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Keißens Haus war nicht das, was ich erwartet hatte. Keine der protzigen Villen, die Leute mit seinem Einkommen aus der Portokasse finanzieren, sondern eine düstere Mietskaserne, eher Wohnblock als Haus, weil sie sich um zwei Straßenecken zog.

Am offenen Ende des Hufeisens befand sich ein verfallener Park, in dem gelbes Laub lag, und zwischen den Wänden des Innenhofs erstreckte sich ein ebenerdiger Flachdachbau, der über einzelne Gänge mit den Seiten des Hauptgebäudes verbunden war. In keinem der Fenster brannte Licht.

Die Fassaden sahen aus, als wenn sie ihren letzten Anstrich lange vor dem Untergang der Titanic erhalten hätten, und das war schließlich auch schon ein ganzes Weilchen her.

Ich zog an der altmodischen Türglocke, und es klang, als wenn ich um Mitternacht in einem verlassenen Kloster Einlass begehren würde. Genauso verloren, weit entfernt bimmelnd und vergeblich. Kein Schlurfen von Schritten aus der Ferne, kein mürrisch dreinblickender Mönch, der einem einsamen Wanderer das Nachtlager abschlug.

Als ich meinen Versuch zum drittenmal wiederholt hatte, entdeckte ich über mir das Kameraauge. Es war im Türrahmen eingelassen, da, wo sich einmal der Öffner für das Oberlicht befunden haben musste.

Ich hob ein vertrocknetes gelbes Blatt vom Boden auf, das die Straßenfeger beim letzten Großreinemachen übersehen hatten, feuchtete es mit Spucke an und klebte es auf das Objektiv …

Die Gegensprechanlage neben meinem Ohr knackte.

Einen Augenblick später ertönte der Summer. Ich drückte die Tür auf.

An der Decke über mir brannte eine armselige Glühbirne ohne Schirm, ungefähr so schummrig wie das Ding, das meinen Kühlschrank beleuchtete. Und dann noch mal eine über dem Treppenabsatz.

Keißen kam durch das hohe Treppenhaus herunter, eine Hand in der Tasche seines Sakkos. Als ich ihn sah, erinnerte ich mich wieder an seine Geschichte.

Sie war ein paar Mal mit den dazugehörigen Fotos durch die Lokalblätter und die Regenbogenpresse gegangen. Keißen war mal Schwimmchampion gewesen, bevor er es sich hatte leisten können, ein Imperium abbruchreifer Häuser zu erwerben, um damit möglichst viel Geld zu scheffeln. Er verlangte jedes Opfer von seinen Mitarbeitern und war gegen sie genauso hart wie gegen sich selbst.

Es kam mir merkwürdig vor, dass so einer sich auf seine alten Tage eine junge Thailänderin an Land gezogen haben sollte.

Er war jener Typ von Männern in vorgerücktem Alter, die alles für ihre Gesundheit und ein langes Leben tun. Ein hagerer hakennasiger Asket, der im Winter in vereisten Seen badete, um sich abzuhärten, und es ablehnte, bei Temperaturen unter Null wie gewöhnliche Senile einen Schal zu tragen. Seine Gesichtshaut sah aus, als habe der mongolische Wüstenwind daran schon mal zu Übungszwecken sein Mütchen gekühlt, und zwar mit gutem Erfolg.

“Hallo”, sagte er. “Ihr Scherz eben mit dem Blatt auf dem Objektiv hat mir gar nicht gefallen …”

“Ich würde Sie gern in einer Angelegenheit sprechen, die vor einiger Zeit die Polizei beschäftigt hat.”

Wir taxierten uns. Er hatte sympathische Augen aber einen etwas zu herben Zug um den Mund. Genau so streng, wie es sich für einen Mann in seinem Job gehörte.

“So? Na, da haben Sie Glück. Ich bin gerade dabei, für ein paar Wochen zu verreisen. Eine Kreuzfahrt durchs Eismeer.” Seine Stimme klang überraschend verbindlich. Ich nahm an, dass er fürs Eismeer schon seine Badehose eingepackt hatte, die Jahreszeit war günstig.

“Worum geht's denn?”, fragte er, als ich keine Anstalten machte, weiterzureden. “Doch wohl nicht immer noch um dieses arme thailändische Ding, das in meinem Swimmingpool ertrunken ist? Ich dachte, die Sache sei längst ausgestanden? Aber lassen Sie uns lieber ins Wohnzimmer gehen, da ist es gemütlicher.”

Das Haus war trotz des beginnenden Winters ungeheizt und düster und ungefähr so gemütlich wie die Lagerhalle eines Möbelspediteurs. Beim Eintritt entdeckte ich am Kaminsims im Bilderrahmen den Ausriss einer Zeitung, auf dem zwei junge Schwimmchampions in die Kamera lächelten. Die Schlagzeile lautete:

Kann Keißen junior an die legendären Siege seines Vaters anknüpfen?

Sie waren so drahtig und durchtrainiert, wie man’s nur eine gewisse Zeit lang im Leben sein kann, etwa zwischen achtzehn und achtundzwanzig. Das Wasser auf ihren braunen Bizeps perlte, als seien sie eingeölt. Keißen junior hielt seine Trophäe ins Bild. Er hatte einen Igelhaarschnitt, und seine glatte hohe Stirn über den etwas zu engstehenden düsteren Augen hätte keinen Seelenklempner glücklich gemacht, was die Prognose für sein ferneres Leben anbelangte. Der Name des anderen Schwimmers, der vertraulichen Haltung nach vielleicht ein Freund Keißen juniors, sagte mir nichts: Fritz Marten.

Ich setzte mich in einen der kalten, knarrenden Sessel am Fenster, von denen aus man in den Innenhof mit seinem Flachdachgebäude blicken konnte. Ich nahm an, dass sich darin der Swimmingpool befand.

“Macht's Ihnen was aus, wenn Sie uns in der Küche einen Drink mixen?”, fragte Keißen. “Ich habe keine sonderlich glückliche Hand dabei. Meine Gäste beschweren sich immer darüber, dass ich nie die richtige Mischung treffe.”

“Gern.” Ich mixte uns nebenan einen Cocktail nach dem Rezept von “Stausee-Spezial”, das ich auf der Karte der Hotelbar gelesen hatte. Er sah genauso trübe aus wie das Wasser im See, obwohl die Schwermetalle und Schadstoffe durch Tequila und Fernet Branca ersetzt worden waren.

Als ich in den Salon zurückkam, war der Zeitungsausschnitt vom Kaminsims verschwunden.

Ich erzählte Keißen meine Geschichte. Ich beschrieb ihm, wie mich die beiden Anwälte aufgesucht hatten. Ich schilderte ihm Sum Nongs “Entführung” und dass sie aus dem Hotel verschwunden war. Ich machte auch keinen Hehl daraus, dass sie mir gestanden hatte, sie sei Nams Zwillingsschwester. Keißen hörte mir schweigend zu. Seine Hände zitterten manchmal, aber nur ganz unmerklich.

“Ich habe seit meiner Jugend ein Diplom als Rettungsschwimmer”, sagte er. “Ich hätte das Mädchen sicher an Land gezogen, wenn ich damals zur Stelle gewesen wäre. Nam war eine gute Gesellschafterin. Sie sprach zwar nur wenig Deutsch, und von meinem Schulenglisch ist nicht mehr viel übriggeblieben in all den Jahren, aber mir genügte es schon, dass sie da war.”

“Sie leben allein?”

“Seit dem Tode meiner Frau.”

“Ein ziemlich großes Haus für einen alleinstehenden Mann.”

“Ich bin ein Mensch, der das Gefühl braucht, es gebe keine Wände um ihn herum. Es gibt sie zwar, überall in der Welt gibt es Wände, solche und solche. Daran kann man wohl nichts ändern. Aber in irgendeiner Wand befindet sich eine Tür, die weiterführt. Verstehen Sie, was ich damit sagen will?”

“Ehrlich gesagt, nein.”

“Ihre Antworten sind ziemlich unverblümt, Winger. Aber keine Sorge, ich mag das. Ich mag Menschen, die eine eigene Meinung haben.”

“Und was macht Sie so sicher, dass ich zu diesen klugen Knaben gehöre?”

“Manchmal reichen schon wenige Worte, um jemanden einzuschätzen.”

“Bei Ihnen könnte ich das guten Gewissens nicht behaupten …”

Er lachte. Wir taxierten uns wie zwei Boxer im Ring, die nach einer Schwachstelle suchten. Die Magengrube? Ein Schlag in die Nieren? Oder aufs Glaskinn?

“Wieso?”, fragte er.

“Am Geld kann’s nicht liegen, dass Sie so zurückgezogen leben, hab’ ich recht?”

“Na, was man so zurückgezogen nennt. Mir ist es allemal lieber, meinen Dachgarten in Schuss zu halten, als mich mit den Verrückten da draußen herumzuschlagen. Die eigentlichen Geisteskranken stecken nicht in den Irrenhäusern, sondern machen Politik und Geschäfte. Oder laufen frei herum und verkaufen den Leuten ihre fixen Ideen als ewige Wahrheiten. Sehen Sie sich doch an, was in der Welt passiert. Giftgasanschläge auf die U-Bahn in Tokio, Bombardierungen von Kurdendörfern im Irak, und der Krieg in Jugoslawien nimmt kein Ende …”

“Sum Nong ist nicht zufällig bei Ihnen?”, erkundigte ich mich.

“Nein, warum sollte sie?” Seine alten Augen leuchteten vor Spott. Obwohl seine Hände nach dieser Frage wieder ganz leicht zu zittern begannen. Vielleicht, weil der Gedanke an Nam und die Idee, er könne sie durch ihre Zwillingsschwester ersetzen, ihn nicht ganz unberührt ließ.

“Wie haben Sie und Nam miteinander gelebt? Wie haben Sie den Tag verbracht? Das arme Mädchen aus einer anderen Welt und der Geschäftsmann? Trete ich Ihnen zu nahe, wenn ich danach frage …?”

“Sie meinen, wegen unseres Altersunterschieds? Das denkt man doch immer in solchen Fällen. Reicher alter Knacker kauft sich hübsches junges Ding, um das Gefühl zu haben, er sei noch nicht ganz aus dem Rennen. Normalerweise würde ich niemandem auf so indiskrete Fragen eine Antwort geben”, sagte er verächtlich. “Aber bei Ihnen ist das was anderes, Winger. Kommen Sie, ich zeige Ihnen meinen Dachgarten …”

Wir nahmen unsere Gläser mit nach oben, und als er mir die Hand auf die Schulter legte und die Eisentür zum Dach aufschob, hatte ich für einen Augenblick das Gefühl, einen guten Freund gewonnen zu haben, bei aller Vorsicht, was solche Superlative anbelangt, weil er mich aus irgendeinem Grund, für den man niemals wirklich eine Erklärung findet, in sein Herz geschlossen hatte.

Obwohl ich das Gefühl nicht loswurde, dass sein Herz ein großer Eisklumpen war, so kalt wie das Wasser, in dem er schwamm, und dass ich eher auf der Oberfläche des Eises herumkrabbelte wie ein Käfer, der aufpassen musste, sich nicht die zarten Füßchen zu verkühlen.

Keißens Dachgarten war eine Sache für sich. Er nahm fast das ganze Flachdach des Traktes ein und hatte eine Länge von etwa sechzig mal fünfundzwanzig Metern. Wenn man an der Brüstung stand, konnte man die Masten der U-Bahn sehen, die hier für ein paar hundert Meter wegen der Bergbauschäden den Untergrund verließ und am Naturkundemuseum wieder im Boden versank.

Die meisten Gewächse standen in steinernen Kübeln und flachen Behältern, lediglich in der Mitte des Gartens war der Boden zu einer größeren Anbaufläche aufgeschüttet.

Ich hatte gar nicht gewusst, dass in unseren Breiten so viele tropische Pflanzen gedeihen. Aber dann entdeckte ich die Fußbodenheizung und sah, dass man die beiden Plastikkuppeln an den Seiten der Fahrstuhltürme bei schlechter Witterung ausfahren konnte. Auf diese Weise wurde sein Dachgarten zum Treibhaus.

“Hier arbeite ich fast jeden Tag bis spät in die Nacht”, erklärte er stolz. “Sehen Sie sich mal die Blütenpracht an, Ralf. Das ist die Frucht eines langen Lebens, dazu braucht es Liebe zu den Pflanzen und viel Wissen. Solche Blüten gibt’s nicht mal im exotischen Garten. Und das um diese Jahreszeit.

Die Botaniker kommen zu mir und lassen sich erklären, wie es geht. Aber bei ihnen klappt es nicht. Sie können meine Ergebnisse nicht reproduzieren, weil die Seele nicht dabei mitspielt”, sagte er und tippte sich an die Schläfe. “Es sind nur Techniker, Verstandesmenschen. Sie haben kein Herz für Pflanzen.”

“Beeindruckend”, sagte ich und stellte mein Glas auf dem Tisch ab. “Wirklich beeindruckend …”

“Nam und ich haben fast jeden Abend hier gesessen.” Er zeigte sichtlich betrübt auf eine Gruppe Liegestühle unter dem durchsichtigen Kunststoffdach. “Wollen Sie ein Foto von ihr sehen?”

“Nein, ich hatte bereits Gelegenheit, das ebenso ansehnliche Duplikat zu begutachten.”

“Ihre Schwester – ja, richtig. Nam war mein Leben. Sie stammte aus einem Dorf an der Küste. Ihr Vater arbeitete als Gärtner in einem Touristenhotel. Er fuhr jeden Tag über fünfundzwanzig Kilometer mit dem Fahrrad zur Arbeit, um das Geld für den Bus zu sparen. Dabei sind die Buspreise in ihrem Land lächerlich billig.”

“Wie hat Nam denn all Ihren Reichtum verkraftet?”, fragte ich.

“Oh, sie war nicht sehr anspruchsvoll. Und Sie sehen ja, wie ich lebe. Ich mache mir nicht viel aus Möbeln und teueren Einrichtungen."

“Wie haben Sie den Tag verbracht?”

“Nam schwamm gern. Genauso wie ich.”

“Sie haben einen eigenen Pool, nicht wahr?”

“Es ist der große Flachbau da unten”, sagte er und zeigte in den Innenhof. ”

“Da ist sie ertrunken?”

“Seitdem kann ich es kaum noch ertragen, dort zu schwimmen.”

“Was halten Sie denn davon, dass der Gerichtsmediziner glaubt, sie sei kerngesund gewesen zum Zeitpunkt ihres Todes.”

“Glaubt er das?”

“War sie’s etwa nicht?”

“Oh, ich war sehr bemüht um ihre Gesundheit. Das Klima hier in unserem Land ist für Asiaten nicht besonders zuträglich. Sie leiden alle darunter. Es darf kalt oder warm sein, so kalt wie im Himalaja, das überstehen sie schon. Aber nicht ein halbes Jahr bedeckter Himmel und feucht.”

“Na, hier bei Ihnen ist’s ja auch nicht gerade anheimelnd, ich meine, was die Heizung anbelangt …”

“Weil die Anlage defekt ist. Diese Burschen schaffen es nicht, den Regler für die Luftzufuhr einzustellen. Ich prozessiere schon seit Wochen mit dem Hersteller.”

“Vielleicht sollte Sie einfach mal ‘ne Schippe Briketts nachlegen, Keißen?”

Sein Gesichtsausdruck veränderte sich schlagartig, als ich ihm unterstellte, er sei ein alter Geizkragen, der seine Mitmenschen lieber frieren ließ. Aber dann fand er wohl heraus, dass es nur eine gezielte Provokation war, um ihn ein wenig aus der Reserve zu locken. Und er war nicht gewillt, sich diese Blöße zu geben. Er lächelte und taxierte mich, als sei ich ein abbruchreifes oder renovierungsbedürftiges Haus, mit dem er vielleicht einen guten Schnitt hätten machen können, wenn's ihn gerade an der Stelle gejuckt hätte. Aber es interessierte ihn nicht.

“Gehen wir wieder nach unten, ja?”

‘Nach unten’ war wohl nur die höfliche Umschreibung von ‘Jetzt aber raus, mein Lieber’. Auf der Treppe fiel ihm ein, dass er vor seiner Abreise noch ein paar wichtige Telefongespräche ins Ausland zu führen hatte.

“Sie sind doch mindestens genauso stark daran interessiert, etwas über Nams wahre Todesursache zu erfahren wie ihre Familie und die Polizei”, sagte ich. “Oder liege ich da falsch?”

“Hat Nams Familie Sie beauftragt?”, fragte er.

“Ich suche ein verschwundenes Mädchen, das ist alles.”

“Und für wen arbeiten die beiden Anwälte, die Sie engagiert haben?”

“Keine Ahnung. Angeblich für einen Verein gegen den fortschreitenden Verfall der Sitten in der Stadt.”

“Das nehmen Sie ihnen ab?”

“Ich weiß nicht – ich weiß nicht, wem ich was abnehmen soll. Aber das ist in meinem Job schon fast so etwas wie eine Berufskrankheit …”

“Na, dann sehen Sie mal zu, dass Sie bald wieder von Ihrem Fieber genesen, Winger”, sagte er und reichte mir zum Abschied die Hand. Er brachte mich zur Haustür und ließ mich wissen, es sei zwecklos, noch einmal in derselben Angelegenheit vorzusprechen. Wegen des Eismeers.

Er hatte einen groben Fehler gemacht, und ich war fest entschlossen, herauszufinden, wieso.

Trojanische Pferde

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