Читать книгу Getrieben - Adoptiv-Knilch packt aus - Peter Weidlich - Страница 11

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Alles vor diesem neuen Leben in meiner Adoptiv-Familie hatte ich verdrängt, vergessen, vielleicht nie richtig wahrgenommen. Bis auf eine Erfahrung, die mein zukünftiges Leben nachhaltig beeinflusst:

Jedes Mal, wenn ich in die Nähe eines Fleischerladens komme, läuten bei mir alle Alarmglocken: Da gibt es Wurst! Und „Wurst“ war das erste Wort, das ich sprechen konnte. Nicht Mama oder Papa, wie jedes normale Kind, nein: Wurst.

„Denn Wurst bekam er immer geschenkt“, so erklärte die Sozialarbeiterin vom Jugendamt meinen Adoptiv-Eltern, „wenn Peter aus dem Kinderheim abgehauen war und vor der Fleischers-Frau mit strahlenden Augen auftauchte!“

Wie gestern, ein kleiner Junge, der im Supermarkt zielstrebig auf die Fleischtheke zusteuerte, seinen Einkaufskorbwagen hinter sich her rollend. Seine Eltern sahen aus sicherer Entfernung glücklich lächelnd zu. Er strahlte die Verkäuferin an, streckte sein Händchen aus und die Scheibe Kinderwurst verschwand mit gehauchtem Danke in seinem Mund.

Wenn nach den ersten Frostnächten das beste Schwein bei Bauern an der Leiter hing, entborstet, ausgeweidet, die Schlachtebrühe im Kessel dampfte und ich frisches Mett und eine Kanne wunderbar duftender Brühe nach Hause brachte, war ich glücklich. Dieser für mich würzige Geruch erinnert mich heute daran, als Kleinkind mit Lebenswichtigem versorgt worden zu sein, das meinen Hunger stillte und mein Bedürfnis nach Nähe weckte, einer Nähe, die mich wahrnahm.

Immer wieder ertappe ich mich, Kleinkinder zu beobachten, um aus ihren sozialisationsgeprägten Verhaltensweisen Rückschlüsse auf meine ersten vier Lebensjahren ziehen zu können, über die ich absolut nichts weiß.

Habe ich als zwei- oder dreijähriger Junge, genauso selbstbewusst die Umwelt in Besitz genommen, zielstrebig bekundet, was ich haben wollte, wie die kleinen Persönlichkeiten, denen ich heutzutage begegne?

Sie blicken nicht weg, bei Augenkontakt, im Gegensatz zu Erwachsenen, an der Ampel, wenn du aus deinem Auto zum Nachbarn schaust oder im Fahrstuhl direkten Blickkontakt wagst.

Wenn ich kleine Kinder zusätzlich anlächle, verändert sich ihre Mimik, vom Erstaunt-Sein bis hin zum schelmischen Versteckspiel hinter Mamis Rücken. Und wenn manche Mütter missbilligend weiterziehen, muss ich daran denken, wie schnell man in die Ecke eines Pädophilen gestellt werden kann.

Meine Adoptiv-Mutter beklagte sich, dass ich in den ersten Monaten ihr nicht in die Augen habe blicken können. Warum? Wenn dir das Wichtigste im Leben abhandenkommt, bist du ein Nichts. Und ein Nichts hat seinen Blick in den Boden zu bohren, genau wie früher das Gesindel ihrer Herrschaft gegenüber, der Hartz-Vier-Empfänger vor den Göttern der Agentur für Arbeit, der Unternehmer vor dem Kreditinstitut oder der Laie vor dem Kardinal.

Trotz ihrer Fürsorge und Zuneigung, oder vielleicht gerade deswegen, stellte ich ihre Durchhaltefähigkeit tagtäglich auf die Probe. Intuitiv wollte ich wahrscheinlich prüfen, so erkläre ich mir das heute: Stehen sie weiterhin zu mir, wenn ich sie verleugne, verletze, wenn ich ihren Ansprüchen nicht genüge, ihren Regeln nicht gehorche oder sie mit meiner in Tagträumen glorifizierten leiblichen Mutter vergleiche? War mir überhaupt bewusst, ihre Hingabe mit meiner Art zu gefährden? War es mir egal, ob diese Zuneigung halten würde oder nicht? Oder war ich einfach nur wild, unberechenbar, gedankenlos, schizoid?

Auf jeden Fall wollten sie mich dazu bringen, über mein Tun zu reflektieren. Ich wäre sonst, wie sie mutmaßten, der geblieben, für den ihre Nachbarn mich hielten: Der fremde Junge, der so böse ist. Und womöglich hätte das dazu geführt, dass ich böse geworden wäre. Etwa in der Art einer ‚Selbsterfüllenden Prophezeiung‘, wie: Wenn man in einer Konfliktsituation ein Kind beschimpft und ein anderer sagt, dass es gleich weinen würde, dann weint es auch.

Genau wie Heimkinder. Sie haben ein grundsätzlich negatives Image. Und irgendwann entsprechen sie dem Image, weil niemand an sie glaubt. Meine Eltern glaubten an mich, wie ich später an Heimkinder. Und wenn man an das Gute in fremden Kindern glaubt, gleicht man naiven Spinnern oder ist suspekt.

Mit zwölf Jahren kniete ich neben meiner Mutter, hundertfünfzigprozentig katholisch, an der Kommunionbank. Irgendetwas geschah mit mir. Als ich sah, wie sie den Mund öffnete, um die Hostie zu empfangen, spürte ich eine seltsame, in die Tiefe gehende Zuneigung zu ihr. Zu meiner Mutter, die nicht meine leibliche Mutter war, die mich dennoch haben wollte und mich nie verlassen hat, trotz aller Schwierigkeiten mit mir.

Im Jahre 1986, ich war vierzig Jahre alt, kam ich auf den Gedanken, nachzuforschen, wer meine leiblichen Eltern seien, wie sie aussähen, ob sie an mich dächten, ob sie wissen wollten, was aus ihrem Sohn geworden sei.

Ich wollte ihnen die Frage stellen: WARUM?

Wer mein Vater oder Erzeuger wäre, war mir völlig egal.

Meine Mutter beschäftigte mich in tiefsten Gedanken und Träumen. Insgeheim hatte ich ihr verziehen. Sie musste in äußerst schwieriger Situation gewesen sein, die sie gezwungen hatte, mich wegzugeben, entschuldigte ich sie. Ich traute mich nicht, sie zu verurteilen. Stattdessen hatte sich in mir der Gedanke festgesetzt: Du, Peter, musst das, was dir deine Mutter angetan hat, bei anderen Kindern wieder gutmachen!

Das wäre der tiefere Grund für mich, Sozialwesen zu studieren und für Heimkinder tätig zu werden, erklärte mir ein Psychotherapeut während der Lehranalyse auf der Couch. Hundertfünfundzwanzig Stunden Lehranalyse sind Bedingung, um das Studium der Kinder- und Jugendlichen Psychotherapie abschließen zu können. Dieses Zusatzstudium hatte ich berufsbegleitend begonnen, um in die Geheimnisse der Speziellen Neurosenlehre eingeweiht zu werden.

Als Heimleiter meines privaten Kinderheimes stellte ich Nachforschungen an, um die Verhaltensweisen mir anvertrauter Kinder besser verstehen zu können. Der Hinweis, Heimleiter zu sein, eröffnete mir alle Türen bei Jugend- und Einwohnermelde-Ämtern.

Nach einigen Telefonaten bekam ich den Namen meiner leiblichen Mutter heraus und ihren damaligen Aufenthaltsort. Ich rief die Telefon-Auskunft an, früher gab es sie, und erkundigte mich, ob Frau Schulze in Kelsterbach einen Telefonanschluss hätte. Hatte sie nicht. Schade, dachte ich und verdrängte meine Wünsche.

Weitere zwei Jahre vergingen. Ein seltsamer Anruf einer Frau überraschte mich. Ohne ihren Namen zu nennen, bat sie um meine Konto-Nummer, da sie spenden wolle. Ich dachte an eine Spende für mein Kinderheim und erklärte ihr, keine Spendenquittung ausstellen zu können, da wir kein gemeinnütziger Verein seien.

Eine Woche später rief dieselbe Dame an und sagte, dass sie mir privat etwas zukommen lassen wollte und meine private Konto-Nummer bräuchte. Ich wunderte mich darüber, gab ihr meine Nummer. Gleichzeitig fing mein Gehirn an zu rotieren. Wer will mir Geld schenken, ohne eine Gegenleistung zu erwarten?

Als auf meinem Konto zweitausend DM erschienen, erfasste mich ein ungeheurer Verdacht: Sollte das Geld von meiner leiblichen Mutter kommen? Ich rief wiederum die Auskunft an und erhielt als Antwort eine neue Telefonnummer von Frau Schulze. Mit klopfendem Herzen wählte ich die Nummer. Tatsächlich, es war die Stimme der anonymen Spenderin. Meine Mutter!

Mein Körper fing an zu zittern, meine Stimme wurde weich und rau. Fragen, die ich mir vorsichtshalber zugelegt hatte, waren wie weggeblasen. Ebenso mein Vorsatz, ihr zu sagen, dass etwas aus mir geworden sei und sie sich keine Vorwürfe zu machen brauche, alles weg. Ich stammelte die Frage, wie es ihr gehen würde. Hörte ihre Stimme, so lieb, so mütterlich, begriff den Inhalt ihrer Antworten kaum und war der kleine Junge, der sich bei Muttern einkuschelte, alles vergessend, alles verzeihend.

Nach dem Gespräch entschloss ich mich, sie sofort zu besuchen. Mein warnender Verstand sagte mir, sie anzurufen und den Besuch anzukündigen.

„Nein, nein“, rief sie entsetzt ins Telefon, „du kannst nicht hierherkommen. Es weiß keiner, dass es dich gibt. Mein Lebensgefährte könnte das nicht ertragen. Ich schreibe dir alles. Sei nicht traurig!“ Und wieder platzte ein Traum.

Wie ein begossener Pudel saß ich an meinem Schreibtisch, heulte Rotz und Wasser. In diesem Moment wurde mir überdeutlich bewusst, welche unmenschlichen Schicksale das Leben vieler Kinder beeinflussten. Und ich war nicht nur Opfer, sondern auch Täter mit meinen Scheidungen! Ist so das Leben?

Sie schrieb mir tatsächlich: Ihr Mann wäre in Russland verschollen gewesen. Ein anderer Mann habe sich um sie bemüht. Aus dieser Liaison wäre ich entstanden. Ihr Mann sei überraschend aus der Gefangenschaft zurückgekehrt, habe ihr den Fehltritt verziehen, verlangte: „Der Bastard muss sofort aus dem Haus!“ Was sie hätte tun sollen, fragte sie, und bat, dass ich ihr verzeihen möge. Das Jugendamt habe sich um mich gekümmert, sie habe nicht erfahren, wohin oder zu wem ich gekommen sei.

Immerhin besser, ins Heim gekommen, als abgetrieben worden zu sein, dachte ich, nachdem ich ihren Brief enttäuscht und verstehend verwahrte.

Jahre später stand ich an ihrer Haustür. Ich wollte sie sehen. Wollte ihr sagen, dass ich ihr verziehen hätte. Ich traute mich nicht zu klingeln. Wollte ihr Geheimnis nicht lüften und Erklärungsnöte heraufbeschwören. Stattdessen schob ich die erste CD unserer Bläsergruppe in den Briefkasten. Vielleicht …?

Zwei Jahre später erfuhr ich, dass sie gestorben sei. Meine unbekannte Mutter, der ich so gern über ihr Haar gestreichelt hätte.

Die Suche nach meiner leiblichen Mutter brachte andere Probleme: Meiner Adoptiv-Mutter gefiel das gar nicht. Sie empfand mein Tun als illoyal ihr gegenüber. Sie hatte sich ein Leben lang für mich eingesetzt, mich ertragen, mein Denken geformt, mir ihren Stempel aufgedrückt!

„Musste das sein?“, fragte sie mich vorwurfsvoll auf ihrem Sterbebett. Ich konnte ihr diese Frage nicht beantworten, als ich ihr über das schlohweiße Haar streichelte und ihre müden Augen sah.

Bedrückend und beschämend war, dass ich nicht wusste, welcher Tod beider Mütter mich trauriger gestimmt hätte. Ich kann es nicht sagen. Die leibliche Mutter hätte ich gern kennengelernt, hätte ihr verziehen, die Ersatzmutter hatte zu mir gestanden, mich geprägt.

Und ich stellte mit Entsetzen fest, dass mir ihr Tod nicht zu Herzen ging, nicht viel mehr als ein Schicksal annehmendes Schulterheben im Bewusstsein, dass jeder sterben würde.

Am Sterbebett meines Adoptiv-Vaters, ihn in seiner vergehenden Verfassung erlebend, berührte mich sein Sterben tiefer. Im Rückblick auf das Zusammenleben mit ihm, die positiven Momente überwogen, fühlte ich keine übergroße Liebe, die durch seinen Tod hätte erschüttert werden können.

Ich frage mich: Kann man als Adoptiv-Kind seine Mutter oder seinen Vater überhaupt zutiefst lieben? Bedeutet Liebe nicht, ständig in dem Geist beider sich Liebenden aufzugehen, gemeinsam eine Macht zu kreieren? Das Durchtrennen der Nabelschnur impliziert Eigenständigkeit, Loslösung, liebevoll versorgt und begleitet, der Beginn einer lebenslangen Symbiose.

Und wenn diese innige Verbindung zwischen Mutter und Kind durch Trennung beider zerstört wird, macht deutlich, warum aus Angst vor erneuter Enttäuschung Adoptivkinder sich einerseits kaum auf intensivste Beziehung einlassen können und andererseits ständig auf der Suche nach ihr sind.

Wie wirkt sich diese Erkenntnis auf die Heimkinder aus, die von ihren leiblichen Eltern per Beschluss getrennt wurden und bei fremden Menschen leben müssen? Sind sie in der Lage oder willens, eine tragfähige Beziehung zu Sozialpädagogen aufzubauen, angesichts einer Staatsmacht, die meint, eine staatlich-kontrollierte Erziehung diene dem Kindeswohl? Eine Erziehung, frei von intensiver Beziehung und inniger Geborgenheit, aber gesteuert von dokumentierter Professionalität?

War mein vollmundiges Statement, fremde Kinder genauso ‚lieben‘ zu können wie zukünftig meine eigenen, reines Wunschdenken? Müsste ich statt ‚lieben‘ nicht eher den Begriff ‚wertschätzen‘ verwenden?

Die Beziehung zu Heim-Kindern wird geprägt von liebevollen Zuwendungen aller Art, verbunden mit dem Ziel, ein Stück Urvertrauen zu Erwachsenen wieder herzustellen, ihr Selbstwertgefühl zu stärken und sie fit für das Berufsleben zu machen.

Eine wundervolle Aufgabe, der ich mich stellte.

Getrieben - Adoptiv-Knilch packt aus

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