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September 1976

September 1976

Das Gebäude der Besatzungsbehörde in Berlin Karlshorst sah ganz anders aus, als ich erwartet hatte. Ich hatte angenommen, das Hauptquartier der russischen Staatssicherheit wäre in einem historischen Prachtbau untergebracht. So etwas wie das alte Bankgebäude mit seinen kunstvoll gemeißelten Pfeilern, die den Platz zweier Ladenfronten auf dem Alexanderplatz einnahmen, doch dem war nicht so.

Die Dienststelle der sowjetischen Staatssicherheit befand sich in einem rechteckigen Gebäudekomplex, dessen Mittelbau über einen erhöhten Sockel mit Kellerfenstern verfügte. Darüber streckten sich vier Vollgeschosse in die Höhe und mündeten in ein leicht geneigtes und deutlich über die Fassade reichendes Flachdach. Der mit einer Sicherheitsschleuse versehene Eingang im erhöht liegenden Erdgeschoss war über eine Freitreppe zu erreichen. Auch wenn dieser Komplex den Charme anderer historischer Gebäude vermissen ließ, so war er dennoch ziemlich beeindruckend.

Ich stand vor dem Tor und wusste nicht so recht, was ich tun sollte. Ein Wachsoldat in dunkelgrüner Uniform trat aus einem der kleinen Kontrollhäuschen, sah mich und kam auf mich zu. Als er beinahe vor mir stand, bemerkte ich sein ernstes Gesicht.

„Sie wünschen, bitte?“

Ich versuchte, meine Nervosität zu unterdrücken, und setzte eine Unschuldsmiene auf. „Ich möchte jemanden vom KGB sprechen.“

Der Soldat musste offensichtlich an sich halten, um nicht gleich laut loszulachen. „Hören Sie, Kindchen. Das hier ist das Hauptquartier der sowjetischen Besatzungsmacht. Von einem KGB weiß ich nichts. Zu wem genau möchten Sie denn?“

Ich sah ihn ratlos an. Das war schon mal schiefgegangen. „Leider ist mir hier keine bestimmte Person bekannt. Ich weiß nur, dass ich mit jemanden vom Geheimdienst sprechen möchte.“

Der Uniformierte schenkte mir ein breites Grinsen. „Ich glaube, Sie gehen zu oft ins Kino. Wenn Sie nicht wissen, zu wem Sie wollen, darf ich Sie nicht hineinlassen.“

Mein Mut fiel wie ein Kartenhaus in sich zusammen. „Aber es ist dringend.“

„Nun kommen Sie mal runter, gnädiges Fräulein. Ich habe die Order, hier niemand Unbefugten passieren zu lassen, und Befehl ist Befehl. War mir eine Ehre.“ Der Mann hob seine Hand zum Gruß und ließ mich einfach vor dem Tor stehen.

Und jetzt? Ich glaube, ich war ein wenig blauäugig, zu denken, ich könnte einfach so in das Gebäude der sowjetischen Staatssicherheit hinein marschieren und irgendwer würde sich schon um mich kümmern.

Ich überlegte, was ich tun konnte, wandte mich zum Gehen, zögerte und blieb wieder stehen. In diesem Moment näherte sich eine schwarze ZIL Limousine dem großen Tor. Der Wachsoldat nahm Haltung an und grüßte formell. An der Limousine wurde ein Seitenfenster heruntergelassen. Jetzt trat der Soldat näher an den Wagen heran. Seine Mimik entspannte sich. Anscheinend kannte er die Insassen.

„Hallo Ivan. Na, schiebst wohl eine ruhige Kugel heute, was?“

„In der Tat. Ist nicht viel los heute, Genosse Oberst.“

„Na, ist doch besser als umgekehrt.“

„Das stimmt, Genosse Oberst. Aber gerade ist mir etwas Komisches passiert. Kommt doch die Kleine, die da hinten steht, zu mir und sagt, dass sie zum KGB will. Ich habe mir fast in die Hose gemacht vor Lachen.“

Der Oberst beugte sich aus dem Fenster. Seine Augen folgten Ivans Blickrichtung. Und dann sah er mich. Ich stand einfach nur da, rührte mich nicht und bestaunte die glänzende Limousine.

„Na, die ist vielleicht einfältig. Hat sie gesagt, was sie von uns will?“

„Nein, sie meinte nur, es sei sehr wichtig. Aber zu wem sie wollte, konnte sie mir nicht sagen, und da habe ich sie natürlich auch nicht passieren lassen. Schließlich kenne ich die Dienstvorschriften.“

„Hm … gut. Aber sieht doch ganz manierlich aus, das junge Fräulein. Ich sehe sie mir mal etwas genauer an.“ Der Mann bewegte seinen Oberkörper nach vorn, um sich weiter aus dem Fenster lehnen zu können. „Hey, Sie, kommen Sie doch mal her.“

Ich starrte noch immer auf den glänzenden Wagen, meine Gedanken waren bereits ganz woanders. Erschrocken zuckte ich zusammen, als ich merkte, dass ich angesprochen wurde. Wie in Trance bewegte ich mich auf die Limousine zu. Ein älterer Herr mit grauem Haar und einem großen Schnauzbart lächelte mich freundlich an. Er war der Typ Vater, den ich gern gehabt hätte.

„Ich höre gerade, Sie möchten jemanden von der Botschaft sprechen?“ Er bluffte.

„Äh, nein, eigentlich möchte ich zu jemandem vom Geheimdienst KGB. Leider kenne ich mich hier nicht aus, und der Wachsoldat will mich nicht so einfach in das Gebäude lassen.“

„Um was geht es denn? Kann ich etwas für Sie tun?“

„Nun ja, ich dachte …, ich wollte …“

Der Mann wurde ungeduldig. „Was denn nun, junges Fräulein, zu wem wollten Sie?“

„Äh … ich weiß nicht so recht, nur dass …“ Mein Gestammel ging mir selbst auf den Geist.

Die Miene des Mannes wurde wieder ernst. „Also gut, haben Sie irgendwelche Referenzen?“

Mit fiel etwas ein. Bluffen konnte ich auch. „Ich komme von Oberstleutnant Gregori.“

Die Miene des Mannes erhellte sich. „Ah, der Genosse Theo Gregori. Der ist mir bekannt. Also schön, was haben Sie auf dem Herzen?“

„Soll ich das hier draußen mit Ihnen besprechen, einfach so?“

„Wie bitte? Ach so. Aber nein. Kommen Sie, steigen Sie ein. Haben Sie schon einmal in einem ZIL gesessen?“

„Nein.“

Die Fahrertür öffnete sich, der Chauffeur stieg aus und bequemte sich dazu, mir die linke Seitentür zu öffnen. Ich staunte nicht schlecht, als ich den Luxus im Inneren des Fahrzeugs sah. Da war ein Telefon, eine Trennscheibe aus Glas, sogar eine kleine Bar und Chromleisten, so weit das Auge reichte. Mit einem Seufzer ließ ich mich auf die bequemen Polster fallen. Hinten auf der Rückbank saß noch ein Mann. Auf einmal richteten sich sechs neugierige Augenpaare auf mich.

„Na, dann erzählen Sie mal!“

Ich bemerkte erst jetzt, dass der Mann mit dem Schnauzbart eine Uniform trug, an der mächtig viel Lametta baumelte. Dann erzählte ich ihm meine Geschichte.

„Also, mein Name ist Katharina Böhm. Ich meine, ich besitze einen deutschen Pass, der auf diesen Namen ausgestellt ist. In Wirklichkeit stammt meine Familie aus Russland, zumindest mütterlicherseits. Meine Großmutter wurde in Bolschaja Poljana, dem früheren Paterswalde geboren. Das ist ein kleines Dorf in der Oblast Kaliningrad. Sie nannte mich immer Marischka. Meine Familie ist damals aus Paterswalde geflohen, als die Faschisten kamen. An der Grenze hat man ihnen ein Dokument gegeben, aus dem hervorging, dass sie rassisch rein seien und im Großen und Ganzen dem deutschen Wesen entsprachen. Das Dokument war ausgestellt auf den Namen Böhm. Ich wurde am 10. Juli 1958 in Wolfersdorf geboren. Das liegt in Thüringen. Meinen Vater habe ich kaum gekannt. Er verschwand, als ich fünf Jahre alt war. Ich glaube, er ist in den Westen gegangen. Danach hat meine Mutter andere Männer kennengelernt. Die beschwerten sich immer über die Last der mitgebrachten Kinder. Wir waren zu zweit, müssen Sie wissen. Ich habe noch eine Zwillingsschwester. Der neue Freund meiner Mutter hielt es nicht lange bei uns aus. Danach kam wieder einer, und so ging das immer weiter, bis ich zehn war. Da steckte mich Mutter in ein Heim.“

„Ich verstehe. Wo sind Sie zur Schule gegangen?“

„In Wolfersdorf auf die Grundschule. Allerdings nur für drei Jahre. Danach folgten weitere drei Jahre sozialistischer Unterricht in einem Spezialkinderheim, inklusive gemeinsamem Zeitungslesen und FDJ-Abenden. Aber von dort bin ich dann abgehauen.“

„Was Sie nicht sagen. Wie alt waren Sie da?“

„Warten Sie. Das war im Jahr 1971. Ich muss damals dreizehn gewesen sein. Allerdings haben sie mich sehr schnell wieder geschnappt und in den Jugendwerkhof gebracht. Dort habe ich dann keinen regelmäßigen Unterricht mehr bekommen.“

„Sie haben sich also bewusst gegen das System gestellt?“

„Ach was, nein! Eine Verräterin bin ich nie gewesen. Das kommunistische System ist schon ganz in Ordnung, nur die ausführenden Personen sind unfähig und handeln aus niedrigen Beweggründen. Die meisten Erzieher sind nur daran interessiert, ihr eigenes Selbstbewusstsein an der Machtausübung gegen Wehrlose aufzurichten. Und daran möchte ich gern etwas ändern.“

Er sah mich fragend an.

„Sie meinen, Sie handeln aus echter Überzeugung?“

„Nun, der Genosse Oberstleutnant Gregori hat mir das wenigstens geglaubt. Wir haben uns im Jugendwerkhof in Wolfersdorf kennengelernt und viel miteinander gesprochen. Er wollte mich sogar in die Parteispitze mitnehmen, aber dann hat mich die Geheimpolizei abgeholt und mich nach Torgau gebracht. Nicht einmal der Genosse Oberstleutnant hat das verhindern können.“

„Ich verstehe. Bitte erzählen Sie weiter.“

„Der dortige Jugendwerkhof war die Hölle, und natürlich habe ich versucht, von dort auszubrechen, das gebe ich zu.“

„Was, schon wieder?“

„Ja, ich wollte zurück nach Wolfersdorf, aber sie haben mich nicht gelassen. Stattdessen haben sie mich in den Fuchsbau gesteckt. Sie wissen, was das ist?“

„Aber sicher. Das Konzept stammt von unserem Pädagogen Anton Semjonowitsch Makarenko. Übrigens eine sehr erfolgreiche Umerziehungsmaßnahme. Nun gut, aber irgendwann sind Sie dann entlassen worden?“

„Ja, als ich achtzehn wurde.“

„Und warum sind Sie nach Ihrer Entlassung nicht zurück in Ihre Stadt gegangen?“

„Ich bin dort gewesen, aber niemand von meiner Familie hat mehr in Wolfersdorf gewohnt. Meine Mutter nicht, und auch nicht meine Schwester. Ich weiß nicht, wo sie abgeblieben sind. Wahrscheinlich verschollen. Es gibt keinerlei Nachricht von ihnen.“

„Und was haben Sie dann getan?“

„Ich bin zurück ins Heim gegangen, doch der Oberleutnant war nicht mehr da. Man wollte mich auf irgendeine FDJ-Fakultät schicken, aber das habe ich abgelehnt.“

„Und dann?“

„Ich habe mir stattdessen ein Bahnticket nach Berlin gekauft, und jetzt bin ich hier. Vielleicht haben Sie irgendeine Verwendung für mich?“ Ich sah ihm in die Augen, war mir bewusst, wie das auf Männer wirkte.

Er blickte mich zunächst nachdenklich an, dann erschien prompt ein Lächeln auf seinem Gesicht. Er schob seinen Sitz nach vorn und reichte mir die Hand über seine Kopfstütze.

„Schön, ich bin Oberst Kurganow.“

Ich war baff. „Der Oberst Kurganow?“

„Ja, mit Leib und Seele. Vielen Dank, dass Sie zu uns gekommen sind, Fräulein Böhm. Aber jetzt müssen Sie gehen. Sie werden bald von uns hören. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag.“

Das war alles? Ich war einigermaßen überrascht, doch die freundliche Art des Obersten beruhigte mich. Ich wusste, ich würde ihn bald wiedersehen, stieg aus dem Wagen, ließ einen letzten Blick durch den Innenraum schweifen und ging.

„Vielen Dank, dann bis bald, Genosse Oberst Kurganow.“

Er beobachtete, wie ich die Tür hinter mir schloss und sagte etwas zu seinem Sekretär, das ich nicht mehr verstehen konnte.


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