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Wage dich an den äußersten Rand des Nichtanhaftens. Völliges Nichtanhaften ist nicht möglich, nicht einmal für einen kurzen Augenblick, wie etwa bei der Wahl des Freitods. Denn auch das, was im Nichtanhaften angestrebt wird, ist ein Wert, an dem man haftet. Anders ausgedrückt: Nichtanhaften ist selbst ein Anhaften.

A. Montag

Mein Vater und meine Mutter hätten niemals eingewilligt, dass ich mich freiwillig und im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte – was man so geistige Kräfte nennt – auf ein derart unsicheres Terrain wie die Kunst wagte.

Und sei es nur, um Kunstgeschichte zu studieren und damit irgendeine versteckte Absicht zu verfolgen, wie insgeheim Maler zu werden – »Kunstmaler«, wahrscheinlich dachten sie sogar an »Straßenmaler« oder dergleichen, jedenfalls aber an eine Form von Hungerleiderdasein …

Also gab ich vor, Physiker werden zu wollen – jemand, der mit Materie, Energie und mathematischen Formeln auf der internationalen Bühne der Wissenschaft jonglierte wie ein Artist in der Zirkusarena.

Und als Nebenstudium würde ich Kunst belegen. Zwei Fächer, die sich wunderbar ergänzten.

Mit dem einen drang man in die tiefsten Geheimnisse der Materie und des Universums ein, mit dem anderen in die Ästhetik und die Welt des Gefühls, das den Menschen eigentlich ausmacht. Obwohl ich damals gerade sechzehn geworden war, bereitete ich mich mit großem Ernst auf mein Studium vor. Ich war alles andere als perfekt. Ich war ein Torso.

Aber im Unterschied zu meiner Familie – was man so Familie nennt – hatte ich wenigstens die Absicht, mich zu verändern.

Wir waren erst vor fünf Tagen in das neue Haus im Zentrum eingezogen. Genauer gesagt: meine Eltern waren dort eingezogen, denn ich selbst hätte niemals freiwillig die Idylle des alten Felssteinbaus auf dem Land verlassen.

Vor den Fenstern standen hohe Apfel- und Birnbäume, es war wunderbar schattig, die Sonne knallte einem niemals ins Gesicht. Und der ganze Bau war wie ein großer Weinkeller – etwas muffig, kühl und wegen seiner dicken Wände fast so sicher wie ein Atombunker.

Ich war mit ihnen gegangen, weil ein Fünfzehnjähriger – wir zogen einen Tag vor meinem sechzehnten Geburtstag um – nun einmal keine andere Wahl hat, wenn er nicht auf der Straße oder bei den Behörden landen will. Ich ließ es mir zwar nicht anmerken, das wäre unter meiner Würde gewesen, diese Familie hatte schon genug mit sich selbst zu tun, aber ich war auch nicht bereit, mich wegen des Umzugs zu überschwänglichen Kommentaren hinreißen zu lassen.

Oberhaupt hatte entschieden: Geld vor Idylle. Nicht, weil er nur noch an den Mammon dachte, wie man leicht unterstellen könnte, sondern weil er etwas nachjagte, das sich nur ganz vage in seinem Bewusstsein abzeichnete, von dem selbst er nicht wusste, was es war: ein Ziel ohne Gestalt und klare Konturen. Irgend etwas, das unbedingt erreicht werden musste, ein unbekannter Zweck.

Geld war wirklich nur ein Mittel für ihn. Trotzdem würde er erst damit aufhören, wenn er eine Milliarde auf dem Konto hatte. Obwohl einem eine Milliarde wenig erschien im Vergleich zu den anderen Geschäftemachern, die immer noch besser waren und es noch »richtiger« machten als man selbst.

Er selbst war genauso wie sein Ziel. Er war ein geldmachender Schatten, seltsam unkörperlich, ungreifbar. Oder besser gesagt: er war durchsichtig. Sie kennen vielleicht diese Leute, die so merkwürdig gläsern wirken, als seien sie gar nicht anwesend?

Die alternde Squaw ging unterdessen ihren politischen Geschäften nach. Sie versuchte ihre Kontrahenten im Parlament davon zu überzeugen, dass man seine Quecksilberbatterien nicht mal in spezielle Sammeltonnen warf.

Weil dann nämlich ein paar gewissenlose Geschäftemacher den gutgläubigen Bürger dazu missbrauchten, aus dem Zeug eine Menge anderer giftiger Dinge herzustellen, die in der Rüstung oder in obskuren Forschungslabors landeten. Man gab sie lieber an alternative kleine Klitschen weiter, die verantwortungsvoller damit umgingen.

Ich weiß nicht, ob sie zu diesem Zeitpunkt noch so etwas wie ein Sexualleben hatte. Falls ja, dann hielt sie es sorgfältig geheim. Vielleicht ließ sie es auch einfach bei Benns ernüchternder Erkenntnis bewenden, die Ehe sei eine Institution zur Lähmung des Geschlechtstriebs.

Das Ganze ist mehr und mehr zu einem kollektiven Zwang geworden. Legt man keinen Wert mehr darauf, fühlt man sich nicht vollständig, obwohl es ja möglich wäre, dass man das gleiche Vergnügen auch auf anderen Gebieten empfindet und deshalb als guter Kaufmann (der wir alle sind), gar keinen Verlust macht. Ich glaube, die Politik hatte vollständig ihre Sexualität ersetzt.

Und zwischendurch verwaltete sie den Haushalt, jagte mit dem Kleinwagen von einem Supermarkt zum anderen, um den billigsten Salatkopf zu ergattern, sprayte umweltfreundliche Reinigungsmittel aus dem Handzerstäuber auf die Fensterscheiben und versorgte ihre mehr oder weniger wohlgeratenen Kinder.

Oberhäuptling war der Meinung, seine Konkurrenten in der Baubranche seien bei der Auftragsvergabe im Vorteil, weil sie im Zentrum arbeiteten. Fünfunddreißig Kilometer Anfahrt vom freien Land wären nur per Hubschrauber zu bewältigen.

Wenn man einmal den Standpunkt des Merkantilismus verinnerlicht hat, kommen einem solche Gedanken selbst noch beim Zähneputzen oder beim Abtasten der Hämorrhoiden.

Und an Hämorrhoiden litt er, seitdem er sich bloß noch zwischen Schreibtisch und Bett bewegte, wie nur ein armes Individuum mit verstopftem Darmausgang leiden kann. Nicht an der gewöhnlichen, sondern an der großen, schmerzhaftesten Form, die von den Ärzten der Universitätsklinik »Granatapfel« genannt wurde.

Also hatte er in seinem vierundfünfzigsten Lebensjahr zwei Blocks vom Bauamt und von der verkehrsumtosten Einkaufszone entfernt ein vierzehnstöckiges Hochhaus mit außenlaufenden Fahrstühlen hochgezogen – das repräsentativste neue Gebäude der Stadt, obwohl es wie ein Fremdkörper zwischen dem Bahngelände und den niedrigen Häusern aufragte.

Es bestand ausschließlich aus naturbelassenem Beton, Holz und Glas, von den Wasser- und Elektroinstallationen und den an den Fassaden entlangjagenden Fahrstühlen natürlich abgesehen. So konnte er bequem zu Fuß gehen. Die Betonung liegt auf konnte. Er ließ sich trotzdem in seinem schwarzen Mercedes zur Arbeit chauffieren.

In den ersten Tagen nach unserem Einzug stand ich oft am Fenster und sah zum Nationalmuseum hinüber – ungeduldig und in ständiger innerer Anspannung wegen all der Entdeckungen, die dort auf mich warteten.

Zwischen der Gemäldegalerie und dem Haus lag nur der verwilderte Garten, in dem pausbäckige Engel und Teufel mit abgeschlagenen Nasen standen, als seien sie wahllos von einer Hand aus den Wolken dort hingestreut worden.

Durch die Scheiben konnte ich den glänzenden hellbraunen Parkettboden des Museums sehen: so deutlich, als rieche man das Bohnerwachs. In diesem Teil des Anbaus waren die alten Meister untergebracht.

Es waren nicht nur die Bilder, die mich interessierten, sondern auch der merkwürdige grauhaarige Museumswächter im Hauptsaal …

Manchmal sah ich nur seine Hosenbeine durch das Fenster. Er war sicher schon über sechzig Jahre alt und strahlte Ruhe und Würde aus. In seinen Bewegungen lag trotz aller Einfachheit etwas Aristokratisches.

Vielleicht war es auch nur die Weisheit, die manche Menschen angeblich in diesem Alter erreichen, wenn sie sich ernsthaft darum bemühen.

Sein Blick war immer freundlich und teilnahmsvoll, als habe er Verständnis für die Leiden der menschlichen Kreatur, gleichgültig, ob man selbst dafür verantwortlich war oder nur das Opfer widriger Umstände oder irgendeiner inakzeptablen Form der Naturkausalität. Ich hatte noch nie jemanden gesehen, dessen Bewegungen so gewandt und harmonisch waren, und das, obwohl er eigentlich meist auf dem Stuhl an der Kordelabsperrung saß. Von dort aus konnte er den ganzen Saal überblicken, ohne die Besucher beim Betrachten der Gemälde zu stören.

An seinem Revers klemmte das polierte Messingschild des Museums.

Bei meinen ersten beiden Besuchen hatte ich seinen Namen nicht genau entziffern können. Irgend etwas wie Montauk oder Montag

Sobald er sich auf dem Stuhl niederließ, schien er zur Verkörperung der Ruhe zu werden. Es war fast beängstigend, welche Kraft dann von ihm ausging, obwohl er eher schlank, ja schmächtig wirkte.

Manchmal waren seine Augen geschlossen und sein Kopf leicht nach vorn geneigt, als schlafe er. Aber ich hatte herausgefunden, dass er niemals schlief. Er war hellwach. Man sieht einem Menschen an, ob er geschlafen hat, wenn er die Augen öffnet.

Im Nebenzimmer heulte ein Plattenspieler auf. Meine Deckenlampe begann zu pendeln und das Barometer fiel von der Wand. Es landete mit einem Knall auf meinen Kunstbüchern. Die tiefen Bässe der Boxen versetzten das alte Haus mit seinen Holzböden in Schwingungen.

Anja war am selben Tag neunzehn geworden wie ich sechzehn (irgendein verdammter Witz der Vorsehung) und studierte Gesang und Musik. Obwohl sie die Sache nicht allzu ernst nahm, zumindest, was die klassische Musik anbelangte.

Anscheinend legte man es in ihrem Alter immer noch darauf an, sein Gehör zu ruinieren und alle Welt mit wimmernden Schnulzen aus Michael Jacksons elektronischen Musiklabors zu tyrannisieren.

Wenn ich jetzt nach nebenan ging, um meine Schwester um etwas mehr Ruhe zu bitten, würde sie garantiert wieder anzügliche Bemerkungen über mein Sexualleben machen und mich fragen, ob ich »nur zwei Finger oder die ganzen Hand« dazu gebrauchte. Wie denn mein Orgasmus sei? Lang und anhaltend oder kurz? Versetzte er meinen ganzen Körper in Schwingungen – oder nur »das Ding da« – the dinky thing, wie sie gern hinzufügte.

Dabei würde sie mich mit diesem unsäglich mitleidigen Grinsen ansehen, bei dem ihre schönen dunklen Augen so gebrochen dreinblickten wie ein toter Schellfisch.

Anja führte ein Leben, das sich hauptsächlich zwischen Boutiquen, Diskotheken und den Cafeterias der Universität abspielte. Immer ein gutes Stück entfernt von den Seminarräumen und Vorlesungssälen. Und mit der entsprechenden Menge von Studenten, die scharf auf sie waren und das auch ständig zum Ausdruck brachten. Ich fragte mich ernsthaft, ob sie sich jemals einen Hörsaal von innen angesehen hatte.

Als ich zum Mittagessen nach unten ging, brach der Lärm abrupt ab. Dann ertönte ein langanhaltender Schrei. Gleich darauf flog die Tür auf, und Anja stürzte an mir vorüber nach unten.

»Hab’ ich dir nicht gesagt, tu das nie wieder?« rief sie, als sie im Esszimmer angelangt war. »Ich bringe dich um. Ich erwürge dich mit bloßen Händen …«

Ein Stuhl kippte auf den Boden.

»Sie tut’s wirklich. Die kleine Nutte bringt mich um«, jammerte Rolo. Meine Mutter hatte unbedingt im reifen Alter von zweiundvierzig Jahren noch ein weiteres Kind zur Welt bringen müssen.

Er riss sich los und verschwand wieselflink unter dem Tisch. Wegen der herabhängenden Tischdecke konnte man nicht erkennen, wo er sich gerade befand.

Ich setzte mich an meinen Platz und begann gelangweilt die Frankfurter Allgemeine zu studieren. Es war nur wieder eine der üblichen kleinen Familienszenen, eine Art Overkill des Familienlebens.

Es gab keine Möglichkeit, daran etwas zu ändern. Man konnte nur abwarten, bis die Kräfte, die für ihre Gedanken verantwortlich waren, zufällig jene indeterminierten Quantensprünge machten, die von der Physik als das wahre Prinzip der Mikrophysik angesehen wurden: Zufall und Chaos. Oder allenfalls noch statistische Wahrscheinlichkeit.

»Warum hilfst du mir nicht, du verdammter Ignorant?«, fragte Anja und trat wahllos mit dem Fuß gegen das Tischtuch. »Eines Tages wird sich das kleine Ungeheuer auch dich vornehmen, dann gnade dir Gott …«

»Mal bin ich ein Ignorant und mal mische ich mich in deine Angelegenheiten ein.«

»Er war wieder in meinem Zimmer.«

»Schließ einfach die Tür ab …«

»Ich hab’ nur ein bisschen nach dem Rechten gesehen«, erklärte Rolo unter dem Tisch.

»Was hast du denn in meiner Tasche zu suchen gehabt?«

Sicher irgend etwas, das Mädchen für Jungen interessant machte, dachte ich. Liebesbriefe, Tagebücher. So würde die Sache noch bis in alle Ewigkeit weitergehen, abgeschmackt und ohne jedes Gefühl für Würde. Wir waren keine Familie, die sonderlich aus dem Rahmen fiel. Wir waren eine stinknormale Familie, gewöhnlich und roh wie ein unbehauener Holzklotz.

Wahrscheinlich leiden alle Familien auf der Welt an irgendwelchen speziellen Verrücktheiten. Meine Mutter zum Beispiel litt schrecklich unter der Vorstellung, dass die Ressourcen der Erde versiegen könnten. Sie wurde von der fixen Idee geplagt, künftige Generationen verfügten über kein Erdöl mehr und müssten ihren Kaffee mit verseuchtem Wasser kochen. Sie war bemerkenswert hellsichtig in einer Zeit, in der der Club of Rome gerade seine Studie über »Die Grenzen des Wachstums« veröffentlicht hatte.

Irgendein überdrehter Psychiater, den mein Vater für sie konsultierte (sie selbst wäre niemals auch nur in die Nähe seiner Praxistür gekommen), war der Meinung, es handele sich um einen schwer behandelbaren existentiellen Konflikt. Eifersucht, Frigidität, Depressionen: kein Problem.

Aber bei den Existenzkrisen seien die Überzeugungen genauso fest verwurzelt wie bei Paranoia. Er riet ihr, in die Politik zu gehen.

»Sie wollen, dass ein seelisch kranker Mensch in die Politik geht, um gesund zu werden?«, fragte mein Vater.

»Das wäre eine durchaus gängige Form der Selbstbehandlung«, bestätigte er.

Ich stand gähnend auf, legte die Zeitung weg und ging zur Tür, ohne die anderen noch eines Blickes zu würdigen.

Im Flur kam mir Hanna mit einem Tablett aus der Küche entgegen. Vermutlich hatte sie wieder eines ihrer hochexplosiven Gemische im Dampfkochtopf angerichtet, durch das sie unsere Gesundheit auf Trab brachte. Je mehr Vitamine und Mineralien, desto besser, und das gelang am besten, wenn kein einziges Molekül davon durch den offenen Deckel entfleuchen konnte.

Das Gesicht meiner Mutter sah nach dem Kochen immer gerötet und verschwitzt aus. Manchmal verlief die schwarze Wimperntusche so in ihren Krähenfüßen, dass man glauben konnte, an ihren Augenwinkeln klebten kleine südamerikanische Skorpione.

Sie war gerade mal dreiundfünfzig, aber ich fand, dass ihr die Arbeit im Parlament nicht bekam. Sie übernahm sich damit.

»Hallo, wohin des Weges?«, erkundigte sie sich. »Wir essen gleich. Oder hat unser kleiner Outcast schon wieder die Nase voll von unserer Familie?«

Montag oder Die Reise nach innen

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