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ОглавлениеVon der fahrenden Tram aus sah ich plötzlich Slava in der Menschenmenge. Sie war so unaufdringlich hübsch wie immer, vielleicht lag es daran, dass sie ihr Aussehen als etwas ganz Natürliches betrachtete – nichts, dessen man sich rühmen konnte.
Ich versuchte ihr zuzuwinken. Aber sie trug eines jener großen, in geblümtes Geschenkpapier eingewickelten Pakete, die für den samstäglichen Wohltätigkeitsball bestimmt waren. Es versperrte ihr fast die Sicht, und das Gedränge brachte sie dazu, vor der Kreuzung in eine ruhigere Seitenstraße abzubiegen.
Das Schütteln der Bahn, die Wärme aus den Heizlüftern, der Gestank des Elektromotors, dem durch die undichten Bodenplatten Schmieröldämpfe entwichen – das alles brachte mich dazu, an der nächsten Haltestelle auszusteigen. Ich hatte das Bedürfnis, mich abzulenken. Die Begegnung mit Quand war mir auf den Magen geschlagen.
Im Metropol lief ein uralter Fernandel-Film. Ein starkes Gebiss und dazu das passende Grinsen waren genau die Ablenkung, die mir fehlte. Aber eine dumpfe Ahnung sagte mir, dass Sehlen uns noch an diesem Samstagabend heimsuchen würde. Er hatte von einem der kommenden Wochenenden gesprochen. Eine vorsichtige Umschreibung dafür, dass es bei nächster Gelegenheit passieren würde.
Er wusste, dass ich mein Familienleben nicht mit meiner Arbeit belasten wollte. Aber durch Quands Pensionierung würde er genügend Anlas haben, meine Angelegenheiten in Margrits Augen zu seinen eigenen zu machen.
Er würde über Beförderungen reden. Wer dafür in Frage kam und wer als nächster seinen Hut nehmen musste. Dann – taktisch geschickt – über den eisernen Besen, der durch die Organisation fegte. Über die politischen Hintergründe, ihr Für und Wider. Und er würde das alles an irgendwelchen Gesinnungen festmachen, an ideologischen Überzeugungen. Mit dem Instinkt des geborenen Psychologen (oder Jägers? – falls Psychologe und Jäger dabei nicht aufs gleiche herauskam) ahnte er, dass ich bisher nie mehr als meine Arbeit getan hatte.
Er nahm an, dass ich ein verirrter Waggon war, ein Wagen, der irgendwann an einem abgelegenen Güterbahnhof aufs Abstellgleis geraten sein musste, und er wusste, dass ich mich in meiner Rolle wohl fühlte. Der Gedanke, den Rest meiner Tage in Ruhe gelassen zu werden und vor mich hin zu rosten, hatte nichts Beängstigendes für mich.
Ich brauchte keine Selbstbestätigung. Erst recht keine, die nur durch eine Arbeit am falschen Platz zu erlangen war.
Sehlen würde Margrit willig darin zustimmen, dass über zwanzig Jahre "Versteinerung" (ihr Lieblingsausdruck) eines Mannes mit meinen Fähigkeiten unwürdig waren. Damit meinte sie: bis zur Pensionierung, falls es mich nicht wie Quand schon früher erwischte. Aber um nicht sein Leben lang Schimären nachzujagen, musste man wie ich den Wechsel in den Führungsetagen erlebt haben, das Auf und Ab der Meinungen. Man musste unsere Arbeit als genauso dem Geschmack und Zufall unterworfen sehen wie die letzte Hut- und Anzugmode.
Ich erinnere mich eines Gesprächs mit Forum während unserer Bergwanderungen in den Alpen. Damals pflegten wir mindestens einmal im Monat mit Tagesrucksack, Proviant und Regenmantel in die Berge aufzubrechen, um, wie er vorschlug, etwas räumliche Distanz zu gewinnen. Forum betrachtete mich als seinen engsten Vertrauten, und mir gefiel es, dass niemand außer uns beiden etwas von meiner führenden Rolle ahnte. Er gestand mir, dass er unser Faible für Geheimdienstarbeit weder als Hang zur Macht noch als ideologisches Sektierertum betrachte, geschweige denn als politische Sendung (es war weiß Gott ein Geständnis und im Kreis der Eierköpfe nicht weniger verpönt als das Mitbringen von Essensbehältern).
Wir waren an einer Hütte unter dem Gipfel der Benediktenwand angekommen. Er setzte sich neben mich ins Gras und sagte: "Es ist schlichtweg Abenteurertum, Adrian. Der alte Hang, fremde Welten zu entdecken. Nehmen Sie den Unterhaltungseffekt weg, das Kribbeln in der Leistengegend, wenn's nachts am Stadtrand von Warschau zur Sache geht, und kein Mensch reißt sich mehr darum, im Außendienst zu arbeiten." Er zeigte hinunter auf die Seilbahn. "Wir sind Legionäre, und da es kaum noch wirkliche Kampfschauplätze gibt, nur noch öde Militärcamps, in denen die Langeweile grassiert, begnügen wir uns mit Ersatzfronten. Die Vorstellung, das Seil könnte reißen, macht die Fahrt erst interessant."
Wenn er wirklich dieser Meinung war, fragte ich mich, wo jetzt eigentlich jene so sprichwörtliche Kumpanei blieb – die Offenheit, die Kameradschaft –, die eine verschworene Gemeinschaft wie Söldner und Legionäre auszeichnet, wenn sie überleben will. Er schickte mich in irgendein Himmelfahrtskommando, aber ohne genaue Karten. Ja, nicht einmal das Ziel der Operation war mir bekannt. Den Gegner töten? Seine Frauen vergewaltigen? Oder war es erlaubt, Gnade walten zu lassen?
Als ich die Haustür aufschob, hörte ich von oben Gelächter. Es war das amüsierte Lachen Margrits.
Wenn sie amüsiert ist, klingt ihr Lachen immer wie der Angriff von Tieffliegern. Oder wie das Geräusch der Rotorblätter und Motoren beim berühmten Hubschrauberangriff auf ein vietnamesisches Dorf in Apocalypse now.
Der Anlass ist ungefähr derselbe: Wellenreiten … Unterhaltung. Im gefährlichsten Kampfgetümmel findet man noch Zeit, die Surfbretter auszupacken und in aller Ruhe seinem Vergnügen nachzugehen. Dass sie dabei Wagner liebte, den Walkürenritt der Filmmusik, war eine Parallele, von der nicht einmal der Regisseur etwas geahnt haben konnte.
Ich wusste, wie wenig mein Spott ausrichtete. Er half mir, über die Runden zu kommen, nicht mehr. Er war wie das Gemurmel eines betenden Mönchs, der niemals bis zum Ohr seines Gottes vordrang. Und ist das nicht unser aller Ziel? Auf irgendeine dubiose, von Selbsttäuschungen und Irrtümern verdrehte Weise über die Runden zu kommen?
Sehlens Kommentare klangen zwischen Margrits Auflachen wie die Beschwörungen eines Mannes, der ein wildes Tier zu bändigen versuchte, indem er ihm gut zuredete. Ich verstand nicht, was er sagte, aber die Tonlage lag bei "Verständigung, Sympathie". Sie saßen unter der Wendeltreppe. Sehlen hatte seinen Arm um Margrits Schulter gelegt. Auf dem Teppich vor ihm waren ein paar Blätter aus meiner Sammlung ausgebreitet.
"Adrian, schön, dass Sie kommen!" Er nahm seinen Arm herunter. "Ich habe einen Blick in Ihr Material geworfen – falls es Sie nicht stört? Ordentliche Arbeit, Kompliment."
"Sie waren in meinem Arbeitszimmer?"
"Dazu musste ich weder den Schreibtisch aufbrechen noch unter den Perserteppichen nach dem Zimmerschlüssel suchen", sagte er lächelnd. "Ihre Frau war so nett, mir behilflich zu sein."
"Sie bringen meine Sammlung in Unordnung, ist Ihnen das klar, verdammt noch mal?"
"Ordnung, das halbe Leben, Adrian … Ich werde Ihnen beim Einsortieren helfen. Nun machen Sie nicht so ein Gesicht. Die Seiten hier auf dem Boden würde ich gern kopieren, wenn Sie einverstanden sind?
Ob Gorbatschows Wirtschaftspolitik scheitert, das ist doch wohl nach der Analyse unserer Finanzfritzen der Dreh- und Angelpunkt, oder? Er kann noch soviel über Freiheit und Pluralismus posaunen, für den Rubel muss es Apfelsinen und Bananen geben, sonst wird's kritisch. Stimmen wir darin überein?"
"Ist das wichtig für unsere Arbeit?"
"Die Dienste schreiben an so etwas wie einem historischen Roman, Amb. Und wir wollen doch auf dem Boden der Realitäten bleiben, oder?"
"Du solltest uns lieber Kaffee machen, Addi", sagte Margrit. Sie begann mit hektischer Röte die Blätter aufzuheben, als seien sie und Sehlen bei einer verfänglichen Situation überrascht worden, und das Peinliche daran werde nun dadurch aus der Welt geschafft, dass man die Indizien einsammelte. "Slava hat schon Wasser eingefüllt, du brauchst nur noch den Automaten anzustellen."
"Ist Slava denn zu Hause?"
"Sie musste gleich wieder weg – zur Wohltätigkeitsveranstaltung im Krüger-Zentrum."
"Ihre Tochter ist ein wahrer Engel", sagte Sehlen. Er griff hinter sich nach dem Likörglas.
Ich entdeckte jetzt erst, dass sie es sich mit meiner Flasche Cointreau gemütlich gemacht hatten. Wenn Margrit trank, lachte sie noch schallender als in nüchternem Zustand. Trotzdem versuchte ich mir nichts von meiner gereizten Stimmung anmerken zu lassen.
Ich dachte an den schlauen Grundsatz, dass das Maß der inneren Freiheit viel größer ist, als man gemeinhin wahrhaben will. Man muss die Freiheit wählen, sie existiert nur soweit, wie man sie tatsächlich praktiziert. Unfreiheit ist der Zustand vor der Wahl, und der Wechsel beginnt damit, dass man sich seine Möglichkeiten bewusst macht. Dazu muss man sich an vorausgegangene Erfolge erinnern können, ihr leuchtendes Beispiel vor Augen haben. Man muss aus dem Stand einen neuen Anfang machen … man kann schallendes Lachen ignorieren.
"Was ist los, Addi?"
"Ja, haben Sie nicht gehört, Amb, worum Ihre Frau Sie gebeten hat? Kommen Sie, trinken Sie erst mal einen Cointreau mit uns. Sie sind ja ganz durchgefroren. Wie versteinert. Das Klima scheint Ihnen überhaupt nicht zu bekommen?"
Ich setzte mich zu ihnen, und wir begannen gemeinsam die Flasche zu leeren. Ich brachte das Zeug immer aus Brüssel mit, weil es dort billiger zu bekommen war. Ein Freund schleuste es durch den Zoll, er bestach die Fahrer auf dem Flughafen. Aus einem Grund, über den ich noch nicht nachgedacht hatte, war es das einzige alkoholische Getränk, mit dem ich mich wirklich anfreunden konnte. Vielleicht lag es an der eigentümlichen Verbindung von herbem und süßem Aroma. Es wirkte wie ein belebendes Heilmittel auf mich, ein Aufputschmittel und Aphrodisiakum.
Zwischendurch verschwand Margrit in der Küche, um den Kaffeeautomaten anzustellen. Sie musste völlig vergessen haben, dass sie eigentlich mich damit beauftragt hatte.
Sehlen erkundigte sich, ob ich auch der Ansicht sei, dass Apfelsinen und Bananen für das sozialistische Lager von existentieller Bedeutung wären. Er balancierte seine Kaffeetasse auf den Fingerspitzen.
"Wir hier im Paradies wissen gar nicht mehr zu schätzen, was wir haben. Das ist unser größtes Manko: der Abnutzungseffekt. Wir schwimmen in Reichtümern und drohen, darin zu ertrinken, weil wir die Orientierung verloren haben. Ich gehe manchmal durch die Kaufhäuser, Amb, zwischen den beladenen Tischreihen hindurch – daraus mache ich mir einen Spaß –, und versuche mir darüber klarzuwerden, was das alles bedeutet. Videokameras, Radiorekorder, Taschenrechner, Quarzuhren, Computer, elektronische Übersetzungshilfen.
Eine Abteilung weiter belgische Trüffel, neuseeländische Avocados, französische Weinbergschnecken, chilenischer Rotwein.
Und je mehr ich in den Anblick dieser Feiertagserfindungen versinke, desto besser verstehe ich die leuchtenden Augen unserer armen Brüder in der Dritten Welt. Ein paar von unseren Kulturpriestern, die in Kritik machen – nach welchen Maßstäben eigentlich? frage ich Sie –, wollen uns die Freude daran verderben. Anbetung der goldenen Götzen, Sie wissen schon?
Aber sind alle diese Dinge denn nicht eigentlich Gott, Amb? Im besten, im einzigen Sinne? Wenn wir schon mal dabei sind, Theologie zu treiben. Verkörpern sie nicht das Höchste, was wir erreichen können? Ist der Rest nicht bloß schöne Rhetorik? Ein Spiel mit Worthülsen – Selbsttäuschung? Wenn nicht das, was dann eigentlich? Wozu ein armes Kind aus dem Brunnen retten, wenn es später als Erwachsener nicht mal an einem Swimmingpool irgendwo in Acapulco liegen und sich eisgekühlte Cocktails servieren lassen kann?
Etwa, um hehren Gedanken nachzugehen? Sich selbst davon zu überzeugen, wie unerhört sozial nützlich man ist?
Früher, als Kind, hatten viele Dinge eine ganz eigene Ausstrahlung für mich, sie erschienen in anderem Licht.
Ein grünblauer Aschenbecher war nicht einfach nur ein Stück billiges Glas, sondern ein Edelstein aus fernen Ländern, und ein simpler Brieföffner hatte die Aura des großen Geheimnisses. Er war Waffe und Zauberstab, er kündete von vergangenen und zukünftigen Taten. Wir haben viel von dieser spontanen Bejahung verloren – man hat sie uns ausgetrieben, Amb."
Das alles klang wie ein später Rechtfertigungsversuch. Margrit kam aus der Küche mit einer Platte billigem Aufschnitt, drei hartgekochten Eiern und aufgebackenem Fladenbrot zurück. Sie kaufte beim türkischen Lebensmittelhändler immer das Brot vom Vortag, um ein paar Pfennige zu sparen; ihrer Meinung nach war es aufgebacken genauso gut wie frisches Fladenbrot. Man durfte nur keinen Tag länger damit warten, dann wurde es zu trocken. Das Ganze sah geradezu bedrückend ärmlich aus. Ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen, so auffallend legte es ihre sparsame Platte darauf an, Sehlens materialistischen Visionen hohnzusprechen. Die Jagdwurst war beschlagen, und auch die Gurkenscheiben hatten einen blassgrünen Schimmer angenommen, als sei alles mit denselben Krankheitskeimen infiziert.
"Na also, Sie lachen ja schon wieder, Amb. Was ist Ihnen denn eigentlich so auf den Magen geschlagen? Ihre Frau sagte mir, dass Sie eine empfindliche Verdauung haben?"
"Hatten Sie das hier schon vermisst?" Ich zog den unbeschriebenen Umschlag mit dem leeren Blatt aus der Tasche. "Hab's damals in Holland vergessen, an Sie weiterzugeben, als ich den Briefkasten leerte."
Er kniff die Augen zusammen und streckte seine Hand aus. Nachdem er den Brief untersucht hatte, legte er unauffällig seinen Finger vor die Lippen und bedeutete mir, ihm zur Veranda zu folgen. Margrit, die noch mit den Schnittchen beschäftigt war, sah uns fragend nach. Das Brotmesser in ihrer Hand schwebte über der Aufschnittplatte. Sehlen öffnete die Verandatür und sog schnaubend die kühle Abendluft ein.
"Das ist ein großer Augenblick, Amb", sagte er, als wird draußen am steinernen Verandageländer standen. Man hörte das Läuten von Kirchenglocken, in das sich heiseres Hundegebell mischte. Aus dieser Entfernung sahen die Hausdächer zwischen den Baumkronen wie Zeltlager aus. "Unser Mann im Kreml arbeitet jetzt. So viele Monate der Vorbereitung – und nun der Sieg. Halleluja. Ich werde richtig sentimental, mein Lieber." Er wischte sich mit angewinkeltem Zeigefinger eine unsichtbare Träne aus dem Augenwinkel. Ich kam mir fast ein wenig schäbig vor bei dem Gedanken, ihm Informationen dieses Kalibers so lange vorenthalten zu haben.
"Ich konnte nicht ahnen, dass der Umschlag wichtig war."
"Schon in Ordnung …" Er drückte ergriffen meine Hand. "Nein, natürlich nicht. Ich musste in einer dringenden Angelegenheit nach Belgien. Wie hätten Sie denn wissen sollen, dass wir einen leeren Briefumschlag als Zeichen vereinbart hatten? Daraus macht Ihnen niemand einen Vorwurf. Kommen Sie, gehen wir wieder rein zu Ihrer Frau. Das muss begossen werden!"
"Glauben Sie nicht auch, dass unsere Arbeit zum Schönsten gehört, was man in der Politik bewirken kann, Adrian?" Er hatte zum ersten Mal seine Jacke ausgezogen und saß in Hemd und Schlips da. Margrits Aufschnittplatte riss ihn manchmal zu kleinen Ausrufen der Begeisterung hin. "Halten Sie mich für zynisch oder nicht – im Grunde machen wir doch selber nur in Glasnost, wenn auch gegen den Willen der anderen Seite. Und das, lange bevor man im Kreml solche Ideen zu propagieren begann. Transparenz auch in der Politik. Wir treiben ein Stück Aufklärung im guten alten klassischen Sinne."
"Wenn ich manchmal skeptisch bin, dann hauptsächlich, weil es zu Konfrontationen führt."
"Ja, Sie haben recht, Adrian. Ich verstehe vollkommen, was Sie damit sagen wollen."
"Es reißt Fronten auf."
"Natürlich ist es außerdem auch noch ein ganz klein wenig unmoralisch."
"Glauben Sie wirklich, dass man dabei von Unmoral reden kann?", fragte Margrit.
"Wir denken zuviel über unsere Haltung nach", meinte Sehlen. "Wir sind zu kopflastig geworden. Man sollte die Sache mit mehr Instinkt angehen."
"Wie ein unverbildetes Tier", stimmte Margrit ihm zu. Sie lachte über ihren kleinen Scherz. Dass Sehlen sich so bereitwillig als Müllschlucker für ihre Küchenabfälle hergab, schien ihr zu gefallen. In ihren Augen war ich ein quengeliger Esser, dem man nichts recht machen konnte.
"Adrian sollte uns ruhig mal was über seine tieferen Motive erzählen", sagte Sehlen und kniff erwartungsvoll die Brauen zusammen. Er spielte mit dem Ende seines Schlipses; es hatte beim Einschütten eine Glasur aus Cointreau abbekommen, wahrscheinlich fühlte es sich steif und klebrig an.
"Über meine Arbeit?", fragte ich.
"Natürlich, Addi, was denn sonst?", sagte Margrit. "Du bist nie so richtig mit der Sprache rausgerückt, wie du eigentlich darüber denkst."
"Er ist und bleibt der große Einzelgänger", meinte Sehlen.
"Geheimniskrämer", ergänzte sie.
"Ich wüsste nicht, was es darüber zu sagen gäbe."
"Sie müssen doch irgendeinen Grund haben, warum Sie so lange die rechte Hand der Chefs geblieben sind? Warum Sie den Thron verschmähten? Überhaupt kein Stachel im Fleisch, Adrian? Und warum Sie nicht gleich in die Industrie oder ins Bankgewerbe gingen, falls dahinter irgendeine Aversion gegen unsere Arbeit steckt? Mit Ihrem Hang zur Buchhaltung – ich meine das überhaupt nicht abwertend."
"Oh, dazu gibt es wenig zu sagen."
"Immer noch besser als gar nichts."
"Es ist eine Arbeit wie jede andere."
"Na, da flunkern Sie aber ein bisschen", erklärte Sehlen. Er drohte scherzend mit dem Zeigefinger.
Margrit stand auf und murmelte etwas wie: "Ach herrje, nun hätte ich fast vergessen, dass ich Slava kurz vor acht mit dem Wagen zum Bahnhof fahren soll …"
"Läuft er denn schon wieder, Liebes?"
"Herbert hat den Motor nachgesehen – nur der Zündkontakt. Er war völlig verdreckt, du solltest öfter mal die Kontakte wechseln lassen, Adrian." An der Garderobe fiel ihr plötzlich ein: "Vielleicht versteckt er sich ja bloß vor dem wirklichen Leben, Ronald."
Es war nicht ganz klar, ob sie Herbert oder mich meinte.
"Ausgerechnet in den Diensten?" Sehlen legte es sofort auf seine Art aus.
"Warum nicht? Wo alles im geheimen spielt, da kann man ruhig mal ein Schläfchen wagen, oder?"
Sie schlug alle Rekorde in Spitzzüngigkeit an diesem Abend, aber ich verbis mir jeden Kommentar. Das alles würde doch nur wieder dazu führen, dass sie Slava gegen mich aufbrachte. Frauen unter sich sind eine Macht, was die Kunstfertigkeit im Irrationalen anbelangt, gegen die nicht mal ein Altmeister der Logik wie Aristoteles angekommen wäre.
Als sie die Haustür hinter sich zugezogen hatte, sagte Sehlen: "Gott, ich wusste gar nicht, dass Sie so ein gemütliches Zuhause haben. Mein Hotelzimmer hier in München ist ziemlich schäbig. Spart natürlich Spesen, das Geld stecke ich in Geschäfte. Ich komme einfach nicht dazu, mich mal um eine anständige Wohnung zu kümmern. Wahrscheinlich würde ich sie ja doch kaum zu Gesicht bekommen. Einer, der so oft wie ich im Außendienst ist, sollte sein Geld lieber auf die hohe Kante legen, anstatt es für Möbel und Teppiche zu verplempern."
"Sie erwähnten eben unseren Mann im Kreml, Sehlen. Ich wollte in Margrits Anwesenheit nicht darüber sprechen. Heißt das, unser Auftrag ist erledigt? Nun warten wir nur noch die Früchte unserer Arbeit ab?"
"Er fängt gerade erst an, Adrian."
"Und dieser … Maulwurf im Kreml – Sie wollen nicht darüber reden, wer es ist?"
"Gott, irgendwann wird Washington Sie schon ins Vertrauen ziehen. Sie gehören schließlich zum engeren Kreis."
"Kennen Sie seinen Namen?"
"Ich muss ihn schließlich kennen, oder? Ohne mich steckte die Aktion Schafspelz noch in der Planung, Amb. Wir erfahren Intimitäten aus dem Kreml, wie es sie in dieser Genauigkeit noch nie gegeben hat. Durch Tonbandaufnahmen, Mitschriften, Protokolle, Kopien von Originalunterlagen."
"Und was ist meine Rolle dabei?"
"Sie sollen das Zeug beurteilen, Addi. Sie sollen uns sagen, wo mögliche Differenzen und Ungenauigkeiten liegen."
"Ungenauigkeiten bei Originalen?"
"Na ja, wie man's nimmt."
"Zum Buchhalter eigne ich mich eigentlich weniger, wenn ich das offen sagen darf?"
"Dürfen Sie, Addi, dürfen Sie. Wir brauchen Sie, um eine erste politische Analyse anzufertigen. Wo sind Unstimmigkeiten oder Widersprüche in der Argumentation Gorbatschows zu entdecken? Lassen sich Hinweise oder versteckte Andeutungen dafür finden, dass er … nun ja, Amb, dass er nicht sagt, was er meint. Das wäre doch möglich, oder?"
"Das trauen Sie mir zu?"
"Sie sind der Spezialist in unseren Reihen, Adrian. Wir haben keinen Besseren finden können. Selbst Lexter in London kann Ihnen nicht das Wasser reichen, und der galt lange Zeit als die Autorität schlechthin. Aber das wissen Sie ja selbst am besten. Man reißt schon Witze darüber, ob Gorbi Ihren, na, sagen wir mal, Redeentwurf für den Parteitag der KPdSU überhaupt von seinem eigenen unterscheiden könnte."
"So, dann bin ich ja inzwischen zu einem Ruhm gelangt, von dem ich selbst gar nichts geahnt habe?"
"Nur immer sein Licht unter den Scheffel stellen, Adrian, das gehört zu Ihrem Naturell – dabei fühlen Sie sich wohl. Könnte leicht zum bloßen Nachruhm werden. Sie sollten etwas mehr aus sich machen, da hat Ihre Frau schon ganz recht. Ich an Ihrer Stelle hätte Forum längst das Fürchten gelehrt, unter uns gesagt. Sie könnten uns sehr behilflich sein in der Beurteilung des hereinkommenden Materials. Es muss aufbereitet und eingeordnet werden, ehe es zum Verbraten an die zuständigen Regierungskreise weitergeleitet wird."
"Und meine Aufgabe wäre es, einfach abzuwarten und zu sehen, was hereinkommt?"
"Schafspelz wird gelegentlich den einen oder anderen Tipp von uns brauchen – wie unser Mann sich im Kreml zu bewegen hat. Welches Material besonders wichtig sein könnte – und was das Risiko, entdeckt zu werden, nicht lohnt. Dafür brauchen wir Ihre tatkräftige Hilfe. Sie finden sich doch mit verbundenen Augen im Kreml zurecht. Sie kennen Gorbis Arbeitszimmer so gut wie er selbst."
"Ich habe auch nur Fotos und Zeichnungen davon gesehen. Die Qualität der Fotos war schlecht."
"Sie kennen die Vorzimmer, das Ritual, wie man dem großen Generalsekretär begegnet. Wie er seine Füße unter den Schreibtisch bettet. Sie wissen, wann und wo im Politbüro die Entscheidungen fallen. Wer Einfluss nimmt und wer nicht. An manchen Wänden wäre das Ohr des Lauschers ganz vergebens."
"Schafspelz ist der Tarnname unseres Mannes?"
"Nennen wir ihn doch einfach S., Adrian.”