Читать книгу Einführung in die Musikpädagogik - Peter W. Schatt - Страница 8

1.1 Musikpädagogisches Denken als Praxis und „Gegenstand“

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Drei Beispiele aus drei verschiedenen Lebensbereichen mögen in unser Vorhaben einführen, indem sie aufzeigen, wo und wie musikpädagogisch, nämlich über das Verhältnis von Mensch und Musik sowie dessen Veränderung im Sinne einer Optimierung nachgedacht werden kann:

Meine Zahnärztin fragte mich, ob ich ihr empfehlen würde, ihre Tochter zur Musikalischen Früherziehung zu schicken. Sie sei drei Jahre alt, singe ganz allerliebst verschiedene Lieder mit recht reiner Intonation und spiele mit Begeisterung auf ihrem kleinen Glockenspiel, erfinde dabei sogar selbst die eine oder andere Melodie. Sie wolle diese offenbar vorhandene Neigung oder Begabung fördern.

Wenig später dachte ich über ein Konzertprogramm nach. Ich wollte eine Komposition von Karl Gottfried Brunotte in der Hochschule aufführen in der Absicht, den Studierenden ein Werk zu Gehör zu bringen, in dem sich exemplarisch aktuelles musikalisches Denken zeigt. Um ein Konzertprogramm zusammenzustellen galt es, andere Werke hinzuzufügen. Meine Wahl fiel auf Karlheinz Stockhausens „Spiral“ und Alban Bergs „Vier Stücke für Klarinette und Klavier“, da diese Werke – wie das von Brunotte – Ergebnisse eines Denkens sind, das Grenzen zu überwinden sucht. Diese Grenzüberschreitung hörend wahrzunehmen schien mir interessant, da sie zum einen zur Musikgeschichte und zum anderen zur musikalisch-kulturellen Bildung gehört.

Ein halbes Jahrhundert zuvor dachte meine Mutter, es wäre schön, ein musikalisches Kind zu haben, und so sang sie während ihrer Schwangerschaft ein Lied nach dem anderen in der Hoffnung, dies würde Auswirkungen auf die Eigenschaften ihres Nachwuchses haben.

In allen drei Fällen wurde darüber nachgedacht, ob, wie und in welchen Hinsichten Menschen in ihrem Umgang mit Musik gefördert werden können oder sollen. Aber dürfen wir das Denken in allen drei Fällen als musikpädagogisch bezeichnen?

Statt schnell eine mehr oder weniger begründbare Antwort zu geben, wenden wir uns den Problemen zu, die mit der Begriffskombination „musikpädagogisches Denken“ aufgeworfen werden.

Musikpädagogisches Denken

In unserem Falle hieße dies, dass ein Zusammenhang von Musik und Pädagogik besondere Weisen des Denkens ermögliche, nahe lege oder gar impliziere.

Das Irreführende an dieser Überlegung macht ein Blick auf neurobiologische und kognitionstheoretische Erkenntnisse zur Funktionsweise des Gehirns sowie zu den Vorgängen der Wahrnehmung und des Bewusstseins deutlich: Prinzipiell funktionieren alle Gehirne gleich, in allen Gehirnen ereignen sich bei den genannten Vorgängen dieselben Prozesse – das Denken selbst ist immer dasselbe. Es wäre ein Irrtum, zu glauben, dass Denken anders als in anderen Zusammenhängen funktioniere, wenn es auf Musikpädagogisches gerichtet sei. Allerdings beschreiben die genannten Wissenschaften nur die Funktionen, nicht die Inhalte. Und unter Berücksichtigung der inhaltlichen Dimension dürften wir denn doch zu Differenzen kommen: Die Sicht auf die Gegebenheiten des Lebens dürfte je nach Maßgabe von Interessen, Intentionen, Erfahrungen, Fähigkeiten und Fertigkeiten eine jeweils andere sein – wenn nicht in den Strukturen des Denkens, so doch in der Weise, wie die Erscheinungen als Wirklichkeit wahrgenommen und zu Aussagen, Erkenntnissen und Einsichten verarbeitet werden.

Ein Beispiel mag dies verdeutlichen: Ein Autofahrer denkt anders, wenn er einen Wagen mit Schaltgetriebe fährt als wenn ihm eine Automatik zur Verfügung steht, er reagiert wahrscheinlich auf der Fahrt zur Arbeit in seiner Limousine anders als bei einer Spazierfahrt im offenen Cabriolet – obwohl die fundamentalen Vorgänge, mit denen er der Umwelt Beachtung widmet, gleich sein dürften. Ein Verkehrspolizist, der die Einhaltung von Regeln beachtet, wird ganz anders über diese Autofahrten denken; noch anders ein Mediziner, den der Einfluss des Verkehrs auf die Herzfrequenz interessiert, ein Chemiker, der die Zusammensetzung der Abgase unter dem Einfluss des Verkehrsverhaltens untersucht oder ein Psychologe, der nach Wechselwirkungen zwischen Autotyp und Wohlbefinden fragt. Das jeweils Andere bei den genannten Personen liegt in den Weisen des Denkens – aber nicht in struktureller, sondern in formaler und inhaltlicher Hinsicht: Alle nehmen Wirklichkeit wahr und stellen das Wahrgenommene in bereits vorhandene Zusammenhänge; dasjenige aber, was sie an der Wirklichkeit wahrnehmen, ist unterschiedlich, und zwar deshalb, weil die Wirklichkeit unter verschiedenen Voraussetzungen erschlossen und in unterschiedlichen Kontexten mit unterschiedlichen Interessen und Arbeitsweisen verarbeitet wird. Dies in Hinsicht auf musikpädagogisches Denken zu entfalten, wird ein zentrales Anliegen der folgenden Ausführungen sein.

Zwischen eigener und fremder Wirklichkeit unterscheiden

Dasjenige, was an allen denkenden Gehirnen gleich ist, hat in sehr einfacher und einleuchtender Weise der Schweizer Wissenschaftler Hans Aebli herausgestellt. Es lässt sich bereits dem Titel seiner Hauptschrift entnehmen: „Denken – das Ordnen des Tuns“. Einer der zentralen Gedanken dieser Schrift besagt, dass Denken sich auf ein Tun beziehe, welches vorausgegangen sei, und zwar im Modus des Ordnens – so dass umgekehrt Denken sich dadurch artikuliere, dass Ordnung hergestellt werde.

Um Ordnung herzustellen, benötigt man Kriterien, mit deren Hilfe man die wahrgenommenen Phänomene unterscheiden kann, und man benötigt Kategorien, um die Bereiche des Wahrgenommenen zu beschreiben. Solche Kategorien sind nicht ein für alle mal gegeben und sie stehen nicht für alle Menschen fest, sondern sie sind abhängig von den Intentionen, die Menschen in bestimmten Situationen verfolgen. Wenn wir hier von musikpädagogischem Denken sprechen, richtet sich unser Denken auf ein bestimmbares Tun (das musikpädagogische), und zwar in der Absicht es zu ordnen und zugleich im Vollzug dieses Ordnens.

Dabei gilt es zu unterscheiden: zwischen eigenen und fremden Absichten, eigenen und fremden Mitteln und damit generell zwischen eigener und fremder Wirklichkeit. Nicht nur, wenn ich über mögliche Förderung oder Unterrichtung in Musik nachdenke, sondern auch, wenn ich das Nachdenken Anderer über mögliche Förderung oder Unterrichtung in Musik in den Blick nehme, denke ich über Musikpädagogik nach – und damit denke ich selbst bereits musikpädagogisch. Das Anliegen, Aussagen über musikpädagogisches Denken zu machen, würde demnach implizieren, auch selbst immer das eigene Denken in eine Distanz zu rücken, als sei es ein anderes. Da dies rein logisch gesehen gar nicht möglich ist, kann ich nur an die Praxis meines eigenen Denkens dieselben Kriterien anlegen wie an das Denken Anderer – eingedenk des unlösbaren Problems, auch dadurch keine absolute Objektivität gewinnen zu können. Im Gegenteil: Auch meine Aspekte, Kriterien, Kategorien habe ich in der Auseinandersetzung mit Anderen gewonnen – sie stellen quasi die Kehrseite des Anderen im Eigenen (oder des Eigenen im Anderen) dar. Wenn ich also hier über musikpädagogisches Denken nachdenke, indem ich das musikpädagogische Denken Anderer hinsichtlich der Inhalte und der Weise des Denkens zur Sprache bringe, artikuliert sich mein eigenes musikpädagogisches Denken.

Ziele wissenschaftlichen Denkens

Dieses Denken ist einer bestimmten Ordnung im Modus eines bestimmten Systems unterworfen: eines Systems, das wir Wissenschaft nennen. Ein wesentlicher Unterschied zu anderen (alltäglichen) Systemen des Denkens – solchen, die beispielsweise auf die Durchführung von Unterricht oder die überzeugende Darbietung eines Werks gerichtet sind – besteht darin, dass seine Vollzüge jederzeit nachvollziehbar und überprüfbar sein müssen. Dazu müssen die Kriterien, Aspekte, Kategorien benannt und vor allem begründet werden. Dies gilt sowohl für die Auseinandersetzung mit dem Denken Anderer als auch – quasi in eins damit – für den Vollzug des eigenen Denkens. Ziel nicht nur der Forschung, sondern wissenschaftlichen Denkens im Allgemeinen ist es u. a., Meinungen, Erfahrungen und Gewohnheiten durch Wissen zu ersetzen (vgl. GRUHN 2006, S. 34f.).

Ein zweites Problem ergibt sich aus kaum vermeidbaren Verallgemeinerungen. Die Formulierung unseres Themas legt die Vermutung nahe, dass es neben der Besonderheit eines musikpädagogischen Denkens etwas Allgemeines gebe, das sich als Gemeinsamkeit in allen Entäußerungen des Denkens finden lasse, die als musikpädagogisch zu bezeichnen wären. Dies zu glauben fällt schwer, wenn man zum einen die einschlägigen Veröffentlichungen der Vergangenheit und der Gegenwart in den Blick nimmt: Sie zeichnen sich nicht nur durch Fülle, sondern auch durch Verschiedenheit aus. Und zum anderen dürfte Musikunterricht – in dem sich immerhin auch musikpädagogisches Denken artikuliert –, zumindest durch Vielgestaltigkeit, wenn nicht durch komplette Heterogenität gekennzeichnet sein.

Gleichwohl widmen sich all diese Facetten musikpädagogischen Denkens dem gleichen Lebenszusammenhang. Ihn herauszustellen wird unsere nächste Aufgabe sein. Ferner wollen wir darüber nachdenken, warum es überhaupt eine bearbeitenswerte Aufgabe ist, den Inhalten musikpädagogischen Denkens und seinen Eigenarten nachzugehen. Dazu widmen wir uns zunächst dem Gehalt des Begriffs „musikpädagogisch“.

Wer pädagogisch denkt, widmet seine Aufmerksamkeit dem Menschen unter einem bestimmten Aspekt: dem Aspekt der Förderung im Sinne von Lernen, Bildung oder Erziehung. Grundlage dafür sind einerseits die Diagnose eines Ist-Zustands, der so beschaffen ist, dass Lernen, Bildung oder Erziehung als notwendig oder zumindest sinnvoll erscheinen und andererseits die Vorstellung davon, welcher Zustand durch Lernen, Bildung oder Erziehung erreicht werden soll.

Wesen des Pädagogischen

An dieser Stelle lohnt es sich, der ursprünglichen Bedeutung des Begriffs „pädagogisch“ nachzugehen. Der Begriff ist zusammengesetzt aus den griechischen Wörtern paiz oder paido, was „Kind“ oder „Knabe“ bedeutet, sowie agein: „führen“. Der Pädagoge ist also ursprünglich ein Leiter oder Führer von jüngeren Menschen gewesen, Leitung – auch Anleitung –, Führung oder zumindest Begleitung erscheinen als das Wesen des Pädagogischen. Interessant und weiterführend ist die Räumlichkeit dieser Begriffe: sie handeln von einer Bewegung, durch deren Vollzug sich Veränderung ereignet, und zwar unter dem Einfluss eines Menschen auf einen anderen. Nimmt man den Vorgang einmal beim Wort, so könnte man fragen: Wohin geht die Führung? Von wo beginnt sie? Mit welchem Recht nimmt einer die Rolle des Führers, einer die des Geführten ein? Anders gesagt: Woher nimmt jemand die Gewissheit, dass seine Diagnose des Ist-Zustands ein pädagogisches Handeln berechtigt, sinnvoll oder notwendig erscheinen lässt und woher weiß dieser Jemand, dass dasjenige, was sein soll, besser ist als das, was ist?

Musik: sein und sollen

Die Tragweite dieser Fragestellung wird deutlich, wenn wir das Pädagogische mit dem konkreten Inhalt der Musik füllen. Damit wäre zumindest die Richtung der Führung bestimmt: Sie soll zur Musik führen. Wo aber ist die Musik? Im Erklingen während eines Konzerts? Im Kopf des Komponisten? In der Partitur? Im eigenen Kopf? In den Beschreibungen der Musikwissenschaft? Und: Zu welcher Musik soll geführt werden? Zur Kunstmusik? Zur Musik fremder Kulturen? Zur Musik der Gegenwart? Warum soll überhaupt „zur Musik geführt“ werden, gehört doch, folgt man den einschlägigen Befragungen wie beispielsweise den Shell-Studien, Beschäftigung mit Musik zu den absoluten Lieblingstätigkeiten junger Menschen.

Musikpädagogisches Handeln fasst ein Sollen in den Blick, das sich vom Sein unterscheidet. Freilich sind dabei die Zustände zu klären, und die Sollens-Forderungen sind zu begründen; ferner sind Aussagen über die Möglichkeiten zu treffen, das Seiende zu verändern. Musikpädagogik gerät damit in ein ambivalentes Verhältnis zum öffentlichen Musikleben: Einerseits können die Intentionen auf Vertiefung, Intensivierung und Erweiterung gerichtet sein, andererseits auf Alternativen und Veränderungen. Wie soll der junge Mensch an Jugendkulturen teilhaben? Intensiver – engagierter – weniger – gar nicht? Soll Musikunterricht eine Zulieferfunktion für den Konzertbetrieb und die Opernhäuser haben? Soll und kann Musikunterricht zum Partner oder zum Widerpart des bestehenden Musiklebens werden? Und ist er im schulischen Bereich vielleicht überflüssig? Zur Musik geführt wird doch bereits in vielfachen Lebenszusammenhängen: Die Mutter tut es, wenn sie ihrem Kind ein Lied vorsingt, der MTV-Moderator tut es, wenn er den neuesten Hit vorstellt, der Konzertpianist tut es, wenn er ein Werk darbietet – und diejenigen tun es, die bereits Unterricht in Musik erteilen. Es scheint demnach so, als sei eine pädagogische Bemühung um den Menschen hinsichtlich seines Umgangs mit Musik in mehrfacher Hinsicht begründungsbedürftig: zum einen in Bezug auf Defizite beim vorhandenen und geübten Umgang und zum anderen mit Blick auf Mängel in der Weise des Umgangs.

Ziele und Aufgaben musikpädagogischen Denkens

Musikpädagogisches Denken richtet sich auf die Aneignung von Musik und die Ermöglichung sowie Förderung dieser Aneignung im Kontext von Erziehungs-, Bildungs-, Lern-, Lehr- und Unterrichtsperspektiven. Unter dieser Perspektive werden Voraussetzungen, Bedingungen, Intentionen, Inhalte, Vollzugsweisen, Ergebnisse und Legitimationen mit unterschiedlicher Akzentuierung in den Blick genommen. Und offenbar gibt es zwei Weisen, dies zu tun: eine, die auf konkretes musikalisches Handeln von Menschen gerichtet ist und eine, die die Legitimationen, Strukturen, Ursachen, Bedingungen, Voraussetzungen und Ergebnisse dieses Handelns untersucht, um Wissen zu erwerben. Wir haben es uns angewöhnt, die eine Weise als „Praxis“ zu bezeichnen, die andere als „Theorie“. Die bisherigen Ausführungen dürften bereits auf eine Schieflage in dieser Unterscheidung aufmerksam gemacht haben: Auch die Hervorbringung von „Theorie“ ist eine Praxis, und es ist umgekehrt keine „Praxis“ vorstellbar, in der nicht ein wie auch immer geartetes „theoretisches“ Denken verwirklicht würde. Festzuhalten bleibt immerhin, dass die Modi sich unterschieden: Der eine ist konkret auf Realisierung von Umgangsweisen gerichtet, der andere verbleibt im Status des Wissens.

Kehren wir an dieser Stelle zu den drei Fällen zurück, die eingangs geschildert wurden. Meine Zahnärztin bringt anthropologische und psychologische Beobachtungen – Alter und Begabung – in einen sozial-kulturellen Zusammenhang, aus dem sie eine Sollaussage ableitet: Weil ihre Tochter jung und begabt ist und Musikausübung ihr kulturell und für das Kind selbst als wünschenswert erscheint, erkundigt sie sich nach optimalen institutionellen Bedingungen für musikalisches Lernen. Freilich denkt sie nicht in diesen Begriffen und den dazugehörigen Kategorien – sie denkt nur darüber nach, wie sie etwas Gutes für ihr Kind tun könne. Dies ist aber ein Denken, das auf Lernen und Lehren von Musik zum Zwecke der Förderung des Kindes gerichtet ist – ein musikpädagogisches Denken als Praxis im Status alltäglichen Handelns.

Auch im Fall der Konzertplanung werden Voraussetzungen Anderer reflektiert, ins Verhältnis zu wünschenswert erscheinenden Kompetenzen gesetzt und entsprechende Maßnahmen eingeleitet, die jedoch auf spezifische Inhalte und nicht auf allgemeine Fähigkeiten bezogen sind.

Und das einstige Tun meiner Mutter erscheint fast wie eine Umsetzung neuester neurobiologischer Erkenntnisse: Da wird Erziehung – quasi im ganz fundamentalen Sinne von Züchtung – bereits in einem Stadium realisiert, in dem es noch um die Voraussetzungen von Wachstum geht: keineswegs unreflektiert, sondern im Horizont eines empirischen Wissens und mit Blick auf ein für erwünscht gehaltenes Menschenbild.

Vor dem Hintergrund dessen, was über das Denken als Ordnen des Tuns gesagt wurde, können wir nun zwischen einer alltäglichen, umgangsmäßigen und einer wissenschaftlichen Weise musikpädagogischen Denkens unterscheiden. Dabei zeichnet sich die wissenschaftliche Weise dadurch aus, dass sie nach Maßgabe bestimmter, nämlich wissenschaftlicher Modalitäten (Nachvollziehbarkeit, Überprüfbarkeit, Komplexität) reflektiert, was in der alltäglichen Weise vollzogen wird.

Die Ziele und die Aufgaben wissenschaftlichen musikpädagogischen Denkens werden keineswegs einheitlich umschrieben. Hermann J. Kaiser umriss beides folgendermaßen:

„Überblickt man die gegenwärtige Diskussion, so will wissenschaftliche Musikpädagogik Wissen schaffen um das, was im musikalischen Aneignungsvorgang vor sich geht, besser, d. h. vollständiger und gesicherter verstehen zu können; um sagen zu können, wie zukünftige musikalische Aneignungsprozesse vor sich gehen können; um diese Aneignungsprozesse besser fördern, kurz: sie pädagogisch verantwortungsvoller und sachlich adäquater realisieren zu können“ (KAISER 1983, S. 218).

Beim Wort genommen, geraten damit Musik und Mensch nicht nur in ihren Eigenschaften und in ihrer Wechselbeziehung, sondern auch in ihren jeweiligen Kontexten in den Blick. Sigrid Abel-Struth betonte dagegen, wissenschaftliche Musikpädagogik diene ausschließlich dem Erkenntnisgewinn im Felde pädagogischen Umgangs mit Musik (vgl. ABEL-STRUTH 1983, S. 204). Sie abstrahiert damit von einer auf künftige Unterrichtspraxis gerichteten Perspektive und befürwortet eine Wissenschaft, deren Funktion darin besteht, der Wissenschaft zu dienen. Genau entgegengesetzt postulierte Christoph Richter. Musikpädagogik habe „Menschen die Teilhabe an Musik zu ermöglichen“, sie zur Musik als einem Medium für Lebensvollzug, Erziehung und Lebensgestaltung anzuregen (vgl. RICHTER 1997. Sp. 1442).

Empirie – Interpretation – Kritik

Vergegenwärtigen wir uns hier die Eigenart von Musikpädagogik im Status von Wissenschaft, ohne über deren Funktion für außerwissenschaftliche Praxis zu urteilen.

Das einschlägige Wissen bezieht sich auf die Praxis der Aneignung und Vermittlung zwischen Musik(en) und Menschen. Es kann durch höchst unterschiedliche Tätigkeiten bzw. Zuwendungsweisen des Menschen erworben werben. Die zentralen Weisen, sich mit der Wirklichkeit zu befassen, sind Empirie, Interpretation und Kritik. Während eine empirisch-analytische Zuwendungsweise, wie sie für die Naturwissenschaften charakteristisch ist, primär beschreibend der Gegenwart gilt, richtet sich die Interpretation – das zentrale Verfahren der Geisteswissenschaften – im Modus des Verstehens und Deutens auf sie. Derartig geisteswissenschaftlich ausgerichtete Modi widmen sich nicht nur dem Präsenten, sondern dem fundamental Aktuellen wie auch dem Historischen. Ohne dies freilich kann auch eine kritische Zuwendung, die auf eine mögliche Wirklichkeit gerichtet und primär dem Ziel der Veränderung gewidmet ist, nicht auskommen. Und keineswegs kann oder soll mit diesen ganz groben Unterscheidungen gesagt sein, dass etwa empirisch gewonnene Befunde nicht der Interpretation bedürften bzw. dass die Strategien, mit denen sie angewendet werden, nicht das Ergebnis von Positionen sein können, die durch Deutung oder Interpretation – also Verfahren, die für die Geisteswissenschaften konstitutiv sind – gewonnen wären.

Die interne Verwobenheit verschiedener fundamentaltheoretischer Positionen und die daraus resultierenden Methoden, Ergebnisse und Konsequenzen sind insbesondere für die Fragestellungen und Aufgaben der wissenschaftlichen Musikpädagogik von Bedeutung. Als gemeinsames Ziel lässt sich der Gewinn von Theorien musikbezogener Aneignungs- und Vermittlungsprozesse benennen. Und dies alles dient dem Zweck, Erkenntnis, Orientierung, Erklärung und Entscheidungshilfe hinsichtlich des Problems hervorzubringen, wie der Umgang von Menschen mit Musik optimiert, angeregt und gefördert werden kann.

Sein und Sollen

Rudolf Dieter Kraemer hat die Aufgaben der Musikpädagogik und die erkenntnistheoretischen Positionen zusammenfassend dargestellt (KRAEMER 2004, S. 45). Demnach sind Vorgänge musikbezogener Aneignung und Vermittlung von Individuen in einer geschichtlich gewachsenen, kulturell-gesellschaftlichen Gesamtsituation im Rahmen ihrer jeweiligen Lebenswelt möglichst unvoreingenommen zu beschreiben und hinsichtlich ihrer Ursachen und Zusammenhänge zu erklären. Sie müssen dazu bewusst gemacht und gedeutet werden, um sie ggf. verändern zu können.

Die genannte Differenz zwischen Sein und Sollen ist in doppelter Hinsicht im Felde musikpädagogischen Denkens zu finden: Zum einen ist anzunehmen, dass bei allen Lernenden eine Differenz im Modus von Unkenntnis und Kenntnis zu konstatieren ist. Zum anderen gibt es eine derartige Differenz auch im wissenschaftlichen Schrifttum sowie in der unterrichtlichen Praxis. Diese Differenz zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit, Sein und Sollen besteht u. a. in differierenden Vorstellungen darüber, ob musikalisch-ästhetische Erfahrung, kulturelle Bildung oder musikpraktische Fertigkeiten für das Lehren und Lernen maßgeblich seien.

Allen genannten Fällen, Prozessen, Denkstrategien, Inhalten, Wissenschaftsbereichen usw. liegt eine Frage zugrunde. Sie lautet:

„Welche Fähigkeiten und Fertigkeiten (auch: Kompetenzen) braucht der Mensch heutzutage und künftig für einen sinnvollen Umgang mit Musik und was kann und soll man tun, um ihm deren Erwerb im Rahmen von Schule und Gesellschaft zu ermöglichen?“

Wir haben gesehen, dass diese Frage im Alltag und in der Forschung gestellt wird. Eine entsprechende Forschung gibt es, weil die Frage im Alltag von verschiedenen Menschen unterschiedlich beantwortet wird: Lehrer werden sie anders beantworten als Diskjockeys, Zahnärztinnen anders als Bardamen, Wissenschaftler anders als Politiker. Deutlich wird die Differenz zwischen Sein und Sollen, deutlich wird auch der Zusammenhang zwischen Empirie und Deutung: Erst wenn ich den konkreten Fall kenne, kann ich Aussagen über notwendige und wünschenswerte Förderung machen. Erst wenn ich weiß, worin musikbezogene Fähigkeiten bestehen, wodurch sie entstehen und wie sie sich zeigen, kann ich die Frage beantworten. Deutlich wird auch die Notwendigkeit historischer Forschung: Was ist im Schrifttum über Handlungsvorschläge nachzulesen? Und letztlich wird bereits hier die Differenz zwischen einer wissenschaftlichen und einer nichtwissenschaftlichen musikpädagogischen Fragehaltung deutlich – ein Musiklehrer nämlich würde die Frage ganz anders formulieren:

„Was kann ich in meinem Unterricht tun, damit meine Schülerinnen und Schüler im Unterricht so handeln, dass sie daraus einen Gewinn ziehen, der ihnen hilft, ihr künftiges Leben sinnvoller: genussreicher, erkenntnisreicher, aufgeschlossener, vielfältiger, den Möglichkeiten der Welt angemessener, menschenwürdiger gestalten zu können?“

Einführung in die Musikpädagogik

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