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1.2 Musikpädagogik – Musikerziehung – Musikdidaktik – Musikunterricht: Grundfragen, Aufgaben, Gegenstandsbereiche
ОглавлениеWir bemühen uns um die Begriffe, mit denen die Bereiche der pädagogisch orientierten Auseinandersetzung mit der Aneignung von Musik durch Menschen bezeichnet werden – sei sie auf den Gewinn von Wissen im Sinne von Wissenschaft, sei sie auf den Vollzug von Lehrhandlungen gerichtet –, weil sie auf die Unterschiedlichkeit und auf die Gemeinsamkeiten hinsichtlich der einschlägigen Aufgaben, Zielsetzungen und Fragestellungen verweisen.
Bereits bei deren näherer Bestimmung werden unterschiedliche Vorstellungen des Begriffs „Musik“ sowie unterschiedliche Vorstellungen von der Eigenart der Aktivitäten des Menschen, der mit dieser umgeht, deutlich – und damit auch unterschiedliche Vorstellungen von der Art und Weise, wie das Moment des Pädagogischen zu vollziehen sei.
Musikpädagogik als Fach, Studiengang und Bereich
Diese Begriffe spielen auch in der unmittelbaren Arbeits- bzw. Studienwelt derer, die einen musikbezogenen Lehrberuf ergreifen wollen, eine Rolle. Wer Musikpädagogik mit dem Ziel studiert, Diplom-Musikpädagoge zu werden, hat ein Fach zu belegen, das „Musikpädagogik“ heißt – und andere Fächer, die nicht damit identisch sind, wohl aber zum Studiengang Musikpädagogik gehören: Musikdidaktik, Allgemeine Didaktik, Unterrichtsplanung und -durchführung. Studierende im Lehramtsstudiengang haben beispielsweise in Nordrhein-Westfalen Musikpädagogik als einen Bereich zu studieren, der sich in „Geschichte der Musikpädagogik“, „Didaktik und Methodik einzelner Lernfelder“, „Musikdidaktische Konzeptionen der Gegenwart“ sowie „Musikpädagogik unter soziologischen und psychologischen Aspekten“ gliedert.
Musikerziehung – Schulmusik
Der Begriff Musikpädagogik scheint einerseits einen Bereich zu umschreiben, zugleich aber innerhalb dieses Bereiches ein „Fach“. Allerdings dürfte das Allgemeinere des Bereichs im Vergleich zu dem Fach nicht identisch sein mit „Allgemeiner Musikerziehung“, ist mit dieser Begriffskombination doch ein eigener Studiengang gemeint. Der Begriff der Musikerziehung wiederum war bis vor nicht allzu langer Zeit als Berufs- und Studienbezeichnung üblich – Musikerzieher bzw. Musikerziehung – und begegnet uns durchaus noch in Titeln wie „Handbuch der Musikerziehung“ (hrsg. von ERNST BÜCKEN), „Geschichte der Musikerziehung“ (WILFRIED GRUHN) oder „Anfänge institutioneller Musikerziehung“ (GEORG SOWA). Diese Titel sind Ergebnisse einer eingehenden Reflexion über das Selbstverständnis, und so ist der Differenz zwischen ihnen und Titeln wie „Handbuch der Musikpädagogik“ (hrsg. v. H. CHR. SCHMIDT und CHR. RICHTER) und „Geschichte der Schulmusik“ (GEORG SCHÜNEMANN) durchaus Bedeutung beizumessen. Den letztgenannten Begriff führen die beiden zentralen Berufsverbände VDS (Verband deutscher Schulmusiker) und AfS (Arbeitskreis für Schulmusik) in ihren Namen, und es ist zu fragen, ob sie damit nur einer Tradition folgen.
Widmen wir uns im Folgenden also den Begriffen Musikdidaktik, Musikpädagogik, Musikerziehung, Musikunterricht und Schulmusik mit der Frage nach Unterschieden und Gemeinsamkeiten.
Musikpädagogik: Bezugsebenen
Der Begriff Musikpädagogik begegnet uns in vier verschiedenen Zusammenhängen, die sich als vier Ebenen umreißen lassen (vgl. KAISER/NOLTE 1989, S. 18):
1 steht der Begriff für ein Nachdenken und Forschen, das sich primär analytisch auf zwei Bereiche der Wirklichkeit richtet: zum einen auf tatsächlich gegebene musikpädagogische Praxis, zum anderen auf die historisch und systematisch beschreibbaren Bedingungen für die Möglichkeit musikpädagogischen Handelns.
2 steht der Begriff für ein Nachdenken und Forschen, das sich primär konstruktiv auf eine künftige musikpädagogische Praxis richtet: keineswegs nur auf die Praxis der Durchführung von Musikunterricht, sondern u. a. auch auf die Praxis des Nachdenkens und Forschens.
3 wird der Begriff gebraucht, um jenen Bereich praktischer Tätigkeiten zu beschreiben, mit denen es anderen ermöglicht wird, im Umgang mit Musik ihre Fähigkeiten und Fertigkeiten zu verbessern: Dazu gehört primär der schulische und außerschulische Musikunterricht.
4 findet der Begriff auch Anwendung im Zusammenhang mit Tätigkeiten, die zwar mit Musik und Pädagogik verbunden sind, jedoch nicht spezifisch auf Bildung oder Ausbildung ausgerichtet sind (z. B. Komponisten als Pädagogen, Werke als klingende Musikpädagogik; vgl. dazu z. B. SCHATT 1991).
Überlegungen zur Unterscheidung zwischen den genannten Bereichen haben insbesondere in den 1970er Jahren im musikpädagogischen Denken eine große Rolle gespielt. Sie dienten zur Selbstfindung einer noch jungen Disziplin und entsprangen dem Ringen um die Fundierung von Musikpädagogik als einer selbständigen Wissenschaft. Insbesondere die Unterscheidung zwischen Musikpädagogik und Musikdidaktik war dabei von erheblichem Belang, gab es doch Stimmen, die beides als Unterabteilungen anderer Wissenschaften sahen, insbesondere der (historischen und systematischen) Musikwissenschaft. (Auf deren Verhältnis zur Musikpädagogik – insbesondere zum Verhältnis zwischen Musikpädagogik und Musiksoziologie, Musikpsychologie, Musikästhetik und Ethnomusikologie – werden wir im nächsten Kapitel näher eingehen.)
Unterscheidung Musikpädagogik – Musikdidaktik
Bei der Unterscheidung zwischen Musikpädagogik und Musikdidaktik geht es um die Zuweisung von Aufgaben und die Bestimmung bzw. Abgrenzung von Inhalten. Eine etymologische Bestimmung des Wortes „Didaktik“ hilft nur wenig weiter. Der Begriff stammt vom gr. didaskein, was so viel wie unterrichten, lehren, aber auch belehrt, unterrichtet werden, sich aneignen heißt. Das dazu gehörige Nomen didaxiz bedeutet dementsprechend Lehre, Unterweisung, Unterricht. Im Vergleich zu den Bestimmungen, die von dem Wort Pädagogik ausgingen, können wir an dieser Stelle festhalten, dass es in beiden Fällen um eine absichtliche Veränderung von Menschen geht, und zwar dahingehend, dass sie sich Erscheinungen der Welt in neuer Weise oder neuen Erscheinungen der Welt zuwenden. Im Unterschied zum Pädagogischen scheint sich aber das Didaktische mehr auf bestimmte Formen und bestimmte Modi dieser Zuwendung zu richten: und zwar auf solche, die mit mehr oder weniger institutionalisierten Weisen der Interaktion und Kommunikation, also Lehren im Sinne von Unterricht, verbunden sind.
Zurückzuweisen ist die Auffassung Wolfgang Rüdigers,
„die Vorstellungen, die wir uns von einem Stücke machen und die in dem Maße wachsen, in dem wir uns möglichst eindringlich um das Stück bemühen, es vielfältig erschließen, mit ihm ,sprechen, seine Wesensart ergründen, wie es gemacht ist und warum“
seien didaktisch (RÜDIGER o. J. S. 2). Wir haben es hier mit einem Vorgang zu tun, bei dem Aspekte von „Lehre“ und „Unterricht“ keine Rolle spielen und den wir im Allgemeinen als Interpretation bezeichnen. Interpretation findet zwar in didaktischen Zusammenhängen statt: Etwa dann, wenn man einen Inhalt daraufhin untersucht, welche seiner Aspekte für Lehren und Lernen geeignet und sinnvoll sind; Interpretation aber mit Didaktik gleichzusetzen, führt zu einer Erweiterung des Begriffs, der ihn für musikpädagogische Zusammenhänge unbrauchbar macht.
Die Schwierigkeiten der Abgrenzung zwischen Musikpädagogik und Musikdidaktik zeigen sich in zwei Äußerungen des Musikpädagogen Karl Heinrich Ehrenforth. Er beschrieb 1977 die Aufgabe der Musikpädagogik – um sie von derjenigen der Musikdidaktik zu unterscheiden – folgendermaßen:
„So ist eine kooperative Arbeitsteilung zwischen Musikpädagogik und Musikdidaktik anzustreben, die dem gemeinsamen Ziel einer, Theorie der Musikerziehung gewidmet ist. Der Musikpädagogik wären dann folgende Aufgaben zuzuordnen: a) die empirisch-sozialwissenschaftlich-psychologische Ermittlung der musikkulturellen Bedingungen und Voraussetzungen des Musiklernens (dies in enger Zusammenarbeit mit Musikpsychologie und Musiksoziologie) und b) die Aufarbeitung und Verarbeitung der von den anthropologischen und soziologischen Nachbarwissenschaften erzielten Erkenntnisse und Theorien, soweit sie für eine, Theorie der Musikerziehung förderlich und von Nutzen sind. Der Musikdidaktik wäre aufgetragen a) alle Aspekte der unterrichtlichen Vermittlung von Musik zu bedenken und aufeinander zu beziehen und b) Zielvorstellungen musikalischer Bildung zu entwickeln, die ihre entscheidenden Maßstäbe aus der Antwort auf die Frage gewinnen muß, was die Musik als geschichtliches und gegenwärtiges Phänomen unaustauschbar und über die Offenheit allgemeiner Lernzielvorstellungen hinaus zur Personwerdung des Menschen beitragen kann“ (EHRENFORTH 1977, S. 98).
Unklar bleibt hier, wovon eine „Theorie der Musikerziehung“ handeln soll, sind doch die Aufarbeitung des kulturellen Kontextes und der anthropogenen und sozialen Bedingungen der Musikpädagogik, die Entwicklung der entsprechenden Ziele aber der Musikdidaktik aufgetragen. Musikpädagogik und Musikdidaktik wären damit zwei zwar unterscheidbare, aber voneinander abhängige Disziplinen: Die Musikdidaktik hinge von den Ergebnissen der Musikpädagogik ab, da diese die Notwendigkeiten musikalischer Bildung zu eruieren hätte; umgekehrt hätte sich aber die Musikpädagogik auf die Musikdidaktik zu beziehen, da diese die Ziele hervorbringen solle. Der Musikpädagogik ginge es nach Ehrenforth nicht um den Vollzug des Lehr-/Lernprozesses, sondern um dessen Bedingungen und Voraussetzungen. Der Vollzug gehörte in den Bereich der Musikdidaktik, und zwar im Akt des Bedenkens und aufeinander Beziehens sowie in der Entwicklung von Zielvorstellungen. Wie dies geschehen soll, ohne an der Aufarbeitung von Erkenntnissen von Kulturwissenschaft, Soziologie und Anthropologie beteiligt zu sein (dies sei ja Aufgaben- bzw. Arbeitsfeld der Musikpädagogik) bleibt unklar. Und da mit dem Erziehungsgedanken – die Rede ist von Musik„erziehung“ – das ethische Moment von Unterricht als ein durch musikpädagogisches und musikdidaktisches Nachdenken zu fundierender theoretischer Bereich der Reflexion angesprochen wird, wird das Gestrüpp noch undurchdringlicher: Offenbar soll die Musikpädagogik Aussagen über einen Beitrag der Musik zur Personwerdung machen, deren inhaltliche Verwirklichung die Musikdidaktik vornimmt, ohne am musikpädagogischen Denken teilzuhaben.
Das Unstimmige dieser Konstruktion schien Ehrenforth erkannt zu haben, denn ein Jahr später hieß es:
„Es wäre wünschenswert, die Begriffe ,Musikerziehung, ,Musikdidaktik und ,Musikpädagogik trennschärfer zu verwenden, wenn auch erhebliche Schwierigkeiten dem noch entgegenzustehen scheinen. Es wäre denkbar, den Begriff ,Musikerziehung grundsätzlich dem Gesamt der musikerzieherischen Praxis zuzuweisen, während vorläufig die Begriffe ,Musikdidaktik und ,Musikpädagogik beide als Bezeichnungen von Wissenschaft gelten, deren Abgrenzungen weder möglich noch sinnvoll erscheinen. Darüber hinaus hat sich eingebürgert, den Begriff ,Musikpädagogik im bildungs- und kulturpolitischen Raum als Sammelbegriff für Theorie und Praxis der Musikerziehung zu gebrauchen, während im Gegenüber zur Musikwissenschaft der gleiche Begriff als Bezeichnung eines Wissenschaftszweiges Verwendung findet, der mit dem Begriff ,Musikdidaktik offensichtlich nicht hinreichend umschrieben zu sein scheint“ (EHRENFORTH 1978, S. 197).
Fragestellungen: Musikpädagogik – Musikdidaktik
Demnach soll der Begriff „Musikpädagogik“ einen Unterschied zur Musikwissenschaft markieren – einen Unterschied, der durch „Musikdidaktik“ nicht genau beschrieben wird, weil die Didaktik sich ebenfalls um musikalische Inhalte des Unterrichts bemüht. Ihre Aufgabe ist es aber, die Frage, warum sich musikbezogenes Lehren und Lernen worauf richten solle, zu beantworten. So treten didaktische Bemühungen um Inhalte in einen deutlichen Unterschied zu Musikgeschichte, Musikwissenschaft und Musiktheorie. Diese Unterscheidung macht klar, dass die Fragestellung der Musikdidaktik eine von Prozessen des Lernens, Lehrens, musikalischer Bildung und ästhetischer Erfahrung her bestimmte ist. Der Unterschied zwischen Musikpädagogik und Musikdidaktik kann demnach wie folgt definiert werden: Die Musikpädagogik kümmert sich um Prozesse in musikbezogener Hinsicht, beantwortet also Fragen wie: In welcher Weise vollzieht sich musikalisches Lernen? Welchen Einfluss hat eine bestimmte Form des Lehrens auf den Vollzug musikalischen Lernens? Warum und in welcher Hinsicht ist musikalische Bildung möglich, sinnvoll, wünschenswert, notwendig? In welchem Verhältnis steht sie zu Musikwissen und musikalischer Praxis wie Instrumentalspiel? Ist es möglich, adäquate Erfahrungen mit Musik anderer Kulturen zu machen oder erscheint diese uns immer nur als ein Zerrbild im Spiegel unseres eigenen Musikdenkens?
Die Musikdidaktik bezieht die Antworten auf diese Fragen in theoretischer Weise auf die Situation von Musikunterricht, bindet sie also auch an konkrete musikalische Gegebenheiten an, indem sie beispielsweise fragt: Welche Unterrichtssituation ist geeignet, um z. B. das Erlernen des Klavierspiels mit einem Klang, der bei Zuhörern Beifall findet, zu ermöglichen? Welche Unterrichtsform ist geeignet, um Tonvorstellungen so herauszubilden, dass Kinder selbständig nach einem Notentext ein Lied singen können? Ist Klassenmusizieren ein Beitrag zu musikalischer Bildung? Ist die Auseinandersetzung mit der Musik Puccinis geeignet, die Rezeption chinesischer Musik in Europa deutlich werden zu lassen? Und würde eine derartige Verdeutlichung die eigene Rezeption der Musik Chinas verändern? Wenn ja: Welche Unterrichtsformen sind sinnvoll, um eine derartige Veränderung wahrscheinlich zu machen?
In die Nähe der hier skizzierten Position kommen Ausführungen von Sigrid Abel-Struth. Bereits 1975 schrieb sie:
„In der Gegenwart ist umgangssprachlich Musikpädagogik als Oberbegriff üblich (auch die ganze Praxis einbeziehend); im fachsprachlichen Gebrauch wird Musikpädagogik i. w. S. als Oberbegriff von Musikdidaktik und Musikpädagogik i. e. S. verwendet. Die Musikdidaktik oder Fachdidaktik Musik lehrt das Musik-Lehren und -Lernen unter dem Aspekt von Unterricht; ihre Forschungsbereiche sind mit Schwerpunkt Unterricht und Curriculum. […] [Daneben gibt es] ein Lehr- und Forschungsgebiet Musikpädagogik. Dieses erforscht und sichert die Grundlagen, die der Musikdidaktik begründbare und kontrollierbare Entscheidungen möglich machen und entwickelt eine historisch weiter reichende Theorie des Musik-Lernens, […] die – in Korrespondenz mit musikpädagogischer Grundlagenforschung – die Voraussetzungen, Bedingungen und Möglichkeiten des Musik-Lernens klärt und ordnet […]“ (ABEL-STRUTH 1975, S. 18f.).
Ein Beispiel: musikwissenschaftliches und musikdidaktisches Denken
Vergegenwärtigen wir uns die Tragweite dieser Bestimmung an einem Beispiel. Musiklehrer A hat die Komposition „Ondine“ von Maurice Ravel kennen gelernt. Er hat sich über die Entstehungsgeschichte und den Kontext informiert: Er weiß, dass das Stück zu einer größeren Gruppe von Werken gehört, die „Gaspard de la nuit“ heißt, kennt das Märchen von Undine. Er ist sich über die Form des Stückes und dessen „Geformtheit“ im Klaren und kann die Art und Weise beschreiben, wie Letztere sich auf einige Gegebenheiten des Märcheninhalts und der Märchenintention bezieht: Er kann die Weise, wie Ravel sich auf die Rezeptionsfähigkeit durch Nutzung des Verwischungseffekts und auf die Rezeptionsgewohnheiten durch Gebrauch ungewöhnlicher Tonkonstellationen bezieht, als Ergebnis der Absicht beschreiben, einerseits Bewegung im Wasser, in dem alles im Wortsinne „ver-schwimmt“, zu vergegenwärtigen, andererseits eine träumerische Haltung zu ermöglichen, die dem Märchenhaften des Inhalts gerecht wird. Er findet, dass die Darstellung dieser Zusammenhänge in seiner 12. Klasse durchaus am Platze ist, da dort Werke des 20. Jahrhunderts behandelt werden. Und vielleicht hat er sogar das Stück geübt und sich in die Lage versetzt, es seiner Klasse angemessen – d. h. fehlerfrei, ausdrucksvoll und stilgerecht – vorzuspielen.
Musiklehrer A hat weder musikpädagogisch noch musikdidaktisch gedacht. Er hat zwar über einen Sachverhalt nachgedacht, der didaktisch genannt werden könnte, nämlich, dass es 1. der Sinn der Komposition sei, auf etwas außer ihr Liegendes zu verweisen und 2. eine bestimmte Rezeptionshaltung nahezulegen. Dieser Aspekt wird aber nicht aus didaktischer Sicht thematisch, sondern als Implikation der Musik. Musiklehrer A hat musikwissenschaftlich unter Heranziehung musiktheoretisch und musikpsychologisch erfasster Sachverhalte gedacht.
Musiklehrer B hat dasselbe Werk gehört. Er fragt sich, ob und in welcher Weise er es in seinem Unterricht in der 12. Klasse, in dem das Thema „Musik und Rationalität“ verhandelt wird, einbringen soll. Da an dem Stück deutlich wird, wie ein Komponist in musikalisch sehr genau durchkalkulierter Weise einen irrationalen Stoff zum Tragen kommen lässt, bejaht er die Frage. Er fragt weiter, welche der Phänomene der Komposition deutlich gemacht werden müssen, um dies zur Geltung zu bringen. Muss man das Stück hören? Muss man die Noten einsehen? Was ist an den Noten zu erarbeiten, in welches Verhältnis ist dies zum Höreindruck zu setzen? Auch die ersten beiden Fragen bejaht er, da die Schüler erkennen sollen, dass und durch welche Maßnahmen der Höreindruck ein ganz anderer ist als das Notenbild: Während sich dort Unklarheit und Verschwommenheit einstellen, wird hier eine strenge Formung mit Repetitionsfiguren deutlich – Figuren freilich, die in ihrer Rhythmik nicht mit der tradierten Quadratmetrik konform sind. Musiklehrer B stellt also dasselbe fest wie Musiklehrer A. Sein Denken ist aber didaktisch zu nennen, weil es von vornherein auf die Inhalte und Wege und darüber hinaus auf die Weisen der Erkenntnis, der Einsicht, des Lernens Anderer – seiner Schüler – gerichtet ist. Dies gilt auch, wenn die Antworten auf zentrale didaktische Fragen stillschweigend unterstellt werden – z. B. die Frage, ob es richtig und wichtig ist, gerade dieses Stück auszuwählen und ob und in welcher Hinsicht das an diesem Stück zu Gewinnende zur Förderung der Schüler beiträgt. Ferner hätte musikdidaktisches Fragen sich darauf richten können, was denn gefördert wird: die Fähigkeit im Notenlesen, die Fähigkeit zur musikalischen Analyse, musikologisches Wissen, die Fähigkeit zur Selbsterfahrung, zur kontemplativen Versenkung in einen musikalischen Verlauf usw. usw.
Das Denken des Lehrers B kann im umgangssprachlichen Sinne musikpädagogisch genannt werden, da es auf Unterricht im Fach Musik gerichtet ist. Es ist auch musikpädagogisch im fachsprachlichen Sinne, da es die Frage nach Inhalten und Weisen von Lehren und Lernen im unterrichtlichen Zusammenhang mit Blick auf musikalische Phänomene aufgreift. Es ist aber nicht musikpädagogisch im engeren Sinne. Vielmehr sind stillschweigend Komponenten bzw. Aspekte des Unterrichts, über die hätte nachgedacht werden müssen, vorausgesetzt worden, z. B.: Welche Vorgänge werden vollzogen, wenn Schüler zu den genannten Einsichten kommen? Sind diese Einsichten auf die Musik oder auf die Gehirnleistung des Menschen zurückzuführen? Welche Funktion hat die bisherige Erfahrung der Schüler mit Musik bei der Entstehung des „Höreindrucks“? In welchem Verhältnis steht das Verständnis der Kompositionstechnik und des „Programms“ zu der gefühlsmäßigen Berührtheit der Schüler?
Aufgaben der Musikdidaktik
Zusammenfassend können wir feststellen: Der Theorieaspekt der Didaktik konstituiert sich in der Reflexion der Sinnhaftigkeit intentional herstellbarer Bezüge zwischen Musik und den auf Musik gerichteten Handlungen der Lernenden. Sie stellt sich demnach dar als die Wissenschaft der Anwendung musikpädagogischen Wissens (z. B. über Kultur(en), musikalische Bildung, Lernprozesse …) – auch mit Blick auf konkrete Musik und konkrete Schüler in konkreten Situationen. Musikdidaktik reflektiert grundlegende Strukturmomente von Musikunterricht; Analyse und Planung von Musikunterricht sind zentrale Aufgaben (dessen Vollzug ist damit ein von Didaktik zu unterscheidendes Feld!), ebenso die Reflexion der Eigenart und Begründbarkeit von Methoden und Medien; ferner entwickelt und überprüft die Didaktik Inhalte, Vorgaben für Bildungsgänge, Lehrpläne und Curricula und stellt Hilfen zum Musikunterricht bereit (vgl. KRAEMER 2004, S. 50).
Durch Auswertung und Vorbereitung tritt Musikdidaktik in ein zirkelhaftes Verhältnis zum Musikunterricht. Zugleich erweist sie sich als Korrespondenzdisziplin zu Musikpädagogik, Musikwissenschaft und Allgemeiner Didaktik. Ferner steht sie in Wechselbeziehung zu Schule als Institution und Organisation, zu gesellschaftlichen Instanzen und zum öffentlichen und privaten Musikleben (vgl. KAISER/NOLTE 1989, S. 29).
Spezifika der Musikpädagogik
Im musikdidaktischen Denken verdichten sich damit die Einsichten der anderen Disziplinen unter einer auf den Vollzug von Lehren und Lernen im Unterricht gerichteten Perspektive. Die Anliegen der Musikdidaktik gehören damit zum Kernbereich der Musikpädagogik. Das Nachdenken über Erziehungsfragen gewinnt im musikpädagogischen Kontext mit der Frage, ob und inwiefern im Umgang mit Musik erziehungsrelevante Funktionen von Musik zum Tragen kommen oder ob Erziehung ein Geschäft ist, das auf einen sinnvollen Umgang mit Musik erst vorbereiten soll und kann, eine musikspezifische Dimension. Einen Bildungsbezug gewinnt Musikpädagogik durch die Frage, was dies alles zur persönlichen Entfaltung und zur gesellschaftlichen Weiterentwicklung beiträgt; und mit der Beachtung psychischer Vorgänge in persönlicher, sozialer, kommunikativer und interaktiver Hinsicht fließt die Aneignung von Musik mit ein.
Musikerziehung; historische Forschung
Der Begriff Musikpädagogik ist damit als Oberbegriff brauchbarer als der Begriff Musikerziehung. Letzterer hat freilich die längere Tradition, da lange Zeit gerade der Erziehungsgedanke Lehren und Lernen in Hinsicht auf Musik bestimmte. Von Platon bis zur „Musischen Erziehung“ noch in den 1950er Jahren war die Vorstellung, durch Musik oder wenigstens im Zusammenhang mit Musik den Menschen zu veredeln, ein leitender Gedanke. Insofern ist ein Buchtitel wie der Wilfried Gruhns: „Geschichte der Musikerziehung“ durchaus berechtigt. Schon der Titel dokumentiert eine Einsicht und auch einen Schwerpunkt des musikpädagogischen Denkens: Es ist historisch ausgerichtet und eine Bestandsaufnahme jener Aspekte und Strukturen, die in der Vergangenheit musikalische Erziehung, musikalische Bildung, Musiklernen und -lehren und Musikunterricht als Institution prägten. Nicht selten gehört es zu den Intentionen solcher Arbeiten, aus Einsichten in vergangene Denk- und Handlungsweisen Erkenntnisse zu gewinnen, die gegenwärtiges Denken und Handeln besser verstehen lassen und damit für die Zukunft richtungweisend werden können.
Schulmusik
Dabei werden im Blick auf die Historie „Geschichten“ durchaus unterschiedlicher Art erzählt: Während Gruhn Geschichte unter der Fragestellung entfaltet, wie die Relevanz des Zusammenführens von Mensch und Musik für Erziehung hervorgebracht werden sollte, entfaltete Georg Schünemann einen ganz anderen Aspekt: In seiner „Geschichte der Schulmusik“ steht die Frage im Vordergrund, wie Musik in schulischen und vorschulischen Einrichtungen zur Geltung gebracht wurde. Dass sich dabei etwas konstituierte, was begrifflich mit „Schulmusik“ fasslich wird, ist ein Phänomen, das Schünemann noch nicht sah, das aber durchaus Beachtung verdient, denn hier macht die Sprache darauf aufmerksam, dass es im schulischen Umgang mit Musik, einem Umgang also, der auf Lernen und Erziehung ausgerichtet ist, möglich sei, Musik anders zu erarbeiten als dies Menschen außerhalb von Unterricht und Schule tun.
Derartigen Problemen widmet sich ein Bereich der Musikpädagogik, der sich mit grundsätzlichen Fragen, mit Voraussetzungen, Bedingungen und Folgen musikpädagogischen Denkens und Handelns befasst – auch mit den bereits gewonnenen Antworten auf diese Fragen. Dieser Bereich kann als „Systematische Musikpädagogik“ oder „Allgemeine Musikpädagogik“ bezeichnet werden.
Weitere Forschungsbereiche
Und da in verschiedenen Ländern unterschiedliche Vorstellungen von musikalischer Erziehung und Bildung bestehen, gibt es auch einen als „vergleichende Musikpädagogik“ bezeichneten Bereich, der sich der Aufarbeitung dieser nationalen Positionen widmet.
Unterschiede, die sich dabei abzeichnen, resultieren aus einer Differenz, die – Späteres vorwegnehmend – abschließend aufgezeigt werden soll. Hermann J. Kaiser und Eckhard Nolte schlossen ihre Ausführungen zur Ortsbestimmung der Musikdidaktik mit den Worten:
„Gegenseitige Mißverständnisse gründen letztlich in der Perspektivenverschiedenheit von Musikpädagogik/Musikdidaktik einerseits und Musikwissenschaft andererseits bei gleichzeitiger Bindung an den identischen (zumindest als identisch angenommenen) Sachverhalt ,Musik. Musikwissenschaftlicher Forschung geht es um eine möglichst umfassende Analyse und Deutung musikalischer Erscheinungen. Ausgangs- und Endpunkt bildet also der musikalische Sachverhalt.
Der Musikdidaktik geht es um die Frage, Welche Bedeutung gewinnen musikalische Erscheinungen in einem unterrichtlich ausgelegten Erziehungsprozess, in dem – neben der Musik – viele andere Sachverhalte gleichzeitig ihr Recht beanspruchen? Musikdidaktische Reflexion findet ihr Prinzip und ihren Zielpunkt im sich entwickelnden und lernenden jungen Subjekt. Dieses ist – musikpädagogisch und musikdidaktisch gesehen – regulatives Prinzip, die musikdidaktisches Denken und Handeln leitende Vorstellung“ (KAISER/NOLTE 1989, S. 28).
„Sachverhalte“ als Ergebnisse von Bedeutungszuweisung
Sprachlich ist hier Unterschiedliches in eins gesetzt. Nicht der musikwissenschaftlichen Forschung und der Musikdidaktik geht es um etwas, sondern den Menschen, die Forschung unter bestimmten Aspekten betreiben. Erst die Reflexion dieser Aspekte ermöglicht es, die Ergebnisse zu Forschungsdisziplinen zusammenzufassen. Zu unterscheiden ist aber zwischen Handlungen und Absichten von Menschen und inhaltlich konturierten und zu Wissenschaften zusammenfassbaren Ergebnissen. Dasselbe gilt für Musik. Musik kann nicht „ihr Recht beanspruchen“; wohl aber können Menschen, die mit Musik umgehen, unter gewissen Bedingungen ein Recht auf Beachtung, Respekt und Akzeptanz erwarten. Ähnlich verhält es sich mit der Rede vom „musikalischen Sachverhalt“. Nicht die Sache verhält sich; vielmehr wird einem Phänomen, einer Wahrnehmung, eine Eigenschaft zugeschrieben, die erst aus dem menschlichen Akt der Deutung und Interpretation hervorgegangen ist.
So gibt es denn unterschiedliche Musiken, unterschiedliche Einschätzungen musikalischer „Sachverhalte“ und unterschiedliche musikpädagogische Positionen, weil Menschen in unterschiedlichen Kontexten unterschiedlich denken. Diese Kontexte können unter bestimmten Umständen „Kultur“ genannt werden, und unterschiedliche Kulturen sind es denn letztlich auch, auf die Differenzen zwischen musikpädagogischen Vorstellungen in verschiedenen Ländern zurückzuführen sind.