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ОглавлениеSie stieg über die Reling und beugte sich zur Kajüte hinunter. Es war einer jener kleinen, aber wohldurchdachten Räume, die trotz ihres Komforts noch etwas von Seglerromantik vermitteln, weil alles auf engstem Platz zusammengerückt ist: die Pantry, das Pump-WC, zwei Hundekojen, der Klapptisch.
Durch die Pendeltür sah sie in das Vorschiff, eine mit dicken Polstern abgedeckte dreieckige Schlaffläche, die wegen ihrer ehebettähnlichen Breite unter Schiffern augenzwinkernd «Liegewiese» genannt wurde. Sie kletterte die Holzstufen herunter, setzte sich auf den Kojenrand – und ließ ihren Blick prüfend über die Dichtung des Schiebeluks gleiten: es schien wasserdicht zu sein.
Die Jacht wiegte sich leise an den mit Federn versehenen Leinen, sie schwamm in einem etwa zwölf Meter langen Bassin aus meerblauem Kunststoff.
Drinnen waren die Stimmen der Messebesucher und die Geräusche aus der Halle nur noch ein gedämpftes Schwirren – wie das Rauschen des Windes, wenn man etwas Phantasie besaß …
Für einen Augenblick – während sie durch das getönte Schiebeluk zur Mastspitze mit dem Windanzeiger hochblickte, dachte sie, es sei möglich, dass ihr dieses Schiff gehörte; dann fand sie den Gedanken auch schon unfair, weil er eine alte Wunde anrührte, ein Problem, das sie und Robert längst bis zum Überdruss diskutiert hatten.
Kein Boot, keine Urlaubsreise ans Meer, vor allem aber keine Diskussionen darüber: so lautete ihre Vereinbarung. Und sie würde sich daran halten! Es war ein mühsam erkämpfter Kompromiss.
Im Gegenzug hatte Robert ihr zugestanden, an jedem zweiten Wochenende auf den toten Rheinarmen zu segeln.
Die Jacht wurde durch einen Tritt von der hölzernen Plattform in Schaukelbewegungen versetzt.
Gleich darauf beugte sich ein junger Mann in die Kajüte herunter. Er war schlank, und seine Bewegungen verrieten Gelenkigkeit. Aus den hochgezogenen Ärmeln seines hellen Rollkragenpullovers sahen braungebrannte Arme. Typischer Sportler, dachte sie; vielleicht Segler.
«Donnerwetter, nicht schlecht, was?», sagte er. «Ich meine die Innenausstattung.»
Er setzte sich ihr gegenüber auf den Kojenrand und befühlte die Qualität der Polster. Etwas in seiner Stimme ließ sie aufhorchen. Die Betonung war fremd.
«Sind Sie Amerikaner?»
«Harry Gart.» Er streckte die Hand aus. Sein trockener, fester Griff, der etwas länger als nötig dauerte, brachte sie in Verlegenheit. «Seit fünf Jahren in Westdeutschland, hauptsächlich Köln und Hamburg, aber man merkt‘s immer noch, stimmt‘s?
Ich habe schon einen Sprachkurs deswegen belegt. Es ist aussichtslos. Anscheinend gibt es begabtere Leute dafür als mich.»
«Ihre Aussprache ist in Ordnung.»
«Danke.»
«Sind Sie Segler?»
«Begeisterter Segler», bestätigte er. «Und Sie? Ich habe Ihren Namen nicht verstanden. Arbeiten Sie für die Jachtfirma?»
«Nein, ich … ich bin nur Besucherin. Anja Weißkirch.»
«Sie sprechen auch nicht ganz akzentfrei, hab ich recht?»
«Es ist ein Dialekt. Ich bin aus Siebenbürgen.»
«Ah, Kronstadt, die Karpaten, Graf Dracula …»‚ lachte er.
«Aus Hermannstadt.»
«Gefiel es Ihnen nicht mehr in Rumänien?»
«Wir hatten dort zu wenig Rechte.»
«Das kann ich verstehen. – Was ist dort?», fragte er und streckte den Arm aus.
«Bitte?»
«Über Ihnen.»
«Oh, ein Geschirrschrank.»
Er kam heran und öffnete die linke der beiden Türen. Während er dicht vor ihr war und sein Schatten auf sie fiel, zeichnete sich sein muskulöser Körper unter dem Pullover ab. Sie spürte verwirrt, dass eine schwer zu fassende Anziehungskraft von ihm ausging. Es hatte mit seinen Bewegungen zu tun, die zugleich geschmeidig und kraftvoll wirkten. Garts Füße steckten in weißen Seglerschuhen, nicht mehr ganz weiß. Ebenso, wie seine engen Röhrenhosen eine verwaschene blaue Schludrigkeit zeigten.
«Teegeschirr … sogar ein Kerzenhalter. Was halten Sie davon, wenn ich Sie im Messecafé auf ein Glas Wein einlade?»
Es kam völlig überraschend. «Gern», entfuhr es ihr, sie hatte keine Zeit, darüber nachzudenken.
«Ich meine: Wir sind in der letzten Halle, außer dieser Jacht hier gibt es ohnehin nichts Neues zu sehen.»
«Im Grunde ist es immer dasselbe.»
«Dann lassen Sie uns gehen, ehe geschlossen wird.»
Als sie auf der Zwischenetage des Cafès angelangt waren, stellte man bereits die Stühle zusammen. Der Kellner winkte ihnen ab.
«Es gibt noch ein nettes Lokal an der Straßenecke», sagte Gart.
Sie nickte. Konnte sie jetzt noch ablehnen? Er hat mich überrumpelt, dachte sie. Sie wurde das Gefühl nicht los, dass er es von Anfang an darauf abgesehen hatte, sie in dieses Lokal zu locken. Es war eng und verräuchert, mit einer niedrigen dunklen Holzdecke, zwischen der imitierte Rieddächer hingen, und Sitznischen aus rohen Balken, die schwachen Teergeruch verströmten: alte Eisenbahnschwellen, wie sie an den Schraubenlöchern und den Aussparungen für die Eisenwinkel erkannte. Harry Gart winkte sie an einen Tisch ganz hinten, wo sie ungestört waren.
«Wir Amerikaner lieben die alte deutsche Petroleumlampenromantik», sagte er. «Wir können nicht genug davon bekommen.»
Das halsbrecherische Wort bereitete ihm keine Schwierigkeiten. Er war rührend um sie besorgt. Zwiebelsuppe mit Käse überbacken? Oder vielleicht ein Omelette? Froschschenkel? Dann lieber eine Aufschnittplatte? Nein, sie hatte keinen Appetit.
Schließlich bestellte er nur eine Flasche italienischen Rotwein. Sie rank vorsichtig und in kleinen Schlucken, obwohl irgend etwas sie in die Laune versetzte, das ganze Glas mit einem Zug herunterzukippen.
«Warum tun Sie es nicht?», fragte Gart.
«Ich … können Sie Gedanken lesen?»
«Sie waren so mit sich selbst beschäftigt, dass Sie leise vor sich hingesprochen haben.»
«Großer Gott.» Sie hielt die Hand vor den Mund.
«Ich finde das ganz reizend. Würden Sie es für zudringlich halten, wenn ich Sie fragte, ob sie verlobt oder verheiratet sind?»
Sie zuckte die Achseln. «Da es Sie so beschäftigt: verlobt, seit acht Jahren.»
«Seit acht Jahren …» Er beugte sich ungläubig über den Tisch und hob dann beide Hände, so dass die glatten Innenflächen einen Augenblick vor ihr in der Luft hingen. «Nun ist es aber an der Zeit, dass ich mich wundere.»
Es sieht merkwürdig unecht aus, dachte sie, und studierte seine wasserhellen Augen.
«Segeln Sie mit elektrischer Takelage?»
«Wie?», fragte er überrascht.
«Ihre Hände.»
«Was ist damit?» Er drehte sie und betrachtete etwas begriffsstutzig seine Finger.
«Sehen Sie das hier?» Sie zeigte auf ihre eigenen Hände, die zwar nicht schwielig aber über den Fingerballen leicht angeraut waren. «ich segele zweimal in der Woche. Es kommt von den Leinen.»
«Ach das. Jetzt verstehe ich. Ich besitze eine Zwanzig-Meter-Ganzstahljacht mit Liegeplatz an der holländischen Nordseeküste. Um die Bedienung kümmert sich meine Besatzung.»
«Ihre Besatzung, aha.»
Sie kippte das Rotweinglas. Wahrscheinlich tat sie ihm unrecht. Aber sie kannte diesen Typ von Burschen, die sich auf die kollegiale Seglerart an Mädchen heranmachten und vom Segeln nicht mehr verstanden als ein Anfänger.
«Sie glauben, ich hätte das Segeln nur als Vorwand benutzt, um Sie kennenzulernen?» Er zog zwei Fotos aus der Hemdentasche unter seinem Pullover. «Das ist sie … Ariane II.»
«Ein schönes Boot.»
«Ich gebrauche es hauptsächlich, um mit Freunden zu segeln. Wir unternehmen kleine Törns entlang der dänischen und norwegischen Küste. Eine Gruppe sehr netter Leute. Es wäre schön, wenn Sie auch einmal mitkommen könnten.»
Nun kommt er also zur Sache, dachte Sie.
«Dazu kennen wir uns wohl kaum genug.»
«Das ließe sich leicht ändern. Wir segeln am Wochenende auf dem IJsselmeer. Zwei Ehepaare, Ingenieure und Angestellte der Stadtverwaltung. Zu Ihrer Beruhigung: es sind auch Mädchen ohne Begleitung darunter, begeisterte Seglerinnen. Und in drei Wochen geht‘s in den Boknafjord bei Stavanger.»
«Da bin ich auf Urlaubsreise in Rumänien.»
«Dann kommen Sie wenigstens am Wochenende mit.»
«Werd‘s mir überlegen.»
«Hier ist meine Telefonnummer.»
Sie las das Kärtchen:
Harry Gart – Elektronische Importe – Hamburg –Köln – Berlin
«Es ist ohne jedes Risiko für Sie», erläuterte er. «Glauben Sie um Gottes willen nicht, wir seien auf etwas anderes aus als Segeln und gemütliches Beisammensein. Falls es das ist, was Sie denken?» Er lachte offenherzig.