Читать книгу Kleiner Sisyphos der großen Worte - Peter Strasser - Страница 8
Das richtige Falsche
ОглавлениеEs gibt solche Tage. In der Nacht hat ein eisiger Wind die Stadt blank gefegt, und nun, am Morgen, steht der Himmel blau im Fenster. Auf dem Fensterbrett schiebt sich das erste Blütenrot durch die harten, kugeligen Knospen der Zimmerkamelie. Ich aber sitze beim Frühstückstisch und denke an die Transzendenz des Ego. Die Folge: Morgengrausen.
Später am Tag dann meine Vorlesung zur Transzendenz des Ego. Hinterher stürmt ein Student in meine Sprechstunde und schaut mich herausfordernd an. Er habe, sagt er, kein Ego, daher – und dabei kommt sein Gesicht dem meinen so nahe, dass ich den Eindruck habe, er will durch meine Augen hindurchstarren – habe er auch nichts, was transzendent sein könnte. Er ist da, sagt er, einfach da: »Und damit werden Sie leben müssen!«
Er riecht nach Tabletten, ich will ihn fragen, ob er wegen seines Problems einen Arzt konsultiere, stattdessen sage ich bloß: »Ich kann Sie gut verstehen.« Da beginnt er, über das ganze Gesicht zu strahlen, es macht ihn glücklich, so einfach verstanden zu werden, statt in eine quälende Diskussion über sein fehlendes Ego und sein totales Dasein eintreten zu müssen. Er sagt noch – wozu kein Anlass besteht, es ist ja meine Sprechstunde –: »Entschuldigen Sie die Störung«, und schon ist er wieder draußen bei der Tür.
Tags darauf hat das Wetter umgeschlagen. Nebel, Regen, Smog. In meinem Dienstzimmer habe ich das Licht brennen. Das kann man von draußen durch die Oberlichten sehen. Ich habe keine Sprechstunde, dennoch tritt nach kurzem Anklopfen, das mir nicht einmal die Möglichkeit lässt, mich abwesend zu stellen, der Student ein, der behauptet, kein Ich zu haben. »Darf ich mich setzen?«, fragt er und sitzt bereits. »Aber bitte«, sage ich und rieche Tabletten.
Ich will ihn fragen, ob es ihm gut gehe, doch bevor ich den Mund aufmachen kann, sagt er: »Mir geht es gut.« Während ich mich zu ihm setze – mir fällt nichts Besseres ein, ich kann ihm nicht einfach die Tür weisen (Tablettengeruch!) –, ist mein Kopf leer; ich habe nicht die geringste Ahnung, wie ich das Gespräch beginnen soll. Er würde mir vermutlich ohnehin zuvorkommen und die Frage, die ich ihm stellen möchte, beantworten, bevor ich anfange, sie überhaupt auszusprechen. So sitzen wir eine Zeitlang da und schauen uns an.
Dann beginne ich ihm eine Geschichte zu erzählen, die mir plötzlich einfällt. Sie passt zu uns beiden, wie wir dasitzen und einander anschauen. Ich erzähle ihm, dass ich an der großen, zweiteiligen Tafel des Hörsaales, in dem ich meine Vorlesung zur Transzendenz des Ego halte, immer den falschen Knopf erwische, wenn ich versuche, den vorderen Teil der Tafel nach oben zu bewegen, sobald ich ihn vollgeschrieben habe. Immer. Immer bewegt sich der hintere Teil nach oben, was komplett sinnlos ist.
Das brachte mich eines Tages auf die Idee, meinem Auditorium, das mein Treiben an der Tafel stets belustigt verfolgte, regelrecht feierlich anzukündigen, ich würde von nun an, statt auf den Knopf zu drücken, den zu drücken ich mich bereits entschlossen hatte, immer auf den anderen drücken: Das müsste, da ich zunächst ja immer den falschen Knopf drückte, dann immer der richtige sein. »Ich habe«, sagte ich also, »mich soeben entschlossen, von diesen beiden Knöpfen hier den linken zu drücken, also drücke ich jetzt den rechten …«
»Ich war damals dabei«, sagt mein Gegenüber, »Sie haben den richtigen Kopf gedrückt.« Jetzt habe ich ihn, denke ich mir, und schaue aus dem Fenster, um mir meinen kleinen Triumph nicht anmerken zu lassen. Draußen ist die Welt fast verschwunden. Der Nebel hat alles weggepackt. Oder ist es bloß die Lustlosigkeit der Dinge, sich zu zeigen? Ungesunde Gedanken, denke ich, das muss der Tablettengeruch sein. »Ich habe den falschen Knopf gedrückt«, sage ich. »Und das«, sagt mein Gegenüber, »war in gewissem Sinne der richtige.«
Streber, denke ich. Strebergeruch. Der Streber weiß die Pointe schon im Voraus. Falls da eine Pointe ist, weiß er sie schon im Voraus.
»Wenn es wahr ist«, sagt der Streber, »dass man zuerst immer den falschen Knopf drückt, dann hilft es nichts, sich vorzunehmen, den ersten Knopf, den zu drücken man sich bereits entschieden hat, nicht zu drücken. Denn dann ist der erste Knopf, den man drückt, eben der, den zu drücken man sich erst entscheidet, nachdem man sich entschieden hat, den Knopf, den zu drücken man sich bereits entschieden hatte, nicht zu drücken. Das ist dann eben der erste Knopf, den man drückt, und daher – weil der erste Knopf, den man drückt, immer der falsche ist – nicht der richtige, sondern der falsche. Und daher«, fügt der Streber nun seinerseits mit verhaltenem Triumph hinzu, »in gewissem Sinne doch der richtige …«
Schön, denke ich, er hat zwar kein Ich, dafür ist er nicht auf den Kopf gefallen; ein dialektisches Talent. »Übrigens, wie heißen Sie, wenn ich fragen darf?«, frage ich, was keine Beleidigung ist, denn ich kann mir nicht die Namen aller meiner Studenten, die zu Hunderten in meinen Vorlesungen sitzen, auswendig merken. »Streber«, sagt er.
Da muss ich lachen, obwohl ich mir hätte denken können, dass ein Streber nicht so viel Selbsteinsicht besitzt, sich selbst »Streber« zu nennen. Der Streber freilich schaut mich bloß an (so schauen Menschen, die sich eine dumme Bemerkung über sich selbst schon tausendmal haben anhören müssen) und sagt: »Ich bin kein Streber, ich heiße bloß so.« Ich kann nicht sagen, dass mir das nicht peinlich wäre. Es ist mir peinlich, und wie immer, wenn man eine Peinlichkeit dadurch überspielen möchte, dass man eine noch größere draufsetzt, will ich ihn jetzt unbedingt, sofort, nach den Tabletten fragen.
»Ich nehme Tabletten«, sagt Streber. Das sagt er, ich hätte es voraussagen können, bevor ich ihn fragen konnte. Ich beginne, mich zu verkrampfen. Wie soll man mit einem tablettensüchtigen Menschen ein therapeutisches Gespräch führen, wenn er die Antworten auf die Fragen, die man ihm stellen möchte, stets vor den Fragen parat hat? Ich merke, wie ich mich in mich hineinverkrampfe. Ich stehe unter dem Druck, Streber eine derart hochintelligente, von ihm nicht erwartbare Frage zu stellen, dass ihm gar nichts anderes übrig bleibt, als mir zu antworten, nachdem ich die Frage gestellt habe. Also frage ich:
»Sie nehmen Tabletten, weil Sie glauben, kein Ich zu haben?«
Das ist die dümmste Frage, die einem einfallen kann, wenn man mit einem Philosophen spricht. Und Streber ist ein Philosoph, so viel steht fest! Mehr als achtzig Prozent der heute lebenden Philosophen glauben, kein Ich zu haben. Sie glauben, ihr Ich sei eine von ihrem Gehirn in grauer Vorzeit produzierte Illusion im Dienst des Überlebenskampfes. Die Theorie dazu lautet, dass Biomaschinen, die glauben, ein Ich zu haben, jenen gegenüber, die tatsächlich keines haben, weil sie nicht einmal fälschlich glauben, eines zu haben, sich langfristig an ihre Umwelt besser anzupassen imstande sind.
»Ja«, sagt Streber, »ich nehme Tabletten, weil ich glaube, kein Ich zu haben. Ich glaube aber nicht bloß, keines zu haben, ich habe keines.«
Vielleicht, denke ich, ist Streber doch kein Philosoph. Er bildet sich ein, er könne ein Ich haben, das keine Illusion wäre. Ich merke, wie ich mich entkrampfe, und in dem Maße, in dem ich mich wieder entspannt zu fühlen beginne, frage ich Streber ein wenig von oben herab: »Warum nehmen Sie dann die Tabletten, was immer das für Tabletten sind?«
»Weil«, sagt Streber, »mein Psychiater sagt, es sei zwar wahr, dass das Ich eine vom Gehirn produzierte Illusion sei, aber alle, die diese Illusion nicht hätten, schleunigst Tabletten nehmen sollten.« Wenn Streber verrückt ist, dann braucht er Tabletten, keine Gleichnisse. Ich aber wollte ihm ein Gleichnis offerieren. Das Gleichnis von den beiden Knöpfen, von denen man zuerst immer den falschen drückt.
»Angenommen«, so wollte ich Streber belehren, »ich will wissen, ob ich ein Ich habe. Ich drücke also den einen Knopf, das heißt, ich konzentriere mich auf mein Ich. Das war der falsche Knopf, denn jetzt merke ich, dass meine Konzentration ins Leere geht. Es ist, als ob ich kein Ich hätte. Was also entspricht dem jeweils anderen Knopf?« So hätte ich gefragt, und nun, ohne gefragt zu sein, antwortet Streber:
»Dem jeweils anderen Knopf entspricht, nicht auf sein Ich zu achten und nicht darauf zu achten, dass man nicht auf sein Ich achtet. Einfach vor sich hin zu leben, dies und das zu tun, eingebettet in die Plazenta der eigenen Erlebnisse, die kommen und gehen. Das ist der andere Knopf, nicht wahr? Solange alles läuft, wie es läuft, ist das Ich da. So einfach, wie das Leben da ist. Da und ungreifbar.«
»Nun also entschließe ich mich«, fährt Streber fort, »diesen anderen Knopf zu drücken. Dazu muss ich mich tüchtig anstrengen, nicht darauf zu achten, dass ich nicht auf mein Ich achte. Und peng! Schon beginne ich, auf mein Ich zu achten in der Absicht, nicht auf mein Ich zu achten. Peng! Ich habe wieder den falschen Knopf gedrückt.«
»Es hilft nichts«, fährt Streber fort, »man muss zuerst den falschen Knopf drücken, um dann – vielleicht – den richtigen drücken zu können, den Knopf, der alles laufen lässt, wie es läuft. Um zu wissen, dass man ein Ich hat – was ganz und gar nicht dasselbe ist, wie einfach eines zu haben –, muss man zuerst auf den falschen Knopf drücken, nicht wahr? Man muss zuerst wissen, wie es ist, kein Ich zu haben, um dann eines haben zu können: bewusst zu haben, ohne dass das Bewusstsein, eines zu haben, es gleich wieder verschwinden lässt, weil man darauf achtet, wie es ist, eines zu haben. Habe ich recht?«
Hat er recht? Ich schaue aus dem Fenster, um ihm nicht in die Augen schauen zu müssen. Was Streber sagt, hätte ich in meiner Vorlesung über die Transzendenz des Ego selbst sagen können, und ich bin mir nicht sicher, ob ich nicht alles, was Streber sagt, in meiner Vorlesung selbst gesagt habe. Genau so. Mich beginnt ein Gefühl der Unwirklichkeit zu beschleichen. Ja, es ist tatsächlich ein Schleichen, oder besser, ein Nebel, der sich einschleicht. So, denke ich, genauso schleicht sich der Wahnsinn ein, zwei sitzen einander gegenüber und der eine hat plötzlich das Gefühl, nicht mehr zu wissen, ob er selbst es ist, der aus dem Mund des anderen spricht.
Vor dem Fenster hat sich der Nebel ohne ersichtlichen Grund verzogen, was mein Gefühl, etwas Fremdes sei dabei, sich in mich einzuschleichen, vage verstärkt. In mir rumort ein Verdacht, den ich gleich wieder unterdrücke: Konspiriert Streber, der Nebulose, mit dem Nebel, um mich zu übernehmen? Ist das alles hier eine Inszenierung von Kräften, die mich schon seit meiner Kindheit dazu treiben, ungesunde Gedanken zu denken, beispielsweise den, dass ich ich bin, bloß, um in solchen ausweglosen Kreisläufen herumzuirren, bis ich reif bin zur Übernahme?
»Habe ich recht?«, fragt Streber, ein wenig ungeduldig, und es ist diese durchschnittliche studentische Ungeduld, die den bösen Zauber löst. Ich bin wieder bei mir, sitze in meinem Dienstzimmer, im zweiten Stock meiner Fakultät, und sehe, wie im vierten Stock des gegenüberliegenden Gebäudes ein alter Mann auf dem Balkon steht.
Ich kenne den Mann schon lange. Jeden Tag um dieselbe Zeit tritt er aus seiner Wohnung auf den Balkon hinaus. Es ist, als ob er aus einem schwarzen Loch käme, sich buchstäblich materialisierte. Der Alte kommt wie aus dem Nichts, sommers und winters. Er stellt sich an die Brüstung des Balkons und schaut. Sein Kopf bewegt sich hin und her, wie der Kopf einer Puppe. Er schaut gleichsam ohne Fokus, als ob er gar nicht wirklich schaute, sondern sich bloß den Anschein gäbe, Ausschau zu halten. Was soll das? Und Ausschau wonach? Der Alte, denke ich, könnte Strebers Vater sein.
»Das ist mein Vater«, sagt Streber, der meinem Blick gefolgt ist. Und dann erzählt mir Streber, warum er kein Ich hat. Er hat alles, was andere auch haben. An seine Kindheit kann er sich gut erinnern. Er will nicht ins Detail gehen, aber er war ein glückliches Kind. Die Mutter starb, der Vater lebt. Lebt noch. Streber schaut aus dem Fenster, zum Balkon hinüber. Dort ist nur mehr das dunkle Viereck der Türe zu sehen, die in die Wohnung hineinführt, aus der kein Licht dringt, obwohl der Tag, jetzt, da sich der Nebel verzogen hat, seine ganze Düsternis hervorkehrt. Ja, er war ein glückliches Kind, umgeben von den unsterblichen Helden von Raumschiff Enterprise und Baywatch, den Backstreet Boys, den Gummibärchen und all den nach Labello duftenden Girls, mit denen die coolen älteren Typen herumhingen. Aber dann, eines Tages, war dieser Riss in den Nächten da. Das war, als er noch ein Ich hatte.
Ihn quälte ein wiederkehrender Albtraum. Er schwebte. Er schwebte reglos im Dunkeln. Vor ihm, in einer Distanz, die unmöglich zu bestimmen war, sah er, das Blickfeld randlos ausfüllend, eine monochrome graue Fläche, die in der Dunkelheit schwach leuchtete. In der Mitte der Fläche war, von oben nach unten, ein Strich gezogen. Sonst nichts. Kein Grund zur Panik. Und doch begann Streber, vor der Wand mit dem Strich reglos schwebend, im Traum zu schreien. Schreiend wachte er auf. Er sah die besorgten Gesichter seiner Eltern, die zu ihm ans Bett gekommen waren. Als er ihnen seinen Traum erzählt hatte, schüttelten beide lachend den Kopf, sie waren ehrlich erleichtert. Man fürchtet sich doch nicht vor einem Strich an der Wand! Seitdem erzählte er seinen Eltern, wenn sie ihn wieder einmal durch die Wand seines Zimmers hindurch schreien gehört, ihn aufgeweckt und befragt hatten, einen wirklichen Albtraum, den er sich am Abend zuvor ausgedacht hatte.
»Man fürchtet sich nicht vor einem Strich an der Wand«, sage ich und versuche, nicht auf meine Armbanduhr zu schielen, denn ich weiß ja ohnehin, dass meine Sprechstunde längst vorüber wäre, hätte ich heute eine. »Sie haben keine Sprechstunde«, sagt Streber, »das tut mir leid.«
Streber versuchte, seine Angst zu besiegen. Bevor er einschlief, konzentrierte er sich darauf, keine Angst mehr zu haben vor dem Strich an der Wand. Er würde, vor der Wand schwebend, an all die Dinge denken, die ihm Freude und lustvolle Unruhe bereiteten: an das knallgelbe Surfbrett von Pamela Anderson, das Kleben eines Gummibärchens am Gaumen, bevor es verschluckt wird, den Küss-mich-Geruch von Labello-Lippen. Tatsächlich wurde der Strich an der Wand blasser und blasser, um schließlich ganz zu verschwinden. Aber es blieb die Wand. Schwach leuchtend, fast monochrom, grau mit irisierend grauen Flecken, die sich kaum voneinander abhoben. Und es blieb die namenlose Angst des reglosen Schwebens. Als Streber wieder einmal schreiend erwachte, weil er dem Grauen der Wand nicht entkommen konnte, da wusste er es: Er war nicht da! Dieses Schauen im Traum war er und er war abwesend, ein blankes Gesichtsfeld, eine Leerstelle.
»Damals«, sagt Streber, »habe ich zu verstehen begonnen, ich verstand nur nicht, was es war, das ich verstand.« Aha, denke ich, das ist Strebers Verstehenstiefsinnskitsch. Inzwischen scheint draußen die Sonne auf die Front des gegenüberliegenden Hauses. Hinter den Balkonen blinken die Fenster, da und dort werden Türen geöffnet, die Bewohner treten ins Freie: Pensionisten, Studenten, Arbeitslose in mittleren Jahren (man erkennt sie daran, dass sie geschäftig tun, sie halten Ausschau, auch wenn sie nur gelangweilt den unten vorbeifahrenden Autos nachschauen). Der alte Mann ist ebenfalls wieder zu sehen. Er ist ausgehfertig, schaut nach oben, prüft wohl, ob das schöne Wetter halten wird. Das ist nicht sein Vater, denke ich, das hat Streber bloß gesagt, um sich interessant zu machen. Tiefsinnskitsch.
»Das ist nicht mein Vater«, sagt Streber, »ich wollte nur, dass Sie mir eine Zeitlang zuhören. Ich wollte nur, dass Sie verstehen, wie es ist, kein Ich zu haben. Sie halten eine Vorlesung über die Transzendenz des Ego, doch Sie haben keine Ahnung, wie das ist …«
Keine Ahnung? Ich bin ernsthaft gereizt, entschlossen, das Gespräch zu beenden. Schließlich spricht mir dieser Student, der in meine Nichtsprechstunde kommt und mich mit seiner Lebensgeschichte behelligt, die vor allem aus einem Albtraum zu bestehen scheint, nun die Kompetenz ab, eine Vorlesung über die Transzendenz des Ego zu halten. Und während ich beginne, mich von meinem Sessel zu erheben, frage ich, so wie man jemanden zum Abschied fragt, ob man noch etwas für ihn tun könne: »Und wie ist es, kein Ich zu haben?«
»Das wollte ich Ihnen gerade erzählen«, sagt Streber und schaut mich an. Ich rieche die Tabletten. Sein aufgeschwemmtes Gesicht, in das einige verschwitzte Haare gerutscht sind, zeigt Züge einer Marter, die mich veranlassen, mich wieder hinzusetzen.
»Wenn Sie kein Ich haben«, sagt Streber, »dann ist das so, als ob Sie an der Tafel jeden Knopf drücken könnten, und es wäre immer der richtige Knopf, gleichgültig, welcher Teil der Tafel nach oben geht. Es ist dann immer der richtige Knopf, weil alles, was Sie tun, zu Ihnen gehört wie das Amen zum Gebet. Sie können sich dann nicht von sich selbst abwenden. Sie können nicht sagen: Ich hätte den anderen Knopf drücken sollen! Denn welchen Knopf auch immer Sie drücken, es handelt sich stets um den einfachen, reinen Ausdruck Ihres Wesens, Ihres opaken Wesens, hinter dem nichts steckt außer all dem, was Sie tun oder lassen, was Sie anstoßen oder Ihnen zustößt. Alles gehört zu Ihnen. Sie sind, was Sie sind. Alle Tatsachen des Universums, sozusagen, die zu Ihnen in irgendeiner Beziehung stehen – und alle Tatsachen stehen zu Ihnen in irgendeiner Beziehung –, definieren Sie als den, der Sie sind. Verstehen Sie das?«
Da ich zu begreifen beginne, dass Streber entweder vollkommen verrückt oder bloß ein durchschnittlich verwirrter Student der Philosophie ist, der von seinem Psychiater vollkommen verrückt gemacht wird, sage ich mit gespielter Leichtigkeit: »Natürlich verstehe ich das.« Da sagt Streber: »Wie wäre es, wenn ich morgen in Ihrer Vorlesung versuchen würde, für Sie den anderen Knopf zu drücken?«
Am nächsten Tag betrete ich den Hörsaal ein paar Minuten zu früh. Einige Studenten sitzen bereits herum. Statt aber wie üblich vor sich hin zu dösen, schauen sie nach vorne und wissen nicht, was sie von dem zu halten haben, das sich dort ereignet. Dort steht einer und werkelt an den Knöpfen herum, sodass die beiden großen Tafeln ununterbrochen auf- und abfahren. Aus den Gesten der teils erheiterten, teils stellvertretend verlegenen Zuschauer lässt sich leicht eine Frage ablesen: Ist der da vorne verrückt?
Wie sollten sie wissen, dass Streber mir bloß zeigen will, was es bedeutet, den anderen Knopf zu drücken?