beauftragt, eine Sammlung aller Artikel über Gorbatschows neue Politik zusammenzustellen, die mir in die Finger kämen.

"Authentisches Material, Amb, keine Schmierereien aus zweiter Hand. Ich komme Sie und Ihre Frau in München besuchen, sobald ich ein paar Stunden erübrigen kann. Richten Sie ihr meine besten Grüße aus."

Der Gedanke, er könnte mir und Slava ein ganzes Wochenende auf die Nerven gehen, versetzte mich in düstere Stimmung. Dass er Margrit auf die Nerven ging, hielt ich für ausgeschlossen. Besuch ging ihr so gut wie niemals auf die Nerven, am wenigsten, wenn sie einen aufmerksamen Zuhörer erwartete. Sehlen würde der aufmerksamste Zuhörer des Jahrhunderts sein.

Ich konnte ihm seinen Besuch nicht gut abschlagen. Es wäre unhöflich gewesen, eine offene Kampfansage, die weit über unsere Wortgeplänkel hinausging.

Außerdem wusste er von Forum, dass ich den größten Teil des politischen Materials in meiner Wohnung aufbewahrte. Es war weder brisant, noch unterlag es irgendeiner Geheimhaltung.

Er würde sich ein paar Mappen Zeitungsausschnitte zeigen lassen und dann mit Margrit über die quietschende Wendeltreppe im Esszimmer verschwinden. Keine Gefahr, Margrits sexueller Appetit könnte auf dem geblümten Sofa am Fenster unerwartet ins Kraut schießen! Da fürchtete ich schon eher ihren unverhohlenen Drang nach Aufstieg und Beförderung. Wenn sie erst einmal beim Thema angelangt war, brachte sie selbst einen ausgetrockneten Flusskiesel dazu, ein paar Tränen des Mitleids abzusondern. Sie konnte hysterisch und autoritär sein. Alles nacheinander oder zusammen, ganz wie es die Situation erforderte.

Und danach, wenn das Tete-á-tete beendet war und Sehlen zum x-ten Male beteuert hatte, dass er sich bei Forum für meine Beförderung zum Großmogul der vereinigten westlichen Dienste verwenden wollte, würde er sich auf der Stelle in Slava verlieben.

Schon aus taktischen Gründen. Weil es nützlich war, sich die Tochter eines wichtigen Mitarbeiters gefügig zu machen. Nach dem Motto "Abhängigkeit und Rücksichtnahme". Unser Gewerbe ist nun mal ein Geschäft von Beziehungen. Darin unterscheidet es sich kaum vom übrigen Leben, sieht man einmal davon ab, dass unsere Stärken und Schwächen noch ein wenig deutlicher hervortreten. Wenn man zwischen Wölfen und Schafen unterscheiden will, würde ich mich immer auf die Seite der Wölfe schlagen, und nicht etwa bloß aus Opportunismus. Forum hätte sicher den Ausdruck Loreleigesinnung vorgezogen. Von Wölfen redete er lieber, wenn es um die Gegenseite ging. Die Schöne, die ihr güldenes Haar kämmte und alles ins Verderben stürzte – nur dass sich keiner unserer Wölfe wie sie selbst zum guten Ende hinterher stürzen würde, weil er so dem Fluch entkam.

Ich habe keine Skrupel, einen Doppelagenten ans Messer zu liefern, das gehört zum Geschäft, aber in der Praxis ziehe ich es vor, die Sache aus sicherer Entfernung zu beobachten und mir meine Gedanken zu machen. Die Analyse liegt mir mehr als blutige Zweikämpfe.

Das Wohnzimmer war dunkel, so dunkel wie meine Einblicke in Sehlens Pläne; nur über der Wendeltreppe schimmerte noch Licht. Ich versuchte auf den Treppenstufen kein Geräusch zu machen, aber das war so gut wie ausgeschlossen. Sie quietschten bei jedem Schritt und versetzten das eiserne Gestell mitsamt der Zimmerdecke in Schwingungen

"Bist du es, Adrian?"

Ich mochte ihre Stimme nicht, sie klang immer ein wenig zu laut und schrill; sie war jedem Zweck immer auf vollkommenste Weise unangemessen.

"Wer sonst, Liebling? Der böse Wolf wird dich nicht holen, und Slava ist auf dem Wohltätigkeitsball."

"Das dumme Kind sollte sich lieber in der Schickeria umsehen, anstatt Pakete zu packen und Rotznasen zu putzen."

Ihre Stimme hatte jetzt jenes klagende Timbre in den Obertönen, das die Schakale am Wüstenrand anstimmen, um es bis zum markerschütternden Geheul zu steigern, bevor sie beim Mondschein auf Aassuche gehen. (Ich weiß, ich bin ihr gegenüber nicht gerecht; wir haben uns in den zweiundzwanzig Jahren unserer Ehe nie wirklich gestritten, und sie hat mich nie ernstlich verletzt. Es sind die Kleinigkeiten, die einen zermürben: der kaum merkliche Missklang, die falsche Oktave.)

"Auch Mildtätigkeit kann Vergnügen bereiten, Liebes. Außerdem hat sie schon einen Boxkurs belegt." Ich steckte meinen Kopf durch die Öffnung der Wendeltreppe und sah Margrit unter der Dachschräge am Tisch sitzen. Sie saß in jener charakteristischen Weise da, bei der die Beine gestreckt sind und der Körper vorgebeugt ist, aber dabei kerzengerade angewinkelt, als sei er ein halbgeöffnetes Taschenmesser.

"Es geht nicht um ihr Vergnügen, Adrian. Es geht um ihre Zukunft."

"Ihr Vergnügen und die Zukunft."

"Noch ist die Zukunft hauptsächlich in unseren Köpfen, sie will geplant werden."

Ihr Bleistift bohrte sich wie eine Waffe in das Zahlenfeld, das unsere Haushaltsabrechnungen waren – undurchschaubare Listen, so lang und hieroglyphisch wie Gas- oder Stromabrechnungen.

Die aufgearbeiteten Blätter lagen links von ihr, der Stein des Anstoßes rechts. Er bestand aus einem Stapel engbekritzelter Seiten. Mindestens drei davon galten dem Kostenfaktor "Herbert". Sein Name geisterte durch den Raum wie eine Aura, die plötzlich von der Schwerkraft erfasst worden war und sich träge auf das Mobiliar herabsenkte. Es würde ein langer Abend werden.

"Weißt du, dass wir fast bankrott sind, Adrian?"

"Nein."

"Dann solltest du mal einen Blick auf unsere Kontoauszüge werfen."

"Hab ich bei der Abfahrt nach Holland getan."

"Und? Wie war dein Eindruck?"

"Wir liegen ganz gut im Rennen. Keine Schulden, solider Kontostand. Wir könnten einen Zweitwagen anschaffen, wenn wir wollten."

"Doch nicht etwa für Herbert?" Jetzt klang ihre Stimme wieder so, als habe ihr jemand einen unsittlichen Antrag gemacht. Ich sah ihre strengen Augen und die tiefen Falten, die einmal Krähenfüße gewesen waren, und dachte daran, dass Slava weder auf Margrit noch auf mich herauskam. Vielleicht war sie gar nicht unser Kind. Die einzige Schönheit in der Familie.

"Das würde ihn etwas vom Hitchhiking abhalten."

"Ihr und euer Hitchhiking."

"Sei bitte nicht ungerecht", sagte ich beschwörend. "Wir haben oft genug darüber gesprochen, dass ich seine Ausflüge verurteile."

"Sie sind unnütz und teuer."

"Man kann ihn nicht einsperren."

"Aber er ist eingesperrt."

"Weil er selbst darum gebeten hat. Das ändert sich alle drei Tage."

"Du stehst nur auf seiner Seite, weil es dein Zwillingsbruder ist. Du bist zu nachsichtig mit ihm, Adrian. Er starrt den ganzen Tag lang die Decke an. Nicht mal sein Psychiater behauptet, dass Depressionen unheilbar sind."

"Er ist seit seinem zwanzigsten Lebensjahr depressiv. Wenn es zu ändern wäre, hätte man ihn längst geheilt."

"Ich glaube, er ist nur autistisch."

Sie wollte sagen: willentlich autistisch, falls es das gab. Aus Bequemlichkeit und weil es billig und unproblematisch war für jemanden, der wie er die Menschen verachtete, weil sie ihre Schönfärbereien sich und anderen gegenüber als Wahrheit ausgaben.

"Darüber möchte ich mir kein Urteil anmaßen", sagte ich bedächtig. Ich wusste, dass sie Bedächtigkeit verabscheute.

"Meiner Überzeugung nach lässt er sich einfach bloß hängen, Adrian. Er lebt hier auf unsere Kosten, wird von hinten bis vorn bedient und macht Ausflüge, wenn ihm wieder mal die Sicherungen durchbrennen."

"Anhalterei kostet nicht viel."

"Aber sein Rücktransport. Vor drei Wochen hat Slava vierundachtzig Piepen fürs Taxi bezahlt. Es ist das Zigeunerblut in euren Adern", meinte sie nachdenklich und warf mir einen abschätzigen Blick zu. "Deine Familie muss sich irgendwann einen genetischen Defekt eingefangen haben."

"Lass uns noch ein Gläschen Wein trinken, Margrit, das wird unsere Laune heben."

"Nehmen wir nur deine Arbeit."

Wir waren beim Thema angelangt. Sie schaffte es immer wieder mit schlafwandlerischer Sicherheit, das Gespräch auf den Sinn von Geheimdienstarbeit zu bringen. Ich bewegte mich unauffällig die Wendeltreppe hinunter (soweit eine derartige Treppe das überhaupt zulässt).

"Ach, übrigens, hatte ich schon erwähnt, dass Sehlen uns besuchen wird?", fragte ich, als ich unten im Salon stand.

Sie kam an die oberste Stufe und sah neugierig zu mir hinunter.

"Was denn, das Ungeheuer?"

"Er ist gar nicht so schlimm, wie man behauptet. Er wird mir immer sympathischer."

"Du hast dich noch mit jedem arrangieren können, Adrian."

"Ich versuche nur, objektiv zu sein."

"Und wann?"

Damit wollte sie in ihrem unaustreibbaren Hang zur Kurzform sagen, wann ich das jemals ernsthaft versucht hätte. Es war eindeutig als Provokation gemeint. Sie versuchte eine Verbindung herzustellen zwischen meinem Faible für das, was man "Fakten" oder "Tatsachen" nannte, und dem, was sie selbst so gern als meinen "mangelnden Ehrgeiz" bezeichnete, mein angebliches Verlangen, mich mit einer untergeordneten Stellung zu begnügen.

Aber um des lieben Friedens willen beschloss ich, es auf etwas andere Weise zu verstehen:

"Am Wochenende, Schatz. Sehlen bleibt bis Sonntagabend, und wir sehen gemeinsam das Material aus meiner Sammlung durch."

"Ihr und eure Kriegsspiele "

Als ich Herberts Tür passierte, hob ich meine Hand, um die Klinke zu drücken – aber vermutlich saß er wieder in zwei oder drei Metern Entfernung davor und starrte die Türfüllung an. Nicht, weil er ein Geräusch gehört hatte und Besuch erwartete, sondern weil es seine "Passion" war. Wenn ich öffnete, würde er mir zwangsläufig in die Pupillen sehen.

Der Anblick seiner melancholischen Augen versetzte mir immer einen Stich. Bis auf seinen Trübsinn glichen wir uns wie ein Ei dem anderen. Wahrscheinlich war es genau diese Ähnlichkeit – das Gefühl, in den Spiegel zu blicken –, das mir dabei zu schaffen machte.

Schafspelz

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