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Kapitel 1

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Der Kriminalrat Dr. Herbert Wolff saß am frühen Morgen mit seiner neuen Freundin Eva Huber am Wienblick im Lainzer Tiergarten. Sie genossen den Anblick der Stadt, die sich noch unter einer Decke verkrochen hatte. Nur einzelne Gebäude wagten es bereits, ihre Spitzen aus dem Nebel der Sonne entgegen zu recken.

Wolff hatte sich von seinem Freund bei der Stadtverwaltung den Schlüssel zu einem Tor des Parks geliehen, sodass er mit seiner Begleitung schon vor dem allgemeinen Öffnen des Tiergartens eintreten konnte. Selbst im Nebel, der sie noch begleitet hatte, fand Wolff mühelos den Weg zu diesem Aussichtspunkt. Er wurde ständig von der Nörgelei Evas begleitet, die es gar nicht verstanden hatte, warum sie so früh ihre geliebte Schlafstatt verlassen musste, um hier durch eine graue Wand einen steilen Weg empor zu klimmen. Erst als sie den Ausblick, der sich ihr jetzt bot, zu genießen begonnen hatte, erkannte sie, warum Wolff trotz ihres heftigen Widerstandes auf diesem Ausflug bestanden hatte. Hier in der Sonne, mit dem Ausblick, den gereichten Speisen und Getränken begann, sie sich wohler zu fühlen als in ihrem Bett.

Herbert ich habe eine Frage“, unterbrach sie das andächtige Schweigen.

Wolff erschrak als er ihre Stimme so unvermittelt wahrnahm, und sank in sich zusammen als die Worte seinen Verstand erreichten. Er wusste, jetzt würde sie kommen, die Frage, die er sich schon oft selbst gestellt hatte und auf die er keine Antwort kannte. Er war verliebt in Eva, so viel war ihm bewusst. Was würde passieren, wenn dieses Gefühl der Verliebtheit nachließ, konnte es sich in Liebe verwandeln, war es ihm möglich ihre Vergangenheit als Domina und professionelle Liebesdienerin zu akzeptieren? All diese Gedanken schwirrten ihm durch den Kopf, als er seine Aufmerksamkeit wieder Eva schenkte, die ihn mit einem sardonischen Lächeln beobachtete. Gerade als er zu einer Antwort ansetzen konnte, legte sie ihren Kopf an seine Schulter und flüsterte: „Reichst Du mir bitte das Salz? Die Frage, die Du gemeint hast, stelle ich Dir nicht, die muss von Dir kommen, mein Lieber.“ Wolff, der ihr den Salzstreuer gab, war verblüfft, wie leicht sie ihn durchschauen konnte und wie gut sie ihn in den wenigen Wochen ihres Zusammenseins schon kennengelernt hatte. Gerade als er zu einer Erwiderung ansetzen konnte, begann sein mobiles Telefon zu läuten. Da er am Klingelton erkannte, dass sein Freund Hans Neubauer, der als Untersuchungsrichter tätig war, anrief, entschuldigte er sich bei Eva und nahm den Anruf entgegen. Es war nur ein kurzes Gespräch, das er führte. Als er aufgelegt hatte, sah er Evas teils fragenden, teils enttäuscht wirkenden Blick.

Keine Angst,“ begann er, ihre ungestellten Fragen zu beantworten. „Sie haben heute Morgen eine erst zur Hälfte aufgetaute weibliche Leiche gefunden. Hans möchte, dass ich die Untersuchungen leite. Da uns die Tote nicht abhandenkommen kann, habe ich ihm erklärt, dass ich morgen damit beginne. Es sei denn die Wissenschaft ist schon weiter als wir denken, und das Auftauen kann ihr neues Leben einhauchen.

Wir beide genießen den Tag heute. Um auf das Thema zurückzukommen, das Du mit der Frage nach dem Salz ins lächerliche gezogen hast. Kannst Du mir verraten, wie Du zu Deiner Tätigkeit gekommen bist?“

Ich dachte wir wollen den Tag genießen und nicht in meiner Vergangenheit herumwühlen.“, widersprach Eva, die kein Interesse hatte, sich ihre gute Stimmung durch dieses Thema vermiesen zu lassen.

Eva, bitte, ich glaube ich kann leichter eine Entscheidung treffen, wenn ich Deine Geschichte und Deine Motivation für diesen ungewöhnlichen Beruf verstehe.“, versuchte Wolff Eva zu beruhigen. Er sah ihr lange in die Augen, setzte dabei seinen treuherzigen Dackelblick auf, legte seine Stirn in Falten und hielt den Kopf schief, wie jeder Hund, der von seinem Herrchen eine Leckerei wollte. Eva konnte dieser Karikatur eines Hundeblickes nur Sekunden standhalten, bevor sie zu lachen begann und sich geschlagen gab. Vielleicht ist es doch ein guter Zeitpunkt, um über die Vergangenheit zu sprechen, überlegte sie. Hier oben am Berg bei der herrlichen Aussicht und dem Kaffee mit Kuchen konnten die Geister der Vergangenheit ihre schreckliche Wirkung verlieren. Sie konnten sich so wie der Nebel, der unter ihr durch die Sonne aufgelöst wurde, verflüchtigen. Eva nahm noch einen Schluck aus ihrer Tasse, seufzte und begann mit ihrer Geschichte.

Wie du weißt Herbert, habe ich gleich nach meinem Studium der Publizistik, bei einer Zeitschrift als Journalistin zu arbeiten begonnen. Nach einigen Wochen erhielt ich den Auftrag, einen Artikel über die Situation der Mädchen in einem Escortservice zu schreiben. Mein erster Reflex war eine glatte Ablehnung, ich wollte mit dem Rotlichtmilieu nicht in Berührung kommen. Da ich dachte, es sei sowieso schon alles egal, bin ich ohne ein Wort zu sagen aus der Redaktionssitzung geflüchtet. Ich wollte nur heim zu meinem Freund, der damals noch studierte, und für eine Prüfung zu lernen hatte. Ich wollte mit ihm meine nächsten Schritte besprechen. Leider wurde nichts daraus. Ich bin nach Hause gekommen und habe diesen Idioten mit einer mindestens zwanzig Jahre älteren Tussi in meinem Bett, in meinem Schlafzimmer, in meiner Wohnung angetroffen. Ich habe ihn samt der Schlampe rausgeworfen, ihm seine Sachen aus dem Fenster nachgeschossen und beschlossen, den Artikel zu schreiben.

Da ich ja in keiner festen Beziehung mehr war, konnte ich die Zeit aufbringen, um in diesem Milieu genau zu recherchieren. Die Damen betrachteten mich als Außenstehende, sie haben mit mir nicht geredet. Nach einer Woche hatte ich noch nicht einmal genug Material gesammelt, um ein Blatt Klopapier damit vollzuschreiben. Also fasste ich den Entschluss, eine der ihren zu werden. Ich stellte mich bei der Begleitagentur vor, wurde gebeten mir den Job einmal anzuschauen und mich dann zu entscheiden, ob ich es machen wollte oder nicht. Schon bei meinem ersten Gespräch wurde ich darauf hingewiesen, dass bei den meisten Kundentreffen Sex erwartet wird, und da ich dafür auch entlohnt würde, müsste ich mich als Prostituierte registrieren lassen. Die Dame, die diese einführende Unterhaltung mit mir geführt hatte, war nett gewesen, sie hat nichts beschönigt und nichts weggelassen. Da ich wie gesagt noch tiefere Einblicke in die Arbeit der Agentur gewinnen wollte, und ich noch stinksauer wegen meines Freundes war, habe ich zugestimmt. Ich bin dann zweimal mit einem anderen Mädchen zu einem Treffen gegangen. Ich habe mir angesehen wie diese Stunden, nach denen wir gebucht und bezahlt wurden, ablaufen. Ich habe mir eingeredet, dass ich diesen Job nur wegen der Geschichte machen würde, außerdem war ich alleine und mein Selbstwertgefühl am Boden. So bin ich geblieben, habe alles recherchiert, meine Story abgegeben und bin als Dirne weiterhin tätig gewesen. Es war nicht das Geld, das mich gelockt hat, es war die Macht, die ich über die Männer hatte, ich konnte, bestimmen wo es lang geht, was der Kunde tun durfte oder nicht. Ich war es die so begehrt war, dass der Mann für mich bezahlt hat. Das war hauptsächlich meine Motivation. Diese Sucht nach Überlegenheit hat mich so beherrscht, dass ich die Männer aus Rache an meinem Freund immer tiefer demütigen wollte. Ich bin dann auf eine Domina, die für den Service gearbeitet hat, zugegangen und habe sie gefragt, ob sie mich nicht einschulen könnte. Sie hat mir alles beigebracht was ich als SM-Mädchen wissen musste, mir die Gefahren, die eine Schmerzbehandlung beinhaltet, erklärt und mir soweit Anatomie beigebracht, dass ich die Männer gefahrlos demütigen konnte. Das war es, was ich wollte, ich hatte die Macht die Männer vor mir im Dreck kriechen zu lassen, sie anzubinden, sie zu demütigen, ihnen Schmerzen zuzufügen, so wie mir Schmerz zugefügt wurde. So bin ich das geworden, was ich war, als Du mich kennengelernt hast.“, beendete Eva ihren Bericht.

Und was hat sich verändert?“, bohrte Wolff nach.

Schon bevor wir uns das erste Mal trafen, hat sich mein Hass gelegt gehabt, es gab mir keinerlei Befriedigung mehr Macht über Männer ausüben zu können. Ich war tief in meinem Innersten schon bereit, die Dominastiefel an den Nagel zu hängen, und mich aus dem Gewerbe zur Gänze zurückzuziehen, mir fehlte nur der letzte Antrieb, den inneren Schweinehund zu besiegen. Bis Du aufgetaucht bist. Du hast mich voller Respekt behandelt, mir das Gefühl gegeben eine normale Frau zu sein und der wichtigste Punkt, was immer ich auch bei unseren ersten Treffen probiert habe, es ist mir nicht gelungen Kontrolle über Dich zu bekommen, Du warst immun dagegen, im Gegenteil ich habe mich stets unterlegen und verletzlich gefühlt. Schon bei unserem ersten Gespräch wurde mir klar, dass mein Hunger nach Rache gestillt war und ich wieder in ein bürgerliches Leben einsteigen will. Also habe ich mein Studio geschlossen und wieder bei meiner Zeitschrift, für die ich immer wieder unter verschiedenen Pseudonymen Artikel veröffentlicht habe, regulär zu arbeiten begonnen.“

Wolff fühlte sich geschmeichelt, es war ihm nicht möglich, ein Grinsen zu unterdrücken, er war es, der Eva auf den rechten Weg der Tugend geführt hatte, er war stolz auf sich, seine Eitelkeit war gestreichelt worden. In seiner Glückseligkeit merkte er die Verstimmung Evas nicht: „Du brauchst Dich nicht geschmeichelt fühlen, es war nur Zufall. Es hätte auch ein anderer sein können.“, warf sie ihm vor.

War es aber nicht.“, feixte er und fing sich dafür einen Schlag auf seine Schulter ein, der ihn wieder auf den Boden der Tatsachen holte. Er nahm sie sanft, zog ihren Kopf zu sich und küsste sie zärtlich. Wolff genoss es mit ihrer Zunge zu spielen, ihre Mundhöhle zu erkunden. Als der Augenblick des Kusses vorüber war, wandten sie sich wieder dem Ausblick auf die Stadt zu. Während Evas Erzählung hatten die wärmenden Strahlen der Sonne, die Decke, die das Antlitz der Stadt verborgen hatte, aufgelöst, und gab die Sicht auf die Silhouette Wiens frei. Eine Weile saßen sie noch schweigend auf der Decke und genossen den Anblick des erwachenden Wien, bevor sie begannen, den Picknick-Platz zu säubern, das Geschirr, das sie mitgebracht hatten, wegzuräumen und ihre Wanderung durch den Tiergarten fortzusetzen. Weit waren sie noch nicht gegangen als Wolff sich vor Eva in den Weg stellte: „Eva!“, begann er.

Ich sehe, wo Dich der Schuh, oder sollte ich besser sagen die Hose drückt.“, unterbrach sie ihn und zerrte ihn in ein schwer einsehbares Stück des Geländes. Als sie wieder auf den Weg zurückkehrten, war zwar das momentane Problem gelöst, aber die Leidenschaft bei beiden noch nicht gestillt. Sie entschlossen sich die Wanderung zu unterbrechen und auf dem schnellsten Wege wieder nach Hause zurückzukehren. So verbrachten sie diesen herrlichen sonnigen Tag des Altweibersommers zu Hause im Bett, nur unterbrochen vom Füttern der beiden Kater, die zu Wolffs Haushalt gehörten. Nach einem langen Tag der Liebe, der Gespräche und der Leidenschaft schliefen sie endlich ein.

Gefrorene Liebe

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