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Dass mich die Öffentlichkeit heutzutage in der Rolle des Modearztes sehen will, eines modernen Gurus, eines »weltlichen Priester« für alle Fragen und Lebensprobleme, einer Rolle, die mir kaum noch Zeit lässt, mich meinen Forschungen an der Universität zu widmen, verdanke ich wohl – will man nicht von Vorsehung reden – meinem damaligen Entschluss, diesem merkwürdigen Mann im Museum zu folgen – zu folgen in mehrfacher Hinsicht.

Aber damals ahnte ich noch nichts von den Höhen und Tiefen, in die mich seine Bekanntschaft stürzen würde …

Ich wartete ab, bis das Museum schloss, und folgte Montag langsam durch die menschenleeren Straßen.

Er ging über die steinerne Brücke und dann durch eine sehr alte Gasse, die von den Bombenangriffen des Weltkriegs verschont geblieben war. Sein Haus war ein scheußliches Gebäude aus der Vorkriegszeit, in dem neunzehn Parteien lebten – mit so gleichmäßig geschwärzten Fassaden, dass man glauben konnte, die Patina sei seine ursprüngliche Farbe. Einige Zimmer seiner Wohnung lagen im Erkerturm.

In Kopfhöhe an den Hauswänden befanden sich die üblichen Kreidesprüche, abgestuft nach Schulaltern. An ihnen ließ sich leicht die psychologische Theorie bestätigen, dass jedes Lebensalter seine eigene Sprache hat und über andere Dinge lacht. Und wenig verrät mehr über unsere Schwächen als das, worüber wir lachen!

Lachen wir Älteren, die wir uns so viel auf unsere Erfahrungen und unseren Durchblick einbilden, dann sollten wir uns immer vergegenwärtigen, dass da vielleicht noch jemand über uns ist, der unser Lachen höchst lächerlich findet.

Anfangs gelangte ich immer nur bis zur gegenüberliegenden Straßenseite. Ich beobachtete aus dem Hauseingang, wie in Montags Fenstern das Licht anging und wieder verlöschte. Ich wartete darauf, dass irgend etwas passierte, mir irgendein Zeichen, eine Bestätigung für meine Neugier gegeben wurde. Aber je nachdrücklicher ich darauf wartete, desto weniger geschah.

Nun gut, es gab ein paar kuriose Zwischenfälle bei meinen Verfolgungen. Einmal leerte jemand aus dem Fenster seinen Nachttopf über Montag aus, wohl in der Annahme, er sei für den Lärm verantwortlich, den ein anderer mit einem verfrühten Silvesterfeuerwerk – es war kurz vor Weihnachten – in der Gasse veranstaltet hatte. Die Reste der Knallfrösche flogen bis in den Hauseingang.

Montag blickte nur kurz nach oben, als habe er sich für die Notiz, die man von ihm nahm, zu bedanken, zog seinen Hut ab, klopfte ihn mit dem Handrücken zurecht, und ging weiter! Sein langer schwarzer Mantel glänzte feucht. Er war tatsächlich von oben bis unten mit Pisse begossen!

Ein andermal hetzte jemand einen dieser Bullterrier auf ihn, die darauf abgerichtet sind, Menschen zu zerfleischen, gleichgültig, ob sie selbst dabei draufgehen oder nicht. Man rammt ihnen sein Taschenmesser in den Körper, schleudert sie hin und her, aber ihre Zähne lösen sich nicht eine Sekunde lang mehr von den Gliedmaßen, wenn sie sich einmal festgebissen haben.

Wäre Montag einer jener Zauberer oder Medizinmänner vom Amazonas gewesen, die noch soviel Instinkt für die primitive Kreatur besitzen, dass sie mit ein paar ruhigen Worten und festem Blick jede Bestie in die Knie zwingen – ich hätte mich kaum über die Reaktion des Hundes gewundert. Aber dieser hier kam auf ihn zugelaufen, wurde zwei Meter vor ihm immer langsamer, ohne dass Montag ihn überhaupt eines Blickes würdigte, und drehte mit gesenktem Kopf und eingezogenem Stummelschwanz ab. Mich hätte die Bestie auf der Stelle in Stücke gerissen.

Nach der Schule hielt ich mich so oft es ging im Museum auf.

Mein Vater hatte sich einen Kompagnon zugelegt, einen in Geldfragen besonders gewieften Burschen aus dem New Yorker Bankenviertel namens Dornenvogel (kein Pseudonym – es war sein echter Name, und sein Einfluss auf unsere Familie wurde diesem Namen auch schon bald vollauf gerecht).

Er war wegen Schwierigkeiten mit der amerikanischen Steuerfahndung nach Deutschland zurückgekehrt. Von da an hatte Oberhäuptling alle Hände voll zu tun, mit diesem schrägen Dornenvogel sein Vermögen zu sortieren. Und meine Mutter machte gerade eine schwere Zeit im Parlament durch, weil ihre winzige Ökologenfraktion von Politikern attackiert wurde, die in diesen ersten Ansätzen konsequenter Umweltpolitik Gefahren für die Wirtschaft sahen. Sie war immer noch der Rufer in der Wüste. Also hatte ich plötzlich genügend Zeit für mein Steckenpferd, Boschs Kuriositätensammlung …

Ich entdeckte, dass sich der Maler im Weltgericht selbst porträtiert hatte: als fetter dickbäuchiger alter Gnom im Vordergrund des Bildes, nackt, mit schwarzem Kopftuch, schwarzen Stiefeln und einer klaffenden roten Wunde auf der rechten Seite des Unterbauchs.

Er sah aus wie ein Demiurg, der das Inferno in seinem Geiste erst erschaffen hatte, anstatt es nur abzubilden, und so versuchte ich herauszufinden, warum er sich keinem freundlicheren Genre gewidmet hatte.

Warum dieses Ausleben der aberwitzigsten, düstersten Phantasien, wenn es auch eine von der Sonne beschienene Wiese, ein unschuldiges Fohlen, ein Spaziergang am Meer, ein jungfräulicher Strand ohne Teufel und Chaoten hätte sein können?

Würde ich jemals selbst so malen wollen? War das eine genaue Beschreibung der Realität?

Ich begann mich vor meiner selbstgewählten Aufgabe zu fürchten. Auch die abstrakte Kunst stellte nur selten Ausgeglichenheit und Harmonie dar, sondern meist eine verfremdete Wirklichkeit, die auf geheimnisvolle Spannungen und Stimmungen zusammenschrumpfte, den Konvulsionen der Wirklichkeit nicht ganz unähnlich. Offenbar war ich auf dem besten Wege, mich wie ein Zahnarzt, der sein Leben lang mit faulen oder vereiterten Zähnen, mit Zahnstümpfen, Parodontose und anderen Entzündungen des Mundraums zu tun hat, ohne Not in die Schattenbereiche des Lebens zu begeben.

Boschs klaffende rote Wunde am Bauch machte mir deutlich, wie sehr der Künstler an seiner Kunst litt.

Als ich an diesem Punkt angelangt war, brach ich meine Besuche im Museum ab. Ich saß tagelang in meinem Zimmer – es waren Weihnachtsferien –, würdigte den protzigen Christbaum in der Eingangshalle keines Blickes, weil er mir mit einem Male als das erschien, was er wirklich war: die hohle, überaus kitschige Bemäntelung eines alten Brauches, unter dessen Oberfläche sich vielleicht eine Wahrheit verbarg, aber eine Wahrheit, an die niemand glaubte.

Mein Vater pflegte unsere Geschenke nicht nur im ganzen Haus zu verstecken, sondern sie auch noch, um uns irrezuführen, in falsche Kartons zu verpacken – die Stereoanlage in den Staubsaugerkarton, meine Kunstbücher in die Verpackung einer Kaffeemaschine –, und dieses Spielchen trieb er noch nach dem Fest, weil er völlig die Orientierung verloren hatte, wo sich was befand. Währenddessen betäubte Anja die Wände mit klassischer Rockmusik. Die Tapeten knisterten und feiner Staub rieselte aus den Mauerfugen.

Ich studierte lustlos in meinen Physikbüchern (man hatte mir ungefähr einen halben Zentner davon geschenkt, um die Angelegenheit ein für allemal für die Wissenschaft zu entscheiden), denn selbst die Physik offenbarte nichts weiter als das Chaos. Daran konnten auch ein paar in der Praxis verlässliche Naturgesetze wenig ändern.

Freud hätte behauptet, ich litte an meinem Über-Ich. Mein Es sei der Lust am Malen und am Künstlertum verfallen, doch Moral und Realität drängten diese sublimierte Libido zurück. Aber wie viele moderne Irrenärzte glaube ich dem alten Wiener Charmeur kein Wort. Er irrt sich selten völlig, doch er setzt die Akzente falsch. Der Blickwinkel ist verschoben. Nicht nur meine Professur für die Erforschung höherer Bewusstseinszustände belehrte mich darüber, dass der alte Knabe mit dem Sextick einem verhängnisvollen Irrtum zum Opfer gefallen war.

Montag oder Die Reise nach innen

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