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Ich hatte Glück. Everding musste neben dem Telefon eingenickt sein, seine Stimme klang verschlafen, als er abhob.

“Tut mir leid für Sie”, sagte ich. “Das Mädchen ist weg.”

“Was denn … Sie haben sie entwischen lassen?” Er war noch nicht wach und helle genug, um wirklich überzeugend den Erstaunten zu mimen.

“Der Parkplatzwächter hat mir zwei Kerle beschrieben, die mehr Ähnlichkeit mit Ihnen beiden hatten, als Ihnen lieb sein dürfte, Everding. Sie müssen gewusst haben, dass es momentan nur ein einziges Mädchen im Klub gab, das für meine Entführung in Frage kam: Sum Nong.”

“Wovon reden Sie eigentlich? Nun hören Sie mal gut zu, Winger, falls Sie das Mädchen irgendwo versteckt halten, um ihr Honorar in die Höhe zu treiben …?”

“Nennen Sie mir nur zwei oder drei Mitglieder des mysteriösen Vereins, für den Sie angeblich arbeiten. In wie viel Fällen haben Sie als Anwaltskanzlei denn schon mal etwas gegen den sogenannten Verfall der Sitten in der Stadt unternommen?”

“Und wenn’s das erste Mal wäre? Was spräche dagegen? Das geht Sie überhaupt nichts an.”

“Für einen in Moral tätigen Verein sind Sie sich aber reichlich zugeknöpft – etwas mehr Perestroika, bitte schön. So was macht sich immer gut als Visitenkarte.”

“Sie haben’s einfach verpatzt, Winger. Ohne das Mädchen und ihre Aussage vor Gericht werden wir den Laden niemals dichtmachen. Sehen Sie zu, dass Sie Sum schleunigst wiederfinden, falls es nicht nur ein schäbiger kleiner Bluff sein soll, um mehr Honorar herauszuschinden.”

Ich gab ihm zu verstehen, ich sei genauso verliebt in seine Lügen wie der Bürger in die Beteuerungen des Staates, seine Steuern zum Wohle der Allgemeinheit einzusetzen. Dann warf ich den Hörer in die Gabel und überquerte die Straße, um mit Helga zu sprechen.

Sie war alles andere als erfreut, mich noch einmal zu sehen. Sie machte eine Gesicht wie eine Reinmachefrau, die zum äußersten entschlossen war, und zog den schwarzen, elektrischen Schlagstock unter der Theke hervor, um ihn mir im rötlichen Schein der Barbeleuchtung zu zeigen.

“Hören Sie gut zu”, sagte ich zu Helga. “Ich bin von Keißens Anwälten hereingelegt worden. Sie haben mich nur dazu benutzt, um Sum Nong herauszuholen, weil sie anders nicht an sie herankommen konnten. Also muss einer von Ihnen – oder der alte Keißen persönlich – schon mal versucht haben, das Mädchen auszulösen.”

“Keißen?”, fragte Helga. “Meinen Sie etwa Herbert Keißen?” Dabei knallte sie den Schlagstock auf die Theke, dass die Funken stoben und ein dunkler Fleck aus abgeriebenem Gummi am Holz übrigblieb. “Sprechen Sie vom Besitzer dieses elenden Wohnblocks? Er hat versucht, das Mädchen über einen seiner beiden Anwälte auszulösen. Aber ich habe den Braten früh genug gerochen – weil ich Everdings Gesicht aus den Räumungsklagen kenne – und Keißen einen genauso fairen Preis gemacht, wie es die Miete für diese Bruchbude ist.”

“Sie wollen sagen, Sie haben versucht, ihn kräftig über den Tisch zu ziehen?”

“Um mein verlorenes Geld wieder hereinzuholen.”

“Aber darauf ließ er sich nicht ein?”

“Die Sparsamkeit dieser Leute ist umgekehrt proportional zu ihrem Wohlstand und Reichtum”, sagte sie und machte eine abfällige Handbewegung. “Ohne Geiz kann man nichts werden in der Branche.”

“Bleibt die Frage offen, wie Keißen von Nams Zwillingsschwester erfahren hatte.” Ich legte den Zeitungsausschnitt auf die Theke, den mir Marten gegeben hatte, und zwar so zusammengefaltet, dass man zwar das Bild, aber keinen Text sehen konnte. “Kennen Sie einen der beiden Jungen?”

“Den mit dem Igelhaarschnitt. Aber nicht dem Namen nach. Das ist ein altes Foto, oder? Er war früher manchmal hier. Unter uns gesagt, ich glaube, dass er nicht ganz richtig im Kopf ist. Er wurde schon zweimal abgeholt, weil er von irgendwo ausgebüxt war. Zuletzt hatte er sich schrecklich in Sum Nong verknallt. Er glaubte, es sei Nam. Sie wissen schon, das Mädchen, das in Keißens Haus ertrunken ist?”

Ich verkniff es mir, Helga darüber aufzuklären, dass es sich um Keißens versteckt gehaltenen Sohn handelte. Es hätte nur einen neuen Schlag ihres schwarzen Hartgummiknüppels auf die unschuldige Theke provoziert. Oder sie wäre schnurstracks mit einem ganzen Satz von Schlagstöcken zu Keißen aufgebrochen. Solche Knüppel sind überall ohne Waffenschein ab achtzehn Jahren erhältlich und erzeugen Spannungen bis zu 175000 Volt.

Wahrscheinlich hatte Keißen senior es nicht ertragen können, jemanden seines Namens und Blutes in eine geschlossene Anstalt eingeliefert zu wissen. Die Art, wie er sein Problem mit einem Unfall auf der Fähre gelöst hatte, sprach für seinen Einfallsreichtum. Wenn er außer dem Foto auf dem Kaminsims einen unverzeihlichen Fehler gemacht hatte, dann war es der gewesen, nicht genug über Sum Nongs Absichten in Erfahrung gebracht zu haben.

Als ich an diesem Abend in Keißens Haus einstieg, war ich mir des Risikos bewusst, dass man versuchen würde, mir Sum Nongs Tod anzuhängen, falls irgend etwas schiefging, vorausgesetzt, Sum sollte das gleiche Schicksal beschieden sein wie ihrer Schwester. Und bei so heiklen Manövern wie der Spielzeugbeschaffung für einen Irren läuft leicht etwas schief …

Aber ich sah auch, dass meine Chancen, unbeschadet aus der Sache herauszukommen, gar nicht mal so schlecht standen. Es gab den Parkplatzwächter, der zwei Männer gesehen hatte, obwohl er im übrigen so unwissend wie der liebe Gott war, und es gab Marten.

Es gab eine ziemlich lückenlose Hypothese darüber, was passiert war, und die Polizei würde nicht so ignorant sein, meinen Behauptungen überhaupt keine Beachtung zu schenken. Sie würde sie als Schutzbehauptungen erklären, um mich einzuschüchtern, und sich dann widerwillig daran machen, ihre Richtigkeit zu überprüfen.

Ich zertrümmerte die Scheibe eines Kellerfensters, das im Treppenabgang auf der Parkseite lag. Dann arbeitete ich mich langsam durch altes Gerümpel, Werkzeug und Gartengeräte auf die Kellertür zu.

Sie war abgeschlossen, wie ich erwartet hatte. Ich hob sie mit einem Stemmeisen aus dem Scharnier, bis sie auf der anderen Seite schief am Vorhängeschloss hing, und kletterte behutsam durch den Spalt, damit sie nicht nach innen schlug.

Keißen senior war niemand, der viel Geld in solchen Unsinn wie elektronische Warnanlagen investierte, weil sie immer genau dann nicht funktionieren, wenn sie am dringendsten gebraucht werden und weil ein fähiger Einbrecher zu dem Zeitpunkt, an dem er sich sein Objekt zur Brust nimmt, längst weiß, welche Strippen er mit seinem Seitenschneider durchknipsen muss.

Trotzdem bewegte ich mich so wachsam durch die Kelleretage nach oben, als sei es die Landeszentralbank.

Ich stieg die Treppe hinauf und blickte vorsichtig in den Korridor. Die Türen im Parterre standen offen. Das Licht, das von der Straße durch die Fenster fiel, reichte gerade aus, um die Umrisse der Inventars zu erkennen. Keißen schien tatsächlich wenig Wert auf anheimelnde Einrichtung zu legen. Die Möbel hatten den Charme eines abgewohnten Männerwohnheims.

Jetzt musste ich in dem Labyrinth von dämmrigen Gängen und Zimmern nur noch den Swimmingpool finden. Ich bewegte mich in die Richtung, in der meinem Gefühl nach der ebenerdige Flachdachbau mit den Gängen zum Hauptgebäude lag. Schwimmbecken haben ihren charakteristischen Geruch. Als die Luft immer feuchter und wärmer wurde, wusste ich, dass ich auf dem richtigen Wege war.

Gleich darauf hörte ich ihr Lachen durch die Gänge schallen. Meine Nerven waren aufs äußerste angespannt. Ich schob vorsichtig meinen Kopf um die Trennwand der Umkleidekabine…

Sie schwammen gemeinsam im Pool. Sie lachten und tollten wie ein junges Liebespaar. Einmal rückte Keißen junior seine Schwimmbrille zurecht, die nur die Augen bedeckte, tauchte weg und zog Sum an den Beinen nach unten. Aber sie kam prustend wieder hoch und lachte.

Sie sah bezaubernd aus in dem engen seegrünen Badeanzug mit ihrer glatten braunen Haut – viel besser, als in dem Fummel, den sie in Helgas Klub getragen hatte. Ich nahm an, dass es sich um einen alten Badeanzug ihrer toten Schwester handelte. Neben der Abflussrinne standen zwei halbvolle Gläser mit Eiswürfeln.

Robert küsste Sum sanft auf die Stirn, als sie ihn am Beckenrand umarmte. Dann begann er mit gewaltigen Schmetterschlägen das Bassin zu durchpflügen. Er zeigte ihr, wie gut er schwamm, und ihr schien's zu gefallen.

“Er hat mir hoch und heilig versprochen, dass nichts passieren wird”, sagte Keißens Stimme hinter mir. Ich fuhr herum, weil ich ihn nicht kommen gehört hatte.

“Das Manöver auf der Fähre war nur eine Finte, um ihn vor der Polizei zu bewahren, nicht wahr?”, erkundigte ich mich.

“Robert hätte keine Vernehmung durchgestanden, er hätte nicht die Nerven dazu gehabt.”

“Obwohl es gar keine Hinweise auf einen gewaltsamen Tod Nams gab?”

“Wenn Sie jemanden, dessen Verstand manchmal ein wenig anders funktioniert als bei normalen Sterblichen, mit einem ungeklärten Todesfall in Verbindung bringen, dann ist die Schlussfolgerung für die Polizei naheliegend. Sie braucht einen Schuldigen, und den hat sie gefunden, sobald sie davon ausgehen kann, er sei nicht ganz richtig im Kopf.”

“Trotzdem liefern Sie ihm ihre Schwester aus? Auf die Gefahr hin, dass es wieder passieren könnte?”

“Robert hat mich auf Knien angefleht. Er glaubt, Nam sei zu ihm zurückgekehrt. Ich konnte es ihm nicht abschlagen. Ich hätte es nicht übers Herz gebracht …”

Er stand da im dunklen Viereck des Durchgangs, ein drahtiger alter Mann mit zitternden Händen, dessen Körper das Schwimmen im Eismeer vielleicht hätte heilen können, aber nicht seine Seele.

Trojanische Pferde

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