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ОглавлениеWährend wir zum Wagen gingen, versuchte ich Bilanz zu ziehen. Linda hatte in der Zeitung das Phantombild eines Mädchen gesehen und sich gefragt, warum die Polizei wohl so sparsam mit ihren Informationen umging, warum sie keine Angaben über die Art des Verbrechen machte. Das schien ihren journalistischen Ehrgeiz herauszufordern. Angeblich war die junge Frau Prostituierte oder Callgirl. Also hatte Linda sich kurzerhand einen Leibwächter zugelegt – und dieser Leibwächter war zufällig ich –, um mit ihm durch die einschlägigen Etablissements der Stadt zu ziehen.
Bei der Suche war sie auf ein anderes leichtes Mädchen gestoßen, das die Frau auf dem Phantombild kannte. Ihrer Meinung nach hieß sie Rosa Vanessa und hatte mit ihr im Eduardo zusammengearbeitet. Rosa hätte sich kürzlich einen Kerl namens Robert Elmond geangelt, einen wohlhabenden Rechtsanwalt, und sei mit ihm in ein Jagdhaus vor der Stadt gezogen. Also hatte Linda nach einen Jagdhaus in der Umgebung gesucht und einen Verwalter namens Horst Gerlach aufgetrieben, der ihr berichtete, Elmonds Frau Elvira habe vor ein paar Tagen wegen ihres Mannes Vermisstenanzeige aufgegeben, und wenig später hätte man eine bis zur Unkenntlichkeit verbrannte Leiche hinter Elmonds Jagdhaus gefunden. Deshalb zögere die Polizei noch, bei der Fahndung vom Tod des Rechtsanwalts zu sprechen. Mit diesen Informationen war Linda weiter durch die Etablissements getingelt und hatte herausbekommen, Rosa sei plötzlich über alle Berge, habe aber ein paar Tage vor ihrem Verschwinden noch vollmundig verkündet, sie werde bald das Eduardo übernehmen und den Geschäftsführer feuern.
Wie das? hatte Linda sie sich gefragt, wenn Eduardo doch der rechtmäßige Besitzer des Ladens war. Und so war sie auf den kleinen Bluff verfallen, Eduardo mit dem Hinweis auf seinen – vermuteten – Teilhaber aus der Reserve zu locken, um noch ein wenig mehr über die Hintergründe von Elmonds Tod und das Verschwinden des Mädchens Rosa erfahren.
So gut so schön, allerdings war mir nicht ganz klar, wieso sich Eduardo überhaupt so leicht von Linda hatte in die Enge treiben lassen.
"Und warum befürchtet Eduardo, sein toter Kompagnon Elmond würde jetzt noch irgendwelche Rechte gegen ihn geltend machen?“, fragte ich, als wir in den Wagen stiegen, um uns ein zweites Mal an Elmonds Jagdhaus umzusehen.
"Na, weil ich ihn deswegen in die Pfanne hauen könnte", sagte Linda. "Haben Sie eigentlich während der ganzen Zeit auf Ihren Ohren gesessen, Winger?"
"Jemand, der als Strohmann und wirklicher Inhaber auf Nummer Sicher gehen will, wird natürlich irgendwelche Vorkehrungen für sein Eigentum treffen."
"Eben – das Eduardo ist mit Bau und Grundstück ein paar Millionen wert. Robert wird es Eduardo kaum auf Treu und Glauben überlassen haben."
"Aber Eduardo steht als rechtmäßiger Besitzer im Grundbuch?"
"So was regelt man leicht durch einen Sichtwechsel. Der ist undatiert und wird erst bei Vorlage fällig. Eduardo musste also jeden Tag damit rechnen, sein angeblich rechtmäßiges Eigentum zu verlieren. Wahrscheinlich hat er nicht mal die Hälfte, sondern überhaupt keinen einzigen Pfennig in das Geschäft investiert und profitiert nur durch seinen Anteil am Gewinn aus dem Laden. Die Zahlungsverpflichtung des Wechsels ist rechtlich gesehen vom Grund, aus dem die Schuld entstanden ist, unabhängig. Was wirklich hinter dem Geschäft steckt, danach kräht kein Hahn, das geht niemanden bei der Vorlage des Wechsels etwas an."
"Aber jetzt scheint Elmond tot zu sein?"
"Na, er wird sich natürlich für den Fall seines Todes abgesichert haben. Der Wechsel ist wahrscheinlich so ausgestellt, dass er ohne Probleme auf Elmonds Erben – seine Frau oder seinen Sohn – übergehen kann."
"Und bei einem Notar hinterlegt?"
"Zum Beispiel, ja."
"Dann verliert Eduardo seinen Laden auch, ohne dass Sie ihn deswegen in die Pfanne hauen, oder?"
Linda warf mir einen Blick zu, als hätte ich in der Hilfsschule meine Nachhilfestunden verschlafen – als zeuge meine Frage wieder einmal von meiner grenzenlosen Naivität in Sachen Geld. Aber schließlich ließ sie sich doch zu einer Antwort herab:
"Elmond wird natürlich ungern zugeben, in welchen Geschäften er seine Finger hat, auch gegenüber seiner Frau und seinem Sohn. Das hat ihm schon mal eine Niederlage bei der Wahl zum Oberbürgermeister eingetragen. Um den Wechsel beim Notar zu aktivieren, müsste jemand seine Ansprüche darauf anmelden. Da niemand außer uns beiden und Eduardo etwas davon weiß, bleibt er ein wertloses Stück Papier."
"Alle Achtung, so wird so was heutzutage gedreht?“, sagte ich nachdenklich.
"Stellen Sie sich eigentlich dümmer an, als Sie sind, Winger?“, fragte sie missbilligend und legte krachen den ersten Gang des Wagens ein. "Oder versuchen Sie sich mit ihren halbgaren Fragen bloß ins Geschäft zu bringen?"
"Ich finde, Misstrauen mir gegenüber ist ganz unangebracht", sagte ich. "Und wenn Sie die ganze Republik absuchen – Sie werden keinen Klienten finden, der mir nachsagen könnte, ich hätte ihn geschäftlich übers Ohr gehauen."
"Das sieht man an Ihrem Ein-Mann-Büro mit Klappliege", bestätigte sie abfällig.
"Ja, Ehrlichkeit zahlt sich nicht aus."
"Wenn Sie schon Ihre Fäuste gebrauchen, dann sollte auch etwas dabei herausspringen, finde ich."
Vor der Fahrt zu Elmonds Jagdhaus machten wir Halt an einem rustikalen Landgasthaus, in dem es noch alte Frankfurter Hausmannskost gab. Kein neumodisches Zeug mit "Dressing light" oder "Magermilchjoghurt", sondern ganz gewöhnliche Mayonnaisen aus Eiern von freilaufenden Hühnern, deren Treiben man hinter dem niedrigen Gartenzaun beobachten konnte. An den niedrigen Deckenbalken hingen Kessel und Pfannen, und im Gästezimmer stand ein gekachelter Küchenherd aus Omas Zeiten. Die Wirtin war fast genauso alt wie der Herd, aber immer noch eine Seele von Mensch, obwohl sie mehr gesehen haben musste in ihrem Leben, als man einem einzelnen Menschen zumuten sollte.
Während des Essens fiel Linda plötzlich ein, dass Elmonds Hausverwalter, früh zu Bett ging, und sie wollte sofort aufbrechen.
Ich überredete sie nur mit Mühe dazu, noch einen Abstecher zu meiner neuen Mainzer Detektei zu machen, damit ich mir den Posteingang ansehen und ein paar frische Hemden einpacken konnte. Wir brauchten fast eine halbe Stunde für die fünfzehn Kilometer Luftlinie, weil irgendein Autofahrer schneller als die anderen hatte sein wollen und frontal gegen einen Brückenpfeiler geprallt war.
"Großer Gott", jammerte sie, als wir an dem schwarzen Blechgerippe des ausgebrannten Wagens vorüberfuhren, und hielt sich bleich an meiner Schulter fest. "Sind wir eigentlich alle übergeschnappt? Was ist bloß mit diesem Land los? Sehen Sie sich nur die Heerscharen von Schaulustigen an."
"Das ist Unfall pur – echtes, unverfälschtes Schicksal ohne Kameratricks und Kommentatoren. So was wird nicht mal im Fernsehen geboten."
"Sind Sie etwa auch einer von diesen unausstehlichen kleinen Zynikern, die längst auf Spott statt Menschlichkeit umgeschaltet haben?"
"Nein, wenn Sie mich erst besser kennengelernt haben, werden Sie finden, dass ich ein ganz patenter Kerl bin."
Anscheinend war Linda nicht so hart im Nehmen, wie sie vorgab. Aber eine Viertelstunde später schien sie schon wieder fast die Alte zu sein. Sie spazierte durch das Apartment, stieß mit der Fußspitze gegen meine Klappliege, öffnete die Einbaukleiderschränke, wühlte ohne Hemmungen in ein paar Aktenstapeln und setzte sich dann auf einen der drei Besucherstühle, um spöttisch und mit übereinandergeschlagenen Beinen mein Treiben zu beobachten.
"Wo duschen Sie eigentlich, Winger?"
"Im Flur gibt es eine Gemeinschaftsdusche für die ganze Büroetage."
"Gemeinschaftsdusche, aha. Ist es überhaupt erlaubt, in seinem Büro zu wohnen?"
"Bis jetzt hat sich noch niemand darüber beschwert."
"Und warum haben Sie keine eigene Wohnung wie jeder normale Mensch?"
"Finden Sie nicht, dass das meine Privatsache ist?"
"Nehmen wir mal an, ich würde zu Ihnen ziehen ..."
"Ja?"
"Nur hypothetisch. Glauben Sie im Ernst, dass eine Frau in diesem Loch mit Ihnen zusammenleben könnte?"
"Ihre Fragen erinnern mich an die Sprüche der guten alten Briefkastentante, die für alles eine Lebensregel parat hat und auf alles eine Antwort weiß. Aber es gibt eine Menge Burschen hier im Lande, die unter Markständen übernachten und sich dabei ganz wohl fühlen."