Читать книгу Winger - Peter Schmidt - Страница 6
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ОглавлениеJemand riss mich an den Haaren hoch, und von sehr weit weg hörte ich eine Frauenstimme meinen Namen rufen. Ich öffnete die Augen, aber um mich herum blieb es dunkel ...
Ich spürte, dass mir meine Jacke über dem Gesicht hing. Es roch nach Schweiß und öffentlicher Toilette, nach abgestandenem Bier, und in alledem klang das Schnarren des Lautsprechers an der Decke schmerzhafter, als es das Ordnungsamt erlauben sollte.
Plötzlich wusste ich wieder, wo ich mich befand – und dass der Geruch nicht das typische Ambiente des Lokals sondern meine eigene Ausdünstung war.
"Sind Sie wach oder schlafen Sie?", erkundigte sich eine Frauenstimme über mir.
"Ich bin wach, alles in Ordnung – mir geht's blendend ..."
Dabei sah ich durch die Glastür der Bar auf die beleuchtete Straße. Diese Stadt ... wie war noch gleich ihr Name? Na ja, rhetorische Frage – konnte überall sein …
Hauptsache, man erkennt sich selbst wieder, wenn man aus seinem Rausch erwacht. Überhaupt ist das eines der großen ungelösten Rätsel der Natur.
Woran erkennt man eigentlich, dass man noch derselbe ist wie gestern?
Jemand versetzte mir einen sanften Tritt gegen den Oberschenkel und zog mir die Jacke vom Gesicht. Eine Frauengestalt beugte sich über mich und öffnete meinen Kragen – schlanke, weiße Beine, etwas zu langes Kleid ...
Ich blinzelte nach oben, um ihr Gesicht auszumachen. Aber es schwebte wie bei einer Sonnenfinsternis vor dem grellen Lichtkranz der Deckenleuchte.
"Kennen wir uns?"
"Das will ich doch hoffen. Ich zahle Ihnen hundertfünfundsiebzig pro Tag, damit Sie mich vor ein paar zudringlichen Kerlen beschützen, aber momentan wirken Sie eher so, als wenn ich Sie beschützen müsste."
"Alles in Ordnung", sagte ich. "Sie können sich auf mich verlassen."
"Dann sehen Sie mal zu, dass Sie wieder auf die Beine kommen. Wir haben wohl ein paar Etablissements zu viel gemacht? Mixgetränke scheinen Ihnen ja überhaupt nicht zu bekommen." Sie griff mir unter die Achseln und versuchte mich aufzurichten.
"Mixgetränke?"
"Ihre Privatmischung. Wodka, mit reichlich Gin, einem Spritzer Flüssigei und Zitrone abgeschmeckt."
"Pfui, Teufel, Flüssigei ... erinnern Sie mich nicht daran. Mir ist schon übel."
"Geschieht Ihnen ganz recht – und lassen Sie sich nicht so hängen, verdammt noch mal."
"Wird schon wieder werden."
"Ich denke, heute taugen Sie nur noch dazu, Ihren Rausch auszuschlafen."
"Danke." Ich versuchte vergeblich vom Boden in die Hocke zu kommen. "Wer bin ich?"
"Gute Frage. Sie sind die schäbige kleine Nachahmung eines Detektivs, dem angeblich niemand Angst machen kann. Sie vermieten Ihre Fäuste, aber Sie beziehen mehr Prügel, als Sie austeilen.
Sie betreiben eine Detektei im – wie Sie das selber nennen – Rotationsverfahren. Sobald der 'Glücksklee' raus ist, wechseln Sie das Revier.
Sie sind in einschlägigen Kreisen so bekannt und gern gesehen wie ein Penner in dem Klubsesseln des Hilton. Sie brauchen dringend eine Rasur und ein Vollbad – und ein paar Jahre psychotherapeutische Behandlung.
Ihre Freundin ist Ihnen weggelaufen und Sie tragen zwei verschiedene Strümpfe. Ihre Goldzähne sehen aus, als wenn Sie selber daran herumgefeilt hätten.
Und was Sie gewöhnlich als Hut auf dem Kopf tragen, erinnert eher an einen gefrorenen Aufnehmer als eine seriöse Kopfbedeckung. Reicht das?"
"Reicht", bestätigte ich und sank erschöpft zurück.
Die Wahrheitsliebe mancher Frauen kennt keine Grenzen. Vielleicht würde sie ja noch irgend etwas Schockierendes zutage fördern, das mir gerade entfallen war. Für derartige Neuigkeiten fühlte ich mich momentan zu schwach.
Langsam kehrte meine Erinnerung zurück: Sie hieß Linda – hübscher alter Name, von Sieglinde auf die Kurzversion umgefummelt, damit's moderner klingt – und zog mit mir durch ein paar Frankfurter Etablissements, um sich in der Szene umzusehen.
Wozu, darüber schwieg sie sich noch aus. Sie hatte mich als ihren Beschützer engagiert. Ich stellte keine Fragen, denn Diskretion ist in meinem Gewerbe Ehrensache. Ich hatte draußen zu warten und nur mit Drohgebärden hereinzustürmen, wenn sie Hilfe brauchte.
Es schien eine Menge zu feiern zu geben bei ihren Unternehmungen. Vielleicht versuchten wir damit auch nur unsere angeschlagenen Nerven zu beruhigen. Und zwischendurch schien sie sogar etwas gefunden zu haben, denn nachdem sie ein Mädchen in einem Nachtklub hinter dem Bankenviertel befragt hatte, begann sie sich plötzlich dafür zu interessieren, ob es irgendwo am Stadtrand ein Jagdhaus gab.
Aber vorher widmeten wir uns erst einmal den Lokalen und schäbigen kleinen Vergnügungsetablissements der Hinterhöfe.
Linda war nicht kleinlich. Dreizehn Bars und alles was dazu gehört. Oder waren es dreiunddreißig gewesen? Solche Züge bringen manchmal meinen Zählrhythmus durcheinander.
Sie steckte ihre Cocktails weg, wie kapitale Holzfäller eine große Dose Bier herunterspülen, obwohl ich angesichts dieser Lebensweise nicht mal den Ansatz von Tränensäcken unter ihren schönen blauen Augen entdecken konnte.
Ich folgte ihr auf Schritt und Tritt und behielt ihren hübschen Hintern im Auge. Ich gab ihren Mantel an der Garderobe ab, besorgte ihr eine Zahnbürste in der Drogerie gegenüber, begleitete sie zum Taxi und fuhr mit ihr durch die Stadt.
Manchmal waren die Häuser alt und schäbig, mit verkommenen Hinterzimmern und demolierten Fluren, dann wieder noble Villen oder passable Bungalows. Und einmal war tatsächlich ein Jagdhaus irgendwo weit draußen darunter, das sich sehen lassen konnte mit seinem tief heruntergezogenen Dach aus Schiefer und der gemütlichen Holzveranda.
Gerlach, der Verwalter, zeigte Linda eine Stelle dicht am Waldrand hinter dem Haus, und als sie wieder zurückkamen, sah sie aus, als wenn sie sich gleich übergeben müsse.
Aber immer gab es irgendwo eine Hausbar, wo man sich den großen Bewusstseinsveränderern widmen konnte. Irgendwann bekam ich mit, dass wir eine junge Frau oder einen alten Mann suchten. Wenn das nicht ohnehin dasselbe ist. Vom kleinen Zwischenspiel am Jagdhaus abgesehen, wirkte Linda an jedem Platz gleich überzeugend: im Licht von Punktstrahlern genauso wie unter den gelben Glühlampen im Hinterzimmer eines Billardcafés. Ihr Gesicht sah aus, als sei sie geradewegs aus der Leinwand, auf der ein alter amerikanischer Gangsterfilm lief, zu uns gewöhnlichen Sterblichen herabgestiegen.
"Wieso vertragen Sie eigentlich so viel?“, fragte ich, als wir wieder draußen auf der Straße standen.
"Da ist irgend etwas mit meinen Hormonen. Ich habe zu viele männliche Hormone abbekommen. Das glauben jedenfalls die netten bebrillten Weißkittel, die meinen Stoffwechsel in der Universitätsklinik untersucht haben. Ich bin so was wie ein biologisches Wunder."
"Der Frauentyp der Zukunft", bestätigte ich.
Linda verfrachtete mich in ein Taxi, und wir sausten durch die Nacht.
Was für prächtige Fassaden doch ein paar Millionen hervorbringen, die sonst ein klägliches Dasein als hinterzogene Steuern auf ausländischen Nummernkonten fristen würden und jetzt viel weniger Ärger als legale Betriebsausgaben machen: verspiegelte Jeanspaläste, Pornokinos, doppelstöckige Griechen mit künstlichen Weinranken und hohlen Gipssäulen. Und dazwischen bleiche Drogensüchtige und polnische Großdealer in langen Pelzmänteln.
Irgendwie schaffte ich es während dieser angebrochenen Nacht, Linda über Treppen und endlos lange Korridore ins Hotel zu folgen. Unsere Zimmer lagen Tür an Tür.
Ich fragte sie, mit wem sie liiert sei, aber sie blieb mir die Antwort schuldig.