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Die Frage, ob es den Teufel gab, brachte mich trotzdem in nicht geringe Schwierigkeiten, denn ich war ihm längst leibhaftig begegnet – während meines Wechsels zu einer anderen Schule nach unserem Umzug! Diesmal hatte er die Gestalt eines Schülers meiner Klasse angenommen: Harald Piper Müller …

Jemand musste ihm den teuflischen amerikanischen Vornamen »Piper« verpasst haben, um von seiner wahren Natur abzulenken. Ich hatte schon Tage und Nächte damit verbracht, ihn zu überführen, wie er gerade seinen Pferdefuß kratzte oder seine Hörner polierte, um bei den Mädchen Eindruck zu schinden.

Aber auf irgendeine durchtriebene Weise verstand er es immer, sich wieder rechtzeitig in seine harmlose Menschengestalt zurückzuverwandeln.

Piper hätte mir völlig gleichgültig sein können, wäre er nicht Anne-Maries älterer Bruder gewesen. Seine Schwester war das schönste Mädchen auf dem Schulhof. Ihr feuerrotes Haar wurde von einem schwarzen Lederstirnband mit indianischen Ornamenten zusammengehalten, das mich wohlig erschauern ließ, weil es mich an den Marterpfahl erinnerte. Ich verpasste keine Gelegenheit, ihr unter die Augen zu laufen. Aber sie quittierte meine Annäherungsversuche immer mit verlegenem Lächeln. Ich war wenig einfallsreich, was mein Werben um sie anbelangte. Manchmal starrte ich sie nur wie gelähmt an.

Piper hatte herausgefunden, was mit mir los war. Seitdem machte wer mir die Schule zur Hölle. Er wandte nie rohe körperliche Gewalt dabei an, sondern setzte lieber etwas ein, das viel stärker auf uns wirkt – Worte.

Nach meiner Einstandsparty an der Schule war es ihm und ein paar anderen betrunkenen Schülern gelungen, über den Baum vor meinem Fenster in mein Zimmer einzusteigen, um nach einem vermuteten Tagebuch zu suchen, in dem ich, wie Piper ganz richtig hoffte, meine unglückliche Liebe zu seiner Schwester zu Papier gebracht hatte.

Wie meine Schwester Anja waren sie prompt fündig geworden und hatten mein verdammtes Tagebuch aufgestöbert (das besagte billige Notizheft), und der erste Satz darin, datiert zweieinhalb Monate vor meinem sechzehnten Geburtstag, lautete nun einmal, dass ich mich entschieden hatte, fortan der Sexualität zu entsagen, weil sie eine Irreführung des Intellekts sei. Es gab auch ein paar Bemerkungen über seine Schwester darin, die wahrscheinlich noch peinlicher wirken würden.

Also ließ dieser Teufel Harald Piper Müller keine Gelegenheit aus, in der Klasse mit halblauter Stimme daraus zu deklamieren, als zitiere er aus Dantes Göttlicher Komödie. Es machte mich krank.

Ich verlor vier Kilo Gewicht. Meine Gesicht nahm eine fahlgraue Färbung an. Mein Rücken war gebeugt, wie ich im Spiegel feststellte. Ich hatte nur noch eines im Sinn – dem dreisten Grinsen dieser Spötter zu entgehen.

Nach meinem Missgeschick mit Karola hätte mich nichts in der Welt dazu bewegen können, es noch einmal mit ihr zu versuchen. Dabei gab sie mir bei ihren Nachhilfestunden zu verstehen, dass sie unser kleines Abenteuer durchaus als amüsant empfunden hatte. Ich fürchtete, dass ein weiterer Fehlschlag meine »Impotenz« fixieren könnte.

In meinem Notizheft stellte ich lange Betrachtungen darüber an, ob ich bei Anne-Marie genauso versagen würde.

Ein gefundenes Fressen für Piper. Unser Klassenlehrer Alfons Donelli, ein gebürtiger Italiener, der Deutschland zu seiner Wahlheimat erklärt hatte, war im Nebenfach Religionslehrer.

Obwohl er nicht genau mitbekam, worum es ging, weil Piper als geborener Teufel (ich hatte sein Gesicht auf Hieronymus Boschs Weltgerichts-Triptychon entdeckt!) sein Wissen sehr geschickt einsetzte, spürte er doch die dunkle Wolke von Hass und Grausamkeit, die uns umgab.

Meine Mitschüler hatten ihr Opfer gefunden, um von ihren eigenen Schwächen abzulenken, und Donelli versuchte dieses makabere Spiel nach Kräften abzuschwächen.

Er hatte ein feines, kultiviert wirkendes Gesicht, das mich an Alexander Montag erinnerte, obwohl er gut und gern dreißig Jahre jünger war. Wir wussten, dass ihm mehr als alles andere daran lag, uns sein Nebenfach, die Religion nahezubringen. Die anderen Fächer waren – bei aller wissenschaftlichen Strenge – nur Vorbereitung für ihn, ein Forum, den einen oder anderen Gedanken über die Kraft des Guten in der Religion einfließen zu lassen.

Natürlich war ihm klar, dass man dabei auf gar keinen Fall mit der Tür ins Haus fallen durfte. In einer Zeit, in der der Zynismus die vorherrschende Bewusstseinsverfassung ist, scheint es dafür nur einen gangbaren Weg zu geben: das persönliche Vorbild. Donelli war das Vorbild par excellence.

Der Papst hätte ihn auf der Stelle zu seinem Vertrauten erklärt und seine spätere Heiligsprechung erwogen, wäre er nur einziges Mal seiner aufrichtigen Seele gewahr geworden. Donelli lief mit einem seligen Lachen durch die Schule, das Gesicht leicht zu den Wolken angehoben, als empfange er bereits die höchsten Weihen des Himmels.

Seine Tragödie war, dass ihm niemand auch nur ein einziges Wort abnahm. Seine Schüler glaubten eher an Satan und an böse Geister als an eine Weltseele, die trotz ihrer Allmacht so etwas Verrücktes wie blutrünstige Moskitos, Haie in der Tiefsee und Prostatakrebs geschaffen hatte. Was hätte ihren Verdacht widerlegen sollen, dass dieser Gott entweder gar nicht existierte oder übergeschnappt war?

Aus demselben Grund sahen sie auch keinen Anlass, mit ihren Grausamkeiten und Sticheleien aufzuhören. Warum auf das Vergnügen verzichten, wenn es keinen Lohn für Wohlverhalten und keine Strafe für Gemeinheiten gab? Seine Schwester musste meine Notizen ebenfalls gelesen haben.

Auf dem Schulhof galt ich nur noch als Der Impotente. Warum sollte Anne-Marie sich mit einem solchen Individuum kompromittieren? Welchen Sinn hatte es, sich mit einem Versager abzugeben?

Mein Universum war so grau wie mein Gesicht; der schwarze Nachthimmel über mir ein getreuer Spiegel meiner Seele; die treibenden Wolken die Schwingen der Raubvögel; jedes Geräusch ein elektrischer Schlag in meine Eingeweide; das graue Regenwasser in den Straßenrinnen der Saft der Verwesung.

Und meine Trauer wuchs mit jedem Zucken des Sekundenzeigers! Wie alles, an dem wir zu stark hängen, das wir mit zu großer Kraft begehren, verstärkte sich Anne-Maries Anziehungskraft nur noch weiter bis ins Unermessliche.

Als wollten uns die Dinge und Menschen sagen: Bis hierher und nicht weiter! So geht es nicht! Als müssten wir nur lernen, die Sprache zu verstehen, in der sie schon immer zu uns gesprochen haben. Lass ab von deiner verdammten Gier, Marc Erasmus Herzbaum. Sie stürzt dich nur ins Unglück. Gier und Habsucht machen niemals glücklich. Alle, die den Weg des Besitzenwollens, des Reichtums, des Ruhmes und der Macht gegangen sind, haben auf schreckliche Weise dafür bezahlen müssen.

Karolas wacher weiblicher Instinkt erfasste schon in der zweiten Nachhilfestunde, was mit mir los war. Ich ließ mich in den Sessel vor ihrem Schreibtisch sinken, die Beine von mir gestreckt wie in Leichenstarre, den Nacken mit vorgebeugtem Kopf angespannt, der Blick nur noch ein irres, verlorenes Flackern.

»Fresnelsche Zonenkonstruktion«, sagte sie. »Erkläre mir bitte, inwiefern sie auf dem Huygensschen Prinzip beruht?«

»Sie, äh … ist ein wertvolles Hilfsmittel zum Verständnis der Beugungserscheinungen …«

»Danach habe ich nicht gefragt. 1818 wurde von dem Physiker Fresnel das Huygenssche Prinzip durch Anwendung des Interferenzprinzips erweitert.«

Ich war nicht bei der Sache. Ich begann die Physik zu hassen. Ich weilte in jenen Gefilden, in denen die Eingeweide schmerzen, aber die Aufmerksamkeit alles daran setzt, dem Gefühl der Ausweglosigkeit und Rastlosigkeit zu entgehen.

»Liebeskummer?«, erkundigte sie sich mit in die Hüften gestützten Armen. Sie trug einen schwarzen Kimono und roch nach indischem Moschus. Ihre kleine Gestalt sah in dem glänzenden Fummel noch biegsamer und beweglicher aus.

Meine Meinung von ihr hatte sich seit unserem Stelldichein völlig verändert. Ich fand, Karola war überhaupt nicht spießig. Vielleicht wäre sie sogar die ideale Frau gewesen? Aber eine Angst, der ich mir wohl nur vage bewusst war, riet mir davon ab, es noch einmal bei ihr zu versuchen.

»Ich glaube, ich habe nie etwas anderes gewollt, als Maler zu werden«, sagte ich mit zerstreutem Blick auf ihren aufgeklappten Kimono, der ihre schlanken weißen Beine sehen ließ.

»Nach neueren psychologischen Theorien ist Kunst nur eine versteckte Art der Liebeswerbung.«

»So? Dann wüsste ich wohl davon, oder?«

»Vieles in uns geschieht unbewusst.«

»Die anderen Menschen um mich herum – in der Schule, meine Familie –, stoßen mich durch ihre Oberflächlichkeit und Rohheit ab. Sie langweilen mich, weil sie so trivial sind. Weil sie immer den gröbsten Verhaltensmustern folgern. Ich verbringe meine Zeit lieber bei den alten Meistern im Museum.«

»Im Ernst? Physik interessiert dich gar nicht?«

»Sagen wir mal, sie interessiert mich erst an zweiter Stelle.«

»Und an dritter? Was steht an dritter Stelle?«

Ich starrte schweigend auf ihre weißen Beine.

»Die Frauen, oder?«

»Vielleicht muss ich erst herausfinden, was die Frauen für mich bedeuten«, sagte ich. »Ich bin einfach noch zu jung dafür.«

Von diesem Tage an wurde Karola meine Komplizin. Wir reduzierten meine Nachhilfestunden auf eine kurze Durchsicht der Hausarbeiten. Karola war so rührend um mein Seelenheil besorgt, wie es sonst nur liebende Frauen sind. Ich hatte das Gefühl, das Leben habe mir unversehens, und völlig unverdient, eine zweite Mutter geschenkt.

Aber diese hier besaß anders als meine leibliche Mutter alle natürlichen Instinkte weiblicher Wesen. Sie versorgte mich mit Literatur und schottete mich gegen meine Familie ab, die aus mir einen karrieregeilen Physiker machen wollte. Und sie schenkte mir jene selbstlose Zuneigung und Wärme, die erst ein förderliches Klima für weitere Entwicklungen schafft.

Es war, als habe man einen großen Feldblumenstrauß auf meinen Schreibtisch gestellt. Ich gesundete zusehends, ich ging Anne-Marie auf dem Schulhof aus dem Wege und versuchte nicht an sie zu denken, obwohl Pipers Gemeinheiten mir immer noch zusetzen und er nicht bereit war, mein Notizbuch herauszurücken.

Als ich während der Zeit meiner Genesung zum erstenmal wieder das Nationalmuseum betrat, war eine erstaunliche Verwandlung mit Alexander Montag vorgegangen. Er wirkte um einige Jahre jünger, obwohl er für sein Alter schon immer erstaunlich glatte Züge und einen beweglichen Körper besessen hatte. Das Gesicht eines Menschen, der niemals krank gewesen war, nahm ich an.

Wieder saß er, wie so oft, mit geschlossenen Augen und leicht nach vorn geneigtem Kopf auf seinem Stuhl im Hauptsaal der Galerie, als schlafe er. Wieder war es so, als betrachte er die Innenseiten seiner Augenlider. Doch sein Gesicht schien auf eigentümliche Weise zu strahlen, als leuchte eine Kraftquelle ungeahnten Ausmaßes in seinem Innern.

Ich räusperte mich, als ich in seine Nähe kam, und zu meiner Überraschung sagte er, ohne die Augen zu öffnen:

»Nimm dir einen Stuhl von der Kordelabsperrung und setz dich zu mir, Herzbaum.«

»Sie kennen meinen Namen?«

»Er stand auf deiner Schultasche, als du mit deinem Fotoapparat bei uns warst. Meine Mutter hatte übrigens denselben Mädchennamen.«

»Tatsache?«, erkundigte ich mich ich argwöhnisch. »Herzbaum ist schließlich kein Allerweltsname. In ganz Deutschland scheint es außer uns niemanden mehr mit diesem Namen zu geben, wie mein Vater herausgefunden hat. Und Sie – heißen Sie wirklich Montag

»So steht es in meinem Ausweis.«

Und auf seinem Messingschild am Revers, dachte ich – immer noch voller Unbehagen.

Aber warum sollte mir dieser Zufall eigentlich suspekt sein? Was auch immer die Übereinstimmung mit dem Mädchennamen seiner Mutter bedeutete – vielleicht nur das »Überkreuzen zweier Kausalreihen«, wie es die Zufallsforscher genannt hätten –, ich beschloss meinen Argwohn einfach zu ignorieren.

Doch wie so oft, wenn wir etwas nur zu verdrängen oder zu beschönigen trachten, nahm mein Unbehagen dabei eher noch zu. War Alexander Montag vielleicht ein entfernter Verwandter meiner Familie? Wir stammen von Siebenbürgener Sachsen ab, die irgendwann in den Wirren der letzten Indianerkriege nach Amerika ausgewandert waren, um in den fünfziger Jahren ihr Herz für das deutsche Wirtschaftswunder zu entdecken. Ich beschloss, bei nächster Gelegenheit unseren Stammbaum auf seinen Namen hin zu durchforsten.

»Du hast über meine Worte nachgedacht, nehme ich an?«

»Sie meinen, über Gott und Satan?«

»Und über die Kunst und die Technik, die der Kunst zugrunde liegt.«

»Ich bin zu dem Ergebnis gekommen, dass ich Maler werden möchte. Früher glaubte ich nur, dass ich es werden könnte. Jetzt weiß ich, dass ich es will.«

»Die Fähigkeit, ein guter Maler zu werden, hat viel mit der Kunst des Lebens zu tun. Wenn du die Kunst des Lebens beherrscht, wirst du vielleicht kein Maler mehr werden wollen, es sei denn, deine Kunst kommt aus inneren Quellen, die zutiefst positiv sind, und dient der Entwicklung. Denkst du, dass du für eine solche Aufgabe bereit bist?«

»Ich weiß nicht. Sie glauben, es gibt so etwas wie die Kunst des Lebens?«

»Die meisten ahnen nichts davon. Sie sind so arglos wie Tiere«, sagte Montag und öffnete langsam die Augen, um mich nachdenklich anzusehen. »Gedankenlose, unbewusste Tiere. Was nicht ausschließt, dass sie sich durchaus wohl dabei fühlen.«

»Und die Intellektuellen? Die Wissenschaftler und Künstler?«

»Nun, vielleicht sind sie nicht so klug, wie sie glauben«, erklärte er lächelnd und machte eine vage Handbewegung. »Intelligenz und Klugheit werden leicht verwechselt. Intelligenz setzt einen vielleicht in die Lage, sein Garagentor einzubauen und finanziell einen guten Schnitt zu machen.

Aber ohne Klugheit erleiden wir emotionalen Schiffbruch. Klugheit ist die Fähigkeit, in vollständigem Einklang mit seiner Umgebung zu leben. Das bringt die Widerstände und Gefahren keineswegs zum Verschwinden, ebenso wenig wie den Schmerz. Wir leiden immer noch, aber auf einer verwandelten, höheren Ebene.«

»Sind Sie Experte in solchen Fragen?«

»Sagen wir einmal, ich hatte sehr viel Zeit, darüber nachzudenken.« Montag deutete auf das hellbraune, gebohnerte Parkett. »Sobald dein Bewusstsein in der Lage ist im Glanz die ganze Wahrheit über das Universum zu lesen, wird alles sehr einfach.«

»Sie lesen irgend etwas in den gebohnerten Parkettfliesen?«, fragte ich ungläubig.

»Nicht in so direktem Sinne, wie man eine Zeitung liest. Aber in gewisser Weise eignet sich jedes Objekt dazu, das Bewusstsein auf eine höher Stufe zu heben. Jeder Gegenstand kann als Katalysator dienen. Selbst der Glanz des Parkettbodens. Allerdings gibt es bessere und schlechtere Katalysatoren.«

»Ich glaube, ich verstehe nicht ganz, worauf Sie hinauswollen?«

»Nur, wer reif dafür ist, wird das verstehen. So reif wie eine Frucht, die jeden Moment vom Baum fällt.«

»Und – bin ich reif dazu?«

»Kommt darauf an. Liegt dir irgend etwas daran, das herauszufinden?«

»Ich weiß nicht.«

»Eine gute Antwort.«

Er schloss wieder die Augen und schwieg. Ich saß neben ihm und beobachtete, wie die kalte Wintersonne, die durch die Scheiben des Museums fiel, über seine Gesicht wanderte.

Montag oder Die Reise nach innen

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