Читать книгу Der EMP-Effekt - Peter Schmidt - Страница 13
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ОглавлениеKarga hatte noch zehn Minuten bis zur Ankunft des Zuges. Er stand jenseits der Bahnsteigüberdachung im aufkommenden kalten Dunst, weil er auf dem Wagenstandanzeiger gelesen hatte, dass ihr Wagen der vorletzte sein würde.
Nach fünf Minuten bekam er kalte Füße; er setzte sich auf einen leeren Gepäckanhänger. In den einander überlappenden Lichtkreisen zweier Bahnsteiglampen wartend, fiel ihm die Einladung ein, die ihm Thaube am Morgen überreicht hatte. Ein Brief aus Klagenfurt.
Dunkel erinnerte er sich jetzt wieder der Andeutungen Thaubes vor einigen Wochen. Damals hatte er ihnen keine Bedeutung beigemessen, weil er mit der Planung seiner Reise beschäftigt gewesen war.
Auf dem Wege nach Rumänien würden sie durch Klagenfurt kommen. Dort war eine Zwischenübernachtung vorgesehen.
Er verabscheute Nachtfahrten. In jener Woche sollte eine Tagung weit links stehender Sozialisten und anderer europäischer Linker stattfinden, darunter der Volksfront (V), des Komitees für Frieden, Abrüstung und Zusammenarbeit (KFAZ) und der jungen Pioniere (JP).
Welche geeignetere Stadt auf neutralem Boden ließ sich dafür denken?
Sie besaß sogar ein Institut für angewandte Pflanzensoziologie, was immer das sein mochte. Er nahm das Blatt heraus, es steckte noch in seiner Jackentasche. Eine unsaubere Hektographie auf blassgrün eingefärbtem Umweltschutzpapier. Grün stand für Hoffnung. Rot wäre zu verfänglich gewesen, zu belastet mit Vorurteilen. Grün für die Hoffnungen der Menschheit war immer akzeptabel.
Thaube bedauerte es, wegen seiner Krankheit nicht an den Veranstaltungen teilnehmen zu können. Er hatte einige Bücher und zwei, drei ältere Berichte über die Entwicklung linker Gruppen am Ort für den Sekretär der Veranstaltung bereitgestellt und Karga gebeten, sie ihm bei seiner Ankunft zu überreichen. Mehr, um sich in Erinnerung zu bringen und als Beweis dafür, dass er noch existierte. Als er diese Bitte am Morgen wiederholt hatte, war es Karga wie Schuppen von den Augen gefallen:
Man hielt sie beide offenbar für weitaus wichtigere Figuren in der Szene, als sie waren. Genaugenommen war er, Karga, nichts weiter als ein Bote. Sogar ein Bote wider Willen, der nur aus Gelegenheit und angeborener Verbindlichkeit handelte. Er hegte keinerlei Sympathien für Thaubes Engagement. Man wollte gar nicht seine Reise nach Rumänien verhindern, sondern dieses Treffen!
Und wenn viel mehr dahintersteckte, als er annahm?
Wenn er nur über die wirklichen Absichten des Treffens als Außenstehender nicht informiert war, man aber glaubte, dass er dabei eine herausragende Rolle spielte?
Dann erklärte sich alles: seine Wohnungsdurchsuchungen, das Richtmikrofon, der Verkehrsunfall und die ausgetauschte Blutprobe, das Verschwinden seines Ausweises …
Dann ließ sich alles als ein harmloses Missverständnis aufklären. Der ganze Spuk war nur zustande gekommen, weil man seine Beteiligung falsch einschätzte.
Thaube würde ihm die wirklichen Hintergründe kaum auf die Nase binden wollen. Womöglich machte er sich ungewollt zum Mitschuldigen?
Attentate? Banküberfälle? Zusammenarbeit mit den Kommunisten?
Oder ging nur wieder seine Phantasie mit ihm durch?
Wenn er an Thaubes lächerliche Gestalt vor dem Fensterkreuz dachte, kam ihm jede Befürchtung in dieser Richtung absurd vor.
Da er keinen Führerschein besaß, würden Sie mit dem Zug fahren. Und wenn sie statt dessen das Flugzeug nahmen? Direktflug?
In dem Falle würde Thaube kaum von Ungefälligkeit reden können.
Über ihm knackte der Bahnsteiglautsprecher. Eine Stimme wie der Frost, der in den Nachrichten vorausgesagt war, kündigte die Einfahrt des Zuges an. Karga wurde von einer plötzlichen Beklemmung befallen. Er hatte seine Stiefmutter seit langem nicht gesehen. Was erwartete sie von ihm?
Und dann dieser fremde Kerl ... LKW-Fahrer, wenn er richtig verstanden hatte. Dass er Fahrer war, erklärte immerhin, weswegen man ihn die Republik verlassen ließ. Diese Leute im internationalen Güterverkehr besaßen einen Sonderstatus. Es waren ausgewählte Personen, treue Vasallen des Systems.
Als sie aus dem Waggon stiegen, war alles einfach. Der Anblick des ungleichen Paares ließ ihn aufatmen, und er verzog zu einem kaum merklichen Lachen das Gesicht. Katja trug einen braunen Pelzmantel mit grauen Einsprenkeln; für eine Frau in den Fünfzigern sah sie erstaunlich gut aus.
Er hatte sie nicht so attraktiv in Erinnerung. Ältere Frauen reizten ihn mehr als junge, obwohl er sich das ungern eingestand. Der alte Knabe neben ihr war jedenfalls kein ernst zu nehmen der Konkurrent für ihn: sein Bauch wurde mühsam von einer glänzenden schwarzen Kunstliederjacke zusammengehalten.
Seine geringe Körpergröße – er war anderthalb Kopf kleiner als Katja –, die zu breiten Oberarme vor der gedrungenen Brust und seine ungewöhnlich kurzen Beine verliehen ihm etwas vom Aussehen eines unbeholfenen Kobolds.
Sein hoher, eckiger Kopf war an den Seiten kurz rasiert; erst wo die Haare länger würden und auflagen, bildeten ein kleines Spitzdach aus grauem Gestrüpp.
Wie komme ich nur auf den absurden Gedanken, dass sie mehr für mich bedeuten könnte als die Frau meines verstorbenen Vaters? Seine Irritation über den Gedanken ließ ihn einen Moment lang zögern – während Katja schon mit ausgestreckten Armen auf ihn zukam
Wenn er Sorgen hatte oder sich auf irgendeine Weise bedrängt fühlte, kamen ihm immer Gedanken an Sex. Es war, als suche sein Unbewusstes in der Lust nach einem Ausgleich für ausgestandene Pein. Ein Hang, dessen er sich schon seit seiner Jugend schämte.
«Robert … wie schön.»
Sie schüttelte mit beiden Händen seine Hand, als er keine Anstalten machte, ihr um den Hals zu fallen. Es wäre eine günstige Gelegenheit gewesen. Merkwürdig, er hatte sie wirklich ganz anders in Erinnerung. Er fragte sich, ob das dieselbe Frau war.
Der Mann hinter ihr trat zögernd auf ihn zu, den einen Arm merkwürdig abgespreizt. Als er Karga die Hand reichte, fiel seine Unbeholfenheit von ihm ab. Der Kontakt ihrer Hände wirkte wie ein Auslöser, ein Stromstoß, der ihn aus seiner Steifheit erweckte. Sein Blick schien Karga zu vereinnahmen. Es war, als drohe er, in ihn hineinzustürzen:
als besetzte er sein Hirn und nehme für den Bruchteil einer Sekunde sein Bewusstsein ein. Wirklich ein Kobold … dachte Karga. Er machte sich mühsam von seinem Blick frei.
«Leutner.»
«Guten Abend.»
«Wir sind ja nun weitläufig miteinander verwandt. Auf gute Zusammenarbeit.»
«Zusammenarbeit – was meinen Sie?»
«Beziehungen», berichtigte er. «Nicht wahr, Katja? Beziehungen wäre das bessere Wort.»
«Ja, Beziehungen.»
«Wir sollten uns duzen, finden Sie nicht auch? Ich meine, das wäre angemessen.»
«Einverstanden», sagte Karga.
«Beppo …»
«Robert … Ich habe euch ein Doppelzimmer reservieren lassen, es ist nicht weit vom Bahnhof.»
Sie tranken auf dem Zimmer eine Flasche Sekt. Leutner hatte darauf bestanden. Zur Feier des Tages. Sekt dieser Güte sei drüben schwer zu bekommen. Er wollte alles von der Stadt sehen. Nein, er sei nicht im internationalen Speditionsverkehr beschäftigt. Als Lastwagenfahrer habe er nur sehr kurz gearbeitet. Nach dem Kriege. Karga mußte irgend etwas falsch verstanden haben.
Leutner fragte ihn, ob er sich nicht einen Tag frei nehmen wolle, um ihn zu begleiten. Das sei doch eine Abwechslung für ihn. Ein Tag vorm Jahresurlaub: kein Problem.
«Und Katja?», fragte er.
«Wird morgen eine Freundin besuchen.» «Eine Brieffreundin», bestätigte Katja.
«Da müsste ich erst meinen Vorgesetzten fragen.»
«Arbeitest du nicht in einem Elektronikkonzern – als Entwicklungsingenieur?»
«Unterhaltungselektronik, ja.»
«Darüber musst du mir mehr erzählen.»
«Unsere Produkte stehen in jedem Kaufhaus.»
«Für technische Fragen habe ich mich von jeher interessiert.»
«Ehrlich gesagt, ist es nicht sehr aufregend.»
«Was treibst du in der Freizeit? Ich meine, bist du politisch interessiert?»
«Kaum.»
«Mit anderen Worten: das System ist dir gleichgültig?»
«So krass würde ich es nun wieder nicht ausdrücken.»
«Ich sehe schon», erklärte Leutner zufrieden, «wir haben eine Menge Gemeinsamkeiten.» Er wandte sich zu Katja hinüber und schüttelte die leere Flasche wie eine Gans am Hals. «Würde es dir etwas ausmachen, Liebes, uns unten an der Bar noch etwas Nachschub zu besorgen? Ein, zwei Fläschchen?»
«Ganz im Gegenteil, jetzt, wo ihr beiden endlich miteinander warm werdet.» Sie kokettierte wippend mit ihren etwas zu mageren Waden – hatte sie seinen Blick auf dem Bahnsteig bemerkt? –‚ strich sich die Strumpfnähte glatt, die vielleicht der neuesten ostdeutschen Mode entsprachen – oder einem Rückfall in die alte, Karga hätte das nicht so genau zu sagen gewusst; dann ging sie immer noch wippend zur Tür, wo sie sich mit aufgesetztem Lächeln umwandte:
«Für eine Mutter ist es beruhigend, zu sehen, dass die Kinder ihren neuen Mann akzeptieren.»
«Was heißt hier Kinder?», murmelte Karga dumpf und griff sich in den Nacken. Er wollte fragen: Was wird hier eigentlich gespielt? Was soll der Schmonzes?
«Bitte?», fragte Leutner vorgebeugt, als sie schon ihm Gang war. «Ich habe dich nicht verstanden.» Seine plumpen Finger nestelten an einer Packung russischer Zigaretten.
«Oh, nicht so wichtig.»
«Machen wir es uns doch bequem.» Leutner zog die Schuhe aus, gleich nachdem er ihm sein vom Bücken rotes Gesicht wieder zuwandte, lagen seine Füße auf der Couch. Er trug gemusterte Wollsocken. Der schwarze Nagel seines Zeigefingers kratzte am Zigarettenmundstück. «Für mich hat der Urlaub jetzt schon begonnen.»
«Ihr bleibt länger?»
«Hat Katja dir das nicht gesagt? Von hier aus geht‘s für zwei Wochen an die Schwarzmeerküste. Verspätete Hochzeitsreise. Vollpension und alles was dazugehört. Mamaia, Konstanza, Eforie.»
«Rumänien? Was für ein Zufall.»
«Zufall, wieso?»
«Weil Anja und ich ebenfalls nach Rumänien fahren.»
«Ach, um welche Zeit denn?»
«Gestern wurden wir zur Geschäftsleitung gerufen. Aus betriebsinternen Gründen müsse man unseren Urlaub verschieben, auf unbestimmte Zeit. Ich lehnte ab. Schließlich hatte ich in den vergangenen Monaten ausgezeichnete Arbeit geleistet. Nach einigem Hin und Her bot man mir an, ihn vorzuverlegen. Schon auf Dienstag oder Freitag. Sie dachten wohl, so kurzfristig würde ich absagen. Momentan laufen verschiedene Entwicklungsprojekte, darunter ein weiterentwickelter Laser-Plattenspieler. Die Messe steht vor der Tür. Natürlich habe ich zugesagt, so weit geht meine Loyalität zur Firma nun auch wieder nicht.»
«Und Anja?»
«Sie richtet sich nach mir.»
Leutners Gesicht entspannte sich erleichtert. Kapitalistische Gauner, schien sein Kopfnicken zu bedeuten.
«Es ist kein Problem, um diese Zeit dort oben ein Hotelzimmer zu finden.»
«Ganz gewiss nicht. Falls ihr Schwierigkeiten bekommt, könnte ich das für euch erledigen.»
«Du hast Kontakte?»
«Bekannte, ja.»
«Nein, ich habe telefoniert, und man hatte keine Einwände.»
«Das ist wirklich ein verblüffender Zufall», sagte Leutner. «Wir beabsichtigen Freitag oder Samstag zu fahren. Mit Zwischenübernachtung in Bukarest.»
«Wir ebenfalls», sagte Karga langsam. Er hatte das deutliche Gefühl, dass es zu viel Zufall war.
«Dann sollten wir uns vielleicht zusammenschließen?»
«Ihr fahrt nicht zufällig auch in die Karpaten?»
«Nein, ans Meer.»
«Und später?»
«Was ist mit später?»
«Kleine Ausflugsfahrt ins Hinterland gefällig? Poiana Brasov zum Beispiel?», fragte Karga, ohne den beißenden Tonfall seiner Stimme im geringsten zu dämpfen.
Leutner schien dafür taub zu sein.
«Nein, den Gefallen würden wir euch gerne tun. Aber die Berge liegen uns nicht. Wir ziehen das Wasser vor.»
Katja kam mit zwei neuen Flaschen zurück. Sie wirkte, als habe sie ihr Wechselgeld an der Bar in Cocktails angelegt: als Sturztrunk, denn ihr Blick hatte etwas Schwankendes. Ihre hübschen blauen Augen sahen wie zu lange gewaschen aus, mit Trübungen durch Schmierseife.
Während sie die Beine übereinander schlug – das Strumpfgewebe gab ein surrendes Geräusch von sich, als ziehe man an einem Reißverschluss –‚sagte Leutner: «Stell dir vor Kleines, Robert fährt ebenfalls nach Rumänien, am Freitag.»
«Hatte ich das nicht erwähnt?», fragte sie leutselig. «Vor ein paar Wochen?»
«Damals lag der Termin noch anders.»
«Ja, jetzt erinnere ich mich.
«Ich denke, wir bleiben bis Bukarest zusammen», meinte Leutner und riss mit einem einzigen Griff den Korken ab. «Ihr habt doch nichts dagegen, oder?»
Es gab ein Geräusch wie knirschendes Glas, als der Drahtverschluss über den Flaschenhals rutschte. Für seine geringe Körpergröße entwickelte er erstaunliche Kräfte.
Es war ein Bild ungewohnten Friedens, die Jacht unter alten Kastanienbäumen dümpeln zu sehen; in den meisten Grachten bekam sie wegen ihrer Länge Schwierigkeiten beim Wenden. Aber hier war der Kanal so breit, dass man sich beruhigt ein Stück weit ins Land vorwagen konnte. Erst wenn Brücken ohne Hebevorrichtung den Weg versperrten, würde Gart es vorziehen umzukehren, weil das Umlegen der beiden Masten zuviel Mühe bereitete.
Jede der altertümlichen Holzbrücken, manche mit mehreren Schichten abblätternder weißer Lackfarbe, entlockte ihr begeisterte Ausrufe. Man fühlte sich in die Zeit van Goghs zurückversetzt.
Frischer Firnis gleich lag die Feuchtigkeit des Meeres über allem.
Weiter hinten verliefen der Bahndamm und die braungestrichene Eisenbahnbrücke, davor stand etwas erhöht der winzige Bahnhof, von dem sie abends zurückfahren würde, und wie bei einer blankgeputzten Modelleisenbahn reihten sich darunter die kleinen holländischen Backsteinhäuser mit ihren gardinenlosen Fenstern und hellgestrichenen Holzrahmen aneinander: als habe man sie nur eben in das hohe Grün der ungemähten Wiesen hingestellt und eine große Hand greife gleich vom Himmel herab, um sie nach Lust und Laune ans Meer oder an die backsteingepflasterte Landstraße zu versetzen ...
Nein, sie bereute es nicht, Garts Einladung gefolgt zu sein. Er war ein vorbildlicher Gastgeber. Alle bemühten sich um sie. Das Wochenende kam ihr viel zu kurz vor. Aber es blieb dabei, dass sie Freitag mit Robert nach Rumänien fahren würde.
Harry Gart brachte ein Tablett Tee in den Salon. Die anderen waren ins Dorf gegangen, um für den Abend ein Restaurant ausfindig zu machen.
«Tee mit Rum – und etwas holländisches Gebäck.»
«Ich werde noch so dick, dass ich mit den Armen nicht mehr an mein Zeichenbrett reiche», sagte sie.
«Was für eine Übertreibung.»
«Die Konkurrenz der Männer in der Firma ist sehr groß.»
«Tatsächlich? Fühlen Sie sich als Frau herabgesetzt?»
«Das wohl nicht, aber wir müssen mehr leisten als die Männer und zu allem Überfluss auch noch hübsch sein. Außerdem mag Robert keine dicken Frauen. Alt können sie sein, alt und hübsch, aber nicht dick.»
«Er schlägt Sie doch nicht wegen ein paar Fettröllchen?», fragte Gart scherzhaft.
«Schlagen? Gott bewahre. Er ist ein wahrer Apostel der Gewaltlosigkeit. Gandhi und so weiter. Er verehrt ihn wie kleine Jungen ihre Fußballstars, auch wenn er es anderen gegenüber ungern zugibt. Gewaltlosigkeit statt Politik, damit kann man ihn zu jeder Tages- und Nachtzeit zum Reden bringen. Wie ich diese Schlagwörter hasse. Es geht allerdings so weit, dass er nicht einmal sich selbst in der Gewalt hat.»
«Tatsächlich?», fragte Gart interessiert. «Inwiefern denn?»
«Er ist impulsiv. Er tut Dinge, die er nachher bereut. Er hat sich nicht immer unter Kontrolle – ich glaube, wenn es ernst wird, traut er sich selbst nicht über den Weg.»
«Wussten Sie eigentlich, dass ich mit der VVG in Geschäftsverbindung stehe?», fragte Gart.
«Ach?», sagte sie überrascht.
«Deshalb kenne ich auch Ihren Freund – vom Hörensagen.» Er schwieg und musterte sie aufmerksam.
«So? Redet man über ihn?»
«Vielleicht hätte ich gar nicht davon anfangen sollen», sagte Gart leise und wandte sich wieder dem Teegeschirr zu. «Sie müssen entschuldigen. Es ist mir herausgerutscht.»
«Herausgerutscht – was?»
«Dass ich Robert Karga kenne.»
«Was soll daran so ungeheuerlich sein?»
«Ich kann nicht darüber sprechen. Sie müssten sonst glauben, es ginge mir darum, Sie beide zu entzweien.»
«Nun hört doch alles auf. Er ist schließlich mein Verlobter.»
«Seit acht Jahren», bestätigte Gart. «Und ich möchte nicht derjenige sein, der Ihre Entlobung auf dem Gewissen hat …»
Ein Anflug von Sprachlosigkeit lag wohl auf ihrem Gesicht, denn Harry Gart legte begütigend seine Hand auf ihren Arm.
«Zwingen Sie mich nicht, Ihnen wegen meines kleinen Lapsus mehr von seinen Machenschaften zu verraten», sagte er. «Ich möchte, dass wir Freunde bleiben. Ehrlich gesagt rechne ich mir sogar noch größere Chancen aus.
Deshalb bin ich in einer ziemlichen Zwickmühle, was Sie und Robert betrifft. Er führt wohl nicht das Leben, das Sie vermuten, und die Ernüchterung könnte eines Tages sehr groß sein. Zu diesem Zeitpunkt würde ich mich aber lieber ein paar Meilen entfernt aufhalten.»
«Sie machen mich wirklich neugierig.»
«Haben Sie denn nicht den geringsten Schimmer – ich meine: von seinem Umgang?»
«Von seinem Umgang? Nein.» Sie aß nachdenklich etwas Teegebäck.
«Und Sie haben sich auch nie gefragt, was er eigentlich treibt, wenn Sie nicht zusammen sind? An den Wochenenden zum Beispiel?»
«Er sitzt in seinem Bastelkeller, nehme ich an.»
«Erzählt er Ihnen manchmal von seiner Arbeit?»
«Nein, nie.»
«Sie erfahren gar nichts darüber?»
«Erstens ist es verboten, über Entwicklungsprojekte zu reden – wir arbeiten beide in der Entwicklung, wenn auch in verschiedenen Abteilungen – und zweitens interessiert es mich nicht. Ich bin nicht wie Robert. Acht Stunden Beschäftigung mit Plattenspielern und tragbaren Stereoradios täglich reichen mir.»
«Kaum zu glauben», sagte Gart. «Er hat Ihnen in all den Jahren nie etwas darüber erzählt?»
«Anfangs schon. Bis er merkte, dass es mich zu Tode langweilte. Seitdem würde er sich wohl eher die Zunge herausreißen, als noch einmal davon anzufangen.»
«Ja, ich verstehe.»
«Nun sollten Sie mich aber nicht länger auf die Folter spannen.»
«Was? – Ach so. Tut mir leid … wie ich schon sagte.»
«Keine Ausflüchte. Sie wollen doch, dass wir Freunde bleiben?»
Gart massierte seine braungebrannten Handgelenke; sie schienen so biegsam wie die eines Kletterkünstlers oder einer Gummipuppe zu sein. Plötzlich kam ihr der absurde Gedanke, dass er keine Knochen besaß und nur aus straffem Fleisch und festen Muskeln bestand. «Wenn Sie es davon abhängig machen – auf Ihre Verantwortung?»
«Heraus damit.»
«Er lebt mit einem … nun ja, mit einem Kerl zusammen.»
«Einem … was?»
«Richard Thaube. Sie kennen sich schon seit der Studienzeit. Thaube geht linksextremistischen Interessen nach, und Ihr Freund Robert scheint sie zu unterstützen. Wenn Sie über Klagenfurt fahren, wird er an einem Kongress europäischer Linker teilnehmen, das spricht wohl für sich.
Thaube ist homosexuell, aber momentan etwas außer Gefecht gesetzt. Aids, wenn ich recht informiert bin.
Ihr Freund sorgt rührend für ihn und bringt ihm Essen und frische Wäsche – wie es unter Freunden dieser Provenienz üblich ist», sagte er anzüglich. «Natürlich versuchen sie den wirklichen Charakter ihrer Freundschaft vor der Öffentlichkeit geheimzuhalten.
Ich möchte Ihnen nicht zu nahe treten. Aber es scheint, als benutzte er Sie nur als Alibi. Das erklärt auch Ihre ungewöhnlich lange Verlobung …»
Gart schwieg und beobachtete die Wirkung seiner Worte.
In ihrem Gesicht arbeitete es; sie versuchte vergeblich, die anstürmenden Gefühle zu verbergen: eine Mischung aus Bestürzung und Unglauben.
Robert hatte ihr nie etwas von diesem Thaube gesagt. Aber warum nicht, wenn es nur eine harmlose Bekanntschaft war?
Seine seltsamen Abende im Bastelkeller. Nach dem Essen hatte er es oft sehr eilig gehabt …
Sie erinnerte sich auch, manchmal noch um Mitternacht bei ihm angeläutet zu haben, ohne dass er das Telefon abgehoben hatte. Sie war nie auf den Gedanken gekommen, ihn nach den Gründen zu fragen. Wahrscheinlich hatte sie angenommen, er sei mit seinen elektronischen Tüfteleien beschäftigt
«Das alles scheint Ihnen ziemlich zuzusetzen», sagte Gart. «Ich habe es geahnt.»
«Es geht schon wieder.»
«Ich erfuhr durch die Geschäftsleitung davon, als ich Ihren Namen erwähnte. Wir arbeiten im elektronischen Importgeschäft zusammen. Sie erinnern sich? Natorp, Ihr gemeinsamer Vorgesetzter, steckte mir später, als ich ihn darauf ansprach – offen gestanden war er etwas angetrunken, Sie dürfen es ihm nicht übel nehmen –‚ dass Sie wohl die einzige in der Firma seien, die nichts von Kargas Verhältnis ahne. Vielleicht ist es ganz heilsam, wenn es jetzt endlich auf den Tisch kommt …»
Sie stand abrupt auf. «Bitte entschuldigen Sie, ich möchte in meine Kabine gehen.»
«Selbstverständlich», nickte Gart, «dafür habe ich volles Verständnis.»
«Es … ich muss mich … erst an den Gedanken gewöhnen.»
«Sicher.»
Ihre Bewegungen fühlten sich hölzern an, während sie den Salon verließ. Durch das Fenster sah sie zum Damm hinauf. Der Frieden unter den alten Kastanienbäumen am Ufer erinnerte plötzlich an Friedhofsruhe.
Die Wintersonne überzog das Land mit falscher Wärme, als hülle sie es nur zur Täuschung ein, und unter der eisigen Oberfläche lag alles begraben, was ein Hirn sich an Verworfenheit und Hinterhältigkeit auszudenken vermochte … sie unterdrückte ein Schluchzen.
«Bei aller berechtigten Empörung darüber», sagte Garts Stimme hinter ihr, «dass er Sie getäuscht hat, vergessen Sie nie: Er versucht auch nur seiner Natur gemäß zu leben – wie wir alle! Ich verurteile das nicht.
Und denken Sie daran, dass Sie immer auf uns zählen können, falls er Schwierigkeiten macht. Wegen Ihres gemeinsamen Urlaubs und so weiter. Ich meine, zum Ausweichen. Damit Sie etwas Zeit haben, Ihre Angelegenheiten neu zu ordnen. Mein Angebot für den Boknafjord gilt nach wie vor.»