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Wir waren gerade ins Taxi auf der anderen Straßenseite gestiegen, da erschien Helga im Eingang. Sie hielt etwas in der Hand, das verteufelte Ähnlichkeit mit einem elektrischen Schlagstock aus schwarzem Hartgummi besaß.

Sie winkte uns damit zu, und ich winkte dezent zurück. Während wir abfuhren, sah ich aus den Augenwinkeln, dass oben am Ende der Feuerleiter die Eisentür aufging und ein langer Lulatsch seinen Kopf heraussteckte.

Er hatte kurzes weißes Haar, das über den Ohren etwas zu hoch ausrasiert war, und dicke goldene Ringe an den Fingern. Dem Gesicht nach zu urteilen hätte es Helgas Sohn sein können.

Ich wäre gar nicht abgeneigt gewesen, auszusteigen, und ihn zu fragen, ob er für das doppelläufige Jagdgewehr in seinen Händen einen Waffenschein besaß. Aber Sums ängstliche Blicke hielten mich davon ab. Ich wartete auf das Geräusch eines aufheulenden Motors hinter uns oder einen Schuss, der von der Straßenecke aus unsere Heckscheibe zertrümmert. Doch wir bogen langsam in die Hauptstraße ein. Oder was sich in diesem Viertel Hauptstraße nannte …

Die Fassaden waren wegen der paar Leuchtreklamen nur unwesentlich heller als in den Seitenstraßen, aber die Straßenlaternen sahen immer noch so aus, als seien sie auf halbe Kraft geschaltet.

Sum warf einen ängstlichen Blick in den Rückspiegel.

“Keine Angst, wenn jetzt nicht gleich einer von Helgas Ballermännern auf seinem Rennmotorrad um die Ecke biegt, sind wir überm Berg …”

“Das wäre wirklich phantastisch.”

“Warum hast du dich überhaupt von dem Laden anheuern lassen, wenn du so wild darauf bist, ihn möglichst schnell wieder loszuwerden?”

Sum zuckte die Achseln und schwieg.

Ihr Schweigen klang, als wolle sie mir damit zu verstehen geben: Es hat einen Grund, Winger. So wie alles auf der Welt einen Grund hat, die abgeplatteten Felskuppen im Gebirge und die Risse am Meeresboden. Aber ich kann Ihnen jetzt noch nicht verraten, welchen. Es ist ein schreckliches Geheimnis. Es könnte uns beide ins Unglück stürzen.

Zumindest las ich das in ihrem verängstigten Gesicht. Vielleicht aber las es mein übernächtigtes Gehirn auch nur in dem Buch, das es selber aufgeschlagen hatte, weil mir mein Instinkt sagte, an der Geschichte, in der wir momentan steckten, sei wieder einmal etwas faul.

Unser Hotel lag nahe beim Spielkasino und war eines von der kleinen, aber feinen Sorte, die Spieler bei Laune halten sollen, Gewinner und Verlierer gleichermaßen, und bei den Verlierern ist das sicher kein ganz kleines Kunststück. Zwischen den Stämmen des Waldhang schimmerte der Stausee. Rechts davon befand sich der Parkplatz mit dem Kasinoeingang, und wenn man wollte, konnte man leicht die Auffahrt im Auge behalten.

Der Portier behandelte uns mit jener freundlichen Umsichtigkeit, die man eigentlich nur erwarten durfte, wenn man nach einem langen, sündenfreien Leben an der Himmelspforte angelangt war. Er hatte makellose Zähne, makellose Manschetten und manikürte Finger. Die Farbe seines Jacketts war auf das Tapetenmuster der Rezeption abgestimmt.

Er fragte nicht nach Sums Pass, obwohl das wahrscheinlich seine Pflicht gewesen wäre, sondern trug nur meinen Namen und den Vermerk “mit Begleitung” ein.

Er war die perfekte Verkörperung der Diskretion und zwinkerte nicht mal mit den Augen dabei.

Man sah seinem Gesicht an, dass er glaubte, ich hätte mir das Mädchen in Thailand unter den Nagel gerissen, weil mir unsere Emanzen eine Nummer zu groß waren für ein harmonisches Sexualleben. Oder weil nach seiner Überzeugung niemand so artistisch vom Kleiderschrank in die Lampe sprang wie diese Asiatinnen.

Am Fahrstuhl wandte ich mich noch einmal nach ihm um und machte das Siegeszeichen. Aber das war ihm schon etwas zuviel der Kumpanei, und er beugte sich ohne irgendein Anzeichen von Lächeln über seine Papiere.

Unsere Zimmer besaßen eine Verbindungstür. Ich platzierte Sum Nong in einen Sessel vor dem Fernseher und bat sie, sich nicht von der Stelle zu rühren, während ich ihr im Ort ein paar Sachen wie Unterwäsche, Zahnbürste und eine kleine Reisetasche besorgte.

“Und schließ bitte die hinter mir Tür ab, ja?”

Sum nickte geistesabwesend, dabei starrte das Fernsehbild an, als sei es eine Direktübertragung vom Mars.

“Irgend was nicht in Ordnung mit dem Film?”, fragte ich.

“Ich mache mir nur Sorgen, was jetzt aus mir werden soll. Mein Pass ist noch im Klub. Glauben Sie, ich bekomme eine Aufenthaltsgenehmigung, wenn ich nicht mehr dort arbeite?”

“Nein.”

“Weil die Bestimmungen so streng sind?”

“Weil unser Land nur für Menschen Verwendung hat, die ein paar Millionen in neue Fabriken investieren und viele Arbeitsplätze schaffen. Weil unser Sozialsystem aus dem letzten Loch pfeift, wenn es ein paar Asylbewerber und Wohlstandstouristen aus der Dritten Welt durchbringen soll und wir dann alle zum Frühstück billige Marmelade essen und die Heizungen kleiner drehen müssen.”

“Sind Sie vielleicht so was wie ein verkappter Sozialreformer, Ralf?”, erkundigte sie sich lächelnd.

“Nein, ich bin nur ein armer Schlucker, der dauernd was zu meckern hat, weil er in seinem Alter immer noch auf der Klappliege im Büro schlafen und seine Hemden zum Lüften an den Fenstergriff hängen muss.”

“Tatsache?” Sie legte kichernd ihren Arm um meine Hüften. “Weil Sie keine Waschmaschine besitzen? Dann sind Sie ja genau so arm wie ich?”

“Meine Mutter, ein schwarzes Mädchen aus Angola, hat mir beigebracht, dass trocken Brot und Wasser rosige Wangen macht – und Armut ein sonniges Gemüt.”

“Sie sind gebürtiger Angolaner? Sieht man Ihnen aber gar nicht an, dass Ihre Mutter …?”

“Nein, ich bin so weiß wie Schreibmaschinenpapier. Mein Vater war Chefkoch auf einem deutschen Ozeanklipper. Er lernte ein schwarzes Mädchen in Luanda kennen, das Schiff hatte einen Maschinenschaden, die Ersatzteile brauchten ziemlich lange von Europa aus – aber jetzt muss ich mich wirklich beeilen, um dir eine Zahnbürste zu kaufen, bevor die Läden schließen.”

“Das ist noch etwas, das Sie wissen sollten …”, sagte Sum, als ich schon in der Tür stand.

“Ja?”

“Ich bin nur nach Deutschland gekommen, um herauszufinden, was mit meiner Zwillingsschwester Nam passiert ist.” Sie schwieg und sah mich erwartungsvoll an. “Deswegen habe ich in Thailand Deutsch gelernt.”

Verblüffend gut Deutsch sogar, dachte ich. Jedenfalls für jemanden, der in armen Verhältnissen aufwuchs und sich kaum ein Universitätsstudium im fernen Bangkok leisten konnte. Also schloss ich die Tür wieder und setzte mich zu ihr in den Sessel. “Deine Schwester arbeitete im selben Klub?”

“Man hat sie ertrunken in einem Swimmingpool aufgefunden, ohne Spuren irgendeiner Gewaltanwendung. Es war ein Pool im Haus, und außer der Tür, die zum Flur führt, waren alle Türen, auch die Außentüren zum Garten, verschlossen.”

“Das heißt, die Polizei fand keine Erklärung für ihren Tod?”

“Meine Familie will trotzdem nicht glauben, dass Nam auf natürliche Weise gestorben ist.”

“Und wo wurde sie gefunden?”

Sum kramte einen Zettel aus der Tasche. “Der Mann heißt Herbert Keißen.”

“Wenn es der Keißen ist, den ich dem Namen nach kenne, dann ist er schon ziemlich alt für ein junges Mädchen wie deine Schwester, oder?”

Ich kannte Keißen vom Hörensagen. Er war ein bekannter Makler und Hausbesitzer in der Region. Keißen musste über fünfundsechzig sein. Wenn er wirklich zu den Wohnungshaien gehörte, wie manchmal behauptet wurde, dann ging er seinen Geschäften mit der nötigen Diskretion nach.

“Man sagt, er habe für die Zeit, als meine Schwester ertrank, ein hieb- und stichfestes Alibi.”

“Und welcher Art ist dieses Alibi?”

“Ich glaube, er war verreist.”

“Also gibt es Zeugen, die bestätigen können, dass er sich unmöglich zum Zeitpunkt ihres Todes in der Stadt aufgehalten haben kann, geschweige denn am Pool?”

“Man behauptet, er kann’s nicht gewesen sein.”

“Hat dieser Keißen deine Schwester … gekauft?”

“Sie nennen es nicht so. Bei ihnen heißt es 'Auslösung'.” Man wird angeworben. Ein Mann namens Brian Free, ein Engländer oder Amerikaner, kam in unser Dorf und suchte die Mädchen aus. Er arbeitet für verschiedene Abnehmer und Agenturen in Europa und organisiert die Ausreise.”

“Und wegen dieser Geschichte mit deiner Schwester hast du dir mein Bild in der Zeitung gemerkt? Weil ich eine Detektei betreibe?”

Sum lächelte verlegen. “Meine Familie hat etwas Geld gespart. Ich könnte Sie für Ihre Arbeit bezahlen.”

“Was macht dich so sicher, dass deine Schwester keines natürlichen Todes gestorben ist?”

“Als wir Kinder waren, sind wir jeden Tag im Meer schwimmen gegangen. Nam war die beste Schwimmerin, die ich kenne. Bei der Obduktion fand man keine Anzeichen für einen Herz- oder Gehirnschlag. Nicht einmal für eine vorausgegangene Ohnmacht. Sie ist einfach ertrunken.”

“Und dabei ließ man es dann bewenden?”

Sie zuckte die Achseln. “Es gab keine Hinweise auf ein Verbrechen. Menschen ertrinken nun mal, sagt die Polizei. Man bekommt aus irgendeinem Grund Wasser in die Lunge, und schon ist es passiert …”

Als ich Sum Nong im Hotelzimmer zurückließ, um ihre Sachen einzukaufen, brachte ich es nicht übers Herz, ihr zu sagen, wie wenig dafür sprach, dass ich mehr als die Polizei über den Tod ihrer Schwester herausfinden würde. Dazu hätte ich erst einmal die Akten des Gerichtsmediziners einsehen müssen.

Aber der würde sich nur müde lächelnd an den Hinterkopf fassen, wenn er von meinem Ansinnen hörte. Sollte ich Keißen zu dem Geständnis zwingen, dass er fähig war, sich an zwei Orten gleichzeitig aufzuhalten?

Oder dass seine Zeugen sich gerade von dem Geld für ihre Falschaussagen einen schönen Abend machten?

Genauso gut hätte ich auf einen jener glücklichen Zufälle bei meinen Ermittlungen hoffen können, die zwar manchmal vorkommen, aber leider meist nicht dann, wenn man sie am dringendsten braucht.

Ich schärfte Sum Nom noch einmal ein, die Tür abzuschließen und niemandem zu öffnen. Ich legte ihr eine Decke über die Schultern, weil sie fröstelte. Ich versuchte sie vergeblich davon abzubringen, mich zu siezen. Und bei alledem ließ ich sie in dem Glauben, sie könne mich vielleicht für ihren Fall gewinnen. Ich dachte, in ihrer Lage sei es besser, wenn sie sich möglichst wenig Gedanken darüber machte.

Doch als ich nach zwei Stunden mit einer nagelneuen Reisetasche, Marke “Kunststoff, der aussieht wie Krokodilleder”, und einem Satz schwarzer Damenunterwäsche zurückkehrte, war Sum Nong verschwunden. Ich sah mir die beiden Türschlösser zum Korridor an und leuchtete das Metall ab. Keine Spur von frischen Kratzern, die entstehen, wenn man Klammern oder die sogenannte “Zahnbürste” mit feinen rotierenden Drähten benutzt. Jemand schien eine der beiden Zimmertüren auf ganz normale Weise mit dem Schlüssel geöffnet zu haben. Vielleicht Sum Nong selbst? Aber warum hätte sie gegen meinen ausdrücklichen Rat das Hotel verlassen sollen?

Ich ging an die Rezeption hinunter. Dort erinnerte man sich nicht daran, dass sie weggegangen war. Der Parkplatzwächter hatte eine junge Asiatin mit zwei Männern in einen Wagen einsteigen sehen. Alte oder junge Männer? Brille oder keine Brille? Hut oder Mantel? Er wusste es nicht.

Er war so arglos und unwissend wie Gott bei der Erschaffung der Welt …

Er sah auch sonst Gott mit seiner goldglänzenden Schirmmütze und der dunklen Brille, die seine Augen gegen die ultraviolette Strahlung aus dem Ozonloch schützen sollte, verteufelt ähnlich; bloß dass an diesem Abend überhaupt keine Sonne mehr schien. Ich fragte mich, ob Gott vielleicht erblindet war, angesichts der Verbrechen in der Welt.

Aber das war eine Angelegenheit, auf die er mir keine Antwort geben würde. Er weigerte sich einfach, mit uns gewöhnlichen Sterblichen zu sprechen, vielleicht, weil er befürchtete, wir könnten ihm peinliche Fragen stellen. Also ging ich die gewundene Steintreppe durch den Wald zum Stausee hinunter und zündete mir eine selbstgedrehte Zigarette an, denn Nikotin beflügelt bekanntlich das Denkvermögen, und das wird besonders beansprucht, wenn man sich zu viele sinnlose Fragen stellt.

Das Stauseeufer war um diese vorgerückte Stunde menschenleer. Aber am anderen Ufer verbrannten ein paar verwahrloste Kinder aus den beiden Wohnanhängern Treibholz, das durch die Strömung übers Wehr getrieben wurde. Sie winkten mir mit den brennenden Scheiten zu, als sie mich entdeckten.

Dann warf einer der Jungen ein loderndes Stück Holz in den See, und einen Moment lang, als es in hohem Bogen herübergeflogen kam, dachte ich, er wolle mich auf irgend etwas aufmerksam machen – es beleuchte einen menschlichen Körper im Wasser. Bis ich meinen Irrtum erkannte und entdeckte, dass es nur ein abgesoffenes Ruderboot war.

Ich kehrte ernüchtert ins Hotel zurück, um einen Drink zu nehmen und über Sums Verschwinden nachzudenken. Mein Freund von der Rezeption hatte frei und bediente sich selbst hinter der Theke. Er trug ein gewöhnliches geblümtes Sakko aus hellgrünem Tuch mit orangefarbenem Seidenschal und Manschettenknöpfe, die aussahen wie ein halbes Pfund schwere bunte Glasmurmeln.

Sein Aufzug erinnerte stark an jemanden, der gleich auf einem Ball von Bergmannstöchtern eine Flotte Sohle aufs Parkett legen würde. Mit seiner Diskretion war’s in seinem Stadium nicht mehr weit her, denn er zwinkerte mir angesäuselt zu und lud mich auf einen Drink ein.

“Sind Sie nicht der Bursche, der kürzlich den Rechten gezeigt hat, wo es langgeht, als sie sich illegal im Bundestag einnisten wollten?”, erkundigte er sich nuschelnd und schob mir ein Päckchen Zigaretten hin. “Mit irgendwelchen Mätzchen, um die Öffentlichkeit zu täuschen?“

Ich erklärte ihm, dass ich gerade wieder mal versuchte, mir das Rauchen abzugewöhnen.

“Ihr Bild war in allen Zeitungen.”

“Diesmal bin ich inkognito.”

“Verstehe, das Mädchen in Ihrer Begleitung?”

“Sie meinen die Präsidentin des internationalen Tierschutzbundes?”

“Des internationalen Tierschutz…?”, fragte er sprachlos; sein Mund war halb geöffnet dabei, als lausche er auf seine rasselnden Atemgeräusche.

“Die ist auch inkognito hier”, sagte ich und hielt verschwörerisch meinen Zeigefinger vor die Lippen. “Wir legen größten Wert auf Diskretion – wegen der Anschläge der internationalen Tierhändler-Mafia. Deshalb haben wir uns auch Ihr schnuckeliges kleines Hotel ausgesucht.”

“Verstehe – Sie sind nicht besonders scharf auf meine Gesellschaft”, sagte er und trollte sich schleppenden Schritts und mit wehmütigem Blick über die Schulter davon.

“Falls Sie einen Gast verdächtigen, ein illegaler Hundefänger zu sein, dann melden Sie’s sofort der Polizei”, murmelte ich ihm nach, ebenfalls über die Schulter.

Danach widmete ich mich wieder dem Thema, für das ich hergekommen war. Ich brauchte zwei “Stausee-Spezial” – einem einheimischen Sprudelsaft mit viel Gewürzen und mehr als drei Schnapskomponenten –, um herauszufinden, dass mich Sum Nongs Fall interessierte. Ihr plötzliches Verschwinden, das sagte mir meine Intuition, war ein abgekartetes Spiel gewesen. Und jetzt stand ich plötzlich außen vor als der Dumme.

Ich hatte meine Vereinbarung mit Everding und Kranz nur unvollständig erfüllen können. Der Geldumschlag in meinem Jackett wurde bedrohlich leicht bei diesem Gedanken. Als ich mir vergegenwärtigte, um wie viel leichter er wurde, bestellte ich beim Barkeeper ein Taxi …

Trojanische Pferde

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