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Prolog

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Über den Sinn des Lebens im Zeitalter der Pandemie. – Als ich eines Tages am Bett meines moribunden Philosophenfreundes saß, kamen wir auf den Sinn des Lebens zu sprechen. Wir beide wussten, dass er nicht mehr lange zu leben hatte. Ich erwartete, offen gestanden, kein tiefes Gespräch. Und dann geschah auch, was ich ohnehin irgendwie schon erwartet hatte:

Mein Freund erzählte mir Episoden aus seinem Leben, die ihm besonders bedeutsam zu sein schienen, um immer wieder einzunicken, weiterzuerzählen, und endlich einzuschlafen. Am Schluss meines Besuchs hatte ich den Eindruck, das sei ein Wink gewesen. Mein Freund hatte mir sein Leben erzählen wollen, sein ganzes Leben (was nicht geschah, nicht geschehen konnte). Darin steckte für ihn wohl eine Lehre für mich.

Es war, vordergründig betrachtet, ganz und gar nicht die Lehre des Ludwig Wittgenstein, der an einer Stelle in seiner berühmten Abhandlung Tractatus logico-philosophicus sagt, dass der Sinn des Lebens sinnvoll nicht anzugeben sei, weshalb diejenigen, die den Sinn ihres Lebens gefunden hätten, dann auch nicht sagen könnten, worin dieser Sinn bestünde. Die Lehre meines Freundes – wenn es eine Lehre sein sollte – lautete eher: Ich erzähle dir jetzt mein Leben, dann weißt du, worin der Sinn des Lebens besteht.

Ich habe seither immer wieder über diese – wie ich glaube – Lehre meines sterbenden Freundes nachgedacht. Wenn ich über den Sinn meines eigenen Lebens nachdachte, dann fielen auch mir zuerst gewisse prägende Episoden ein und, soweit es sich dabei um ausweitende Kreise handelte, immer weitere, ferner abliegende Lebensereignisse. Bis ich mir eingestehen musste, dass sich der Sinn meines Lebens – falls er nicht eine bloße Fata Morgana wäre – als die Tapisserie meines gesamten Daseins darstellte, durch welches sich unzählige Bedeutungsfäden zogen, die aus dem Ganzen erst ein Ganzes machten.

Der Sinn meines Lebens, das war mein Leben selbst. Was aber wohl miteinschloss, dass sich in meinem Leben mehr an Bedeutung »realisiert« haben musste, als jedes einzelne Ereignis meiner Biografie erahnen ließ. Auf die Frage, worin der Sinn des Lebens bestand, werde ich am Ende also dem, der fragt – zum Beispiel mir selbst – mit einer Erzählung meines Lebens zu antworten haben. Dass dabei, wie genau und vollständig ich auch, meiner Erinnerung gemäß, erzählen mag, noch immer ein Überschuss an Bedeutung wirksam bleibt, den auszudrücken mir nicht anders möglich wäre, als meine Erzählung fortzuführen – darin lag das Wahre an Wittgensteins Behauptung.

In jedes Menschen Leben gibt es wohl ein unerreichbar Nahes, das sozusagen mitten durch ihn hindurchgeht, ohne dass er sich nach ihm umzuwenden vermöchte. Diese intime Transzendenz eines jeden Lebens lässt in ihm das Unverlierbare, Allgemeine, Unbedingte aufscheinen.

Hier liegt einer der Gründe, warum uns die Abstraktionen der Philosophie jedenfalls immer dann nicht genügen, wenn es um existenzielle Probleme geht. Nicht, dass wir des Nachdenkens über die schwerwiegenden Fragen der eigenen Existenz und unseres Lebens in der Gemeinschaft mit anderen entbehren könnten. Aber es bleibt dabei doch ein Ungenügen. So, als ob der Begriffsraster, den wir ansetzen, zu grob wäre.

Kurz gesagt, die Philosophie hat einen Hang, ihre Abstraktionen durch die Fülle des Erzählerischen lebendig werden zu lassen. Darin liegt die unüberbietbare Faszination der großen Epiker, man denke an Homer. Aus ihren Erzählungen spricht, so scheint es, die ganze Weltweisheit zu uns. Das ist natürlich eine Illusion. Aber eine, die ernstgenommen werden sollte.

Gerade weil die Weisheit – und was wäre die Philosophie über die Zeiten hin, wenn nicht die Liebe zur Weisheit? – eine höchst allgemeine Einstellung vermittelt, bedarf sie einer Abklärung und Konkretisierung, die nicht anders erfolgen kann als durch das Moment des erzählerischen Details im Rahmen einer Geschichte, die potenziell die ganze Welt, das Sein und Dasein, umspannt.

Das alles sind weiträumige Perspektiven, die manche Philosophen schon veranlasst haben, Gedichte zu schreiben – zumeist verquälte (man denke an Martin Heidegger, der sich in die chinesische Haiku-Tradition vertiefte, die doch so leicht daherkommt). Ich bekenne, in meinen jungen Jahren von derlei Ambitionen nicht völlig frei gewesen zu sein. Was ich der geneigten Leserschaft im Folgenden zumute, ist weit weniger ambitiös.

Es ist die philosophisch mitbegründete Lebenseinstellung eines Menschen, der mit Ernst Jünger bereits sagen darf »Siebzig verweht!«, ohne allerdings einen Anspruch darauf zu erheben, die tiefen Dinge des Lebens nun besser erfassen zu können. Dennoch habe ich den Eindruck, dass die Episoden und erzählenden Reflexionen im Folgenden eine philosophische Atmosphäre schaffen, die, teils nostalgisch, teils entspannt, teils ironisch überhöht, ins Allgemeine drängt – ins Allgemeine eines Lebens, das eine Signatur hat.

*

Ich schreibe diese Zeilen im Jänner des Jahres 2021, zu einer Zeit, da die Corona-Pandemie nach einem Jahr quälender Einschränkungen nun die Politik in Österreich und Deutschland zwingt, wieder einen sogenannten Lockdown über die Gesellschaft zu verhängen. Die Philosophie hat dazu nichts zu sagen. Aber warum schwiegen die Kirchen? Sollten sie uns nicht Gottes Willen »ausdeutschen«?

Kaum einer jener Allesbesserwisser, welche die ausbleibenden kirchentheologischen Kommentare zur neuesten Pandemie polemisch kommentieren, gehört zur Gruppe der aufrichtig Betroffenen. Weder macht den meisten Kritikern die Fadenscheinigkeit religiöser Begründungsmuster zu schaffen, noch sorgt sie der Verlust heilsgeschichtlicher Motive. Doch inwiefern erwartet der moderne Gläubige, autoritativ mit »Erklärungen« versorgt zu werden, was Gott wollte, indem er uns die Geißel Covid- 19 samt Mutationen »sandte«?

Als im Jahre 2004 der Tsunami in Indonesien fast eine Viertelmillion Todesopfer forderte, war hierzulande zwar nicht offen von einem Strafgericht Gottes die Rede. Aber der eine oder andere Kirchenfürst fühlte sich trotzdem bemüßigt, darüber zu predigen, dass Gott seinen Geschöpfen – uns – eine schmerzhafte Lehre erteilen wollte, damit wir wieder auf den rechten Weg des Lebens und vor allem des Glaubens zurückfänden. Nun, aus dem Kopfschütteln der Medien über solche Erklärungsversuche haben die Glaubensautoritäten gelernt. Die Zeiten, in denen ein mittelalterlicher Geist praktisch alle Menschheitsplagen, ob regional oder weltweit, als Strafgerichte Gottes zu interpretieren wusste, sind endgültig vorbei.

Nach den Gründen für diesen Wandel brauchen wir nicht zu suchen, sie sind offenkundig. Wichtiger ist es, klar zu erkennen, dass sich im Laufe der Zeiten das Glaubensgefühl selbst grundlegend geändert hat. Seit dem 18. Jahrhundert hat dazu die Theodizee, das heißt der bemüht-aufgeklärte, rational argumentierende Versuch maßgeblich beigetragen, unsere Welt trotz all der Übel und des Bösen in ihr als »die beste aller möglichen« zu rechtfertigen (G. W. Leibniz). Der Versuch scheiterte; er belastete Gott. War er, der Weltschöpfer, womöglich ein böswilliger Dämon? Kümmerte ihn das Schicksal seiner Geschöpfe, hatte er sich von seiner Kreation etwa abgewandt? Oder war Gott womöglich nur eine Fiktion überhitzter, verzweifelter Gehirne, die sich einen Übervater zurechtreimten?

Was die Verächter der Religionen und Heilsgeschichten, die »religiös Unmusikalischen« (Max Weber) nicht wahrhaben, indem sie auf die Glaubensschrumpfung im säkularisierten Westen hinweisen, ist die Evolution des religiösen Weltbildes. Während die Kritiker nur noch verschollene Gewissheiten und liturgische Leerläufe sehen, wirkt bei vielen derer, welche sich eine Existenz außerhalb der religiösen Lebensform kaum vorstellen können, die Symbolkraft der heiligen Schriften und ihrer Botschaft nach innen. Die Verinnerlichung des Glaubens geht einher mit der tröstlichen Gewissheit, dass, bei aller Unwissenheit über den höheren Sinn der massenhaft umlaufenden Übel, wir doch eingebettet sind in einen »Kosmos« – eine Weltordnung, von der es im biblischen Schöpfungsbericht, der Genesis, lapidar heißt, sie sei »gut«.

Im Zentrum des Glaubens wirkt ein existenzielles Paradox. Der religiöse Mensch hat sich ohne Wenn und Aber der Fürsorge Gottes überantwortet. Wittgenstein litt zeitlebens darunter, nicht in den Kreis des fraglosen Glaubens eingelassen zu werden. Das Denkgenie hielt die Ethik für mystisch und daher im Grunde für unaussprechbar. Deren oberste Maxime schien, in Worte gefasst, bloß hässlichen Unsinn zu ergeben: »Was immer passiert, mir kann nichts passieren.«

Im bäuerlichen Volksstück des österreichischen Dichters Ludwig Anzengruber, betitelt: Die Kreuzelschreiber (1872) – das sind des Lesens und Schreibens Unkundige –, wird diese Maxime ausgesprochen. Sie hat den Zuhörer Wittgenstein eine »Einsicht« beschert, an welcher er sein Leben lang festhielt: Der wahrhaft Gläubige empfindet, indem er ein gottgefälliges Leben zu führen sucht, eine Art absoluter Geborgenheit im Schlechten, deren Quelle die unbedingte Liebe Gottes ist.

Kürzlich erst erhielt ich freundliche Zeilen von einem Franziskaner, der auf einige meiner gelegentlichen Bemerkungen zur drohenden Apokalypse unserer zivilisierten Welt reagierte: »Wir leben letzten Endes nicht aus der Dramatik der Apokalypse, auch wenn ich diese für wichtig und wesentlich halte, sondern aus dem Staunen über eine sich verschwendende göttliche Liebe. Auch wir wollen lieber Heilung und Problemlösung. Aber in der Covid-Krise erinnern wir uns vielleicht neu an das Wesentliche der Liebe, die hinter allem steht.«

Dem entsprechen die christlichen Ideale der Caritas und Misericordia, der tätigen Nächstenliebe und Barmherzigkeit gegenüber den Armen und Elenden. Dabei handelt es sich um das Bemühen, dem Schöpfungswollen gerecht zu werden. Alles Weitere – das ist wohl der glaubensprofunde Grund für die Zurückhaltung der Kirche mit »Erklärungen« zur Pandemie – übersteigt das menschliche Fassungsvermögen. Man muss dieser Demut vor dem Unfassbaren nicht beitreten; indes, man sollte sich über sie auch nicht mokieren. Denn sie ist mindestens ebenso fundamental für unsere humane Verfasstheit – für den Sinn des Lebens – wie das Streben, unserem eigenen Leben Sinn zu geben, indem wir uns bemühen, das individuelle Leid zu lindern und die grassierende Welt-Not zu bekämpfen.

Finis philosophiae, Ende der Philosophie.

Und ihr Beginn …

Kleiner Sisyphos der großen Worte

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