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ОглавлениеEs war nach 16 Uhr an diesem Spätsommertag im September. Die Sonne stand schon tief im Westen, aber es war immer noch sehr warm. Wie immer in den letzten Tagen um diese Zeit, saß Max Engels in seinem Lehnstuhl auf der Neckarwiese vor dem Uni-Klinikum.
Der Mann war bestimmt um die fünfzig und sah aus wie ein ramponierter Unteroffizier aus einem amerikanischen Kriegsfilm – kurzes, grau meliertes Haar, dunkle Augen, darunter harte Linien wie aus Fels gehauen. Einer seiner Schneidezähne war abgeschlagen, aber so schlimm sah das nicht aus. Engels trug einen bequemen hellbeigen Leinenanzug, Mokassins und ein Polo-Shirt ohne Aufdruck.
Von seinem Sonnenplatz aus konnte er bis zum Neckarplatt hinübersehen, und interessiert verfolgte er das Treiben auf dem Fluss. Das Training der Ruderer hatte es ihm angetan. Fasziniert sah er den vorbeiziehenden Booten immer wieder hinterher. Plötzlich schreckte er auf. Vom Kiesweg kamen knirschende Geräusche.
Max Engels reagierte instinktiv und fasste zu dem Stuhl neben sich. Mit einer schnellen Bewegung fuhr seine Hand unter das Badetuch und umklammerte dort den Griff der Halbautomatik.
Der Mann war nicht paranoid, aber auch kein gewöhnlicher Patient. Engels war Ermittler bei Europol. Fachbereich, Terrrorabwehr, und er erholte sich immer noch von seinen schweren Verletzungen. Islamistische Fanatiker hatten ihn bei einem Routineeinsatz in Lüttich niedergeschossen. Das war vor sieben Monaten gewesen. Die perforierte Aorta in seinem Oberschenkel hatte fast das Ende bedeutet, aber der Notarzt konnte die Blutung doch noch stoppen. Das rettete ihm das Leben.
Engels landete im Militärkrankenhaus in Koblenz. Nach zwölf Wochen Intensivstation, vollgepackt mit unzähligen lebenserhaltenen Maßnahmen und etlichen Operationen, wurde er auf Anraten der Therapeuten nach Mannheim verlegt. In der alten Heimat sollte er sich wieder völlig aufpäppeln.
Die Geräusche wurden lauter und die Schritte kamen schnell näher. Engels veränderte seine Sitzposition und drehte den Kopf.
„Wollen sie zu mir?“
Es blendete und seine Augen flackerten, er konnte nur undeutliche Umrisse erkennen. Die beiden Ankömmlinge vor ihm, hatten die Sonne im Rücken und warfen lange Schatten.
„Nach was sieht`s denn aus?“
Engels horchte auf, und dann erkannte er die massige Gestalt. Till Keller, der Staatsanwalt von Mannheim kam neben einer Krankenschwester den Weg entlang und geradewegs auf ihn zu.
Keller war gebaut wie ein Berserker, und vollkommen haarlos. Der kahle Schädel, sein Erkennungsmerkmal glänzte wie eine polierte Bowlingkugel.
Die bedrohliche Aura verschwand, und Max Engels spürte plötzlich sogar eine freudige Empfindung. Seit der Schulzeit kannten sich die Beiden, und scheinbar mochten sie sich. Alle paar Jahre kreuzten sich ihre Wege, immer mal wieder. Mit der freien Hand winkte er den großen Mann näher heran.
„Was führt dich denn hierher?“, grüßte er rau, aber er entspannte sich augenblicklich und zog seine Hand rasch aus dem Handtuch wieder zurück.
„Oh … Max. Erstmal will ich sehen wie es dir geht.“
„Ich sehe keine Blumen Herr Staatsanwalt“, knurrte Engels. „Du machst doch jetzt nicht gerade ernsthaft einen Krankenbesuch, oder?“
„Doch alter Freund, du hast richtig geraten.“
Till Keller trug wie immer einen blauen Anzug und ein weißes Hemd mit Krawatte. Die schwülwarme Luft schien ihm nicht viel anhaben zu können, aber er hatte dunkle Schatten unter den Augen.
„Aber es heißt jetzt Oberstaatsanwalt, soviel Zeit muss sein.“
Als sie sich die Hände schüttelten spürte Engels wie angespannt Keller war. Die Krankenschwester machte kehrt und der Hühne griff sich einen der rumstehenden Korbstühle.
„Ich habe einen Mord am Hals, und der Olymp kocht“, sagte Keller als die Frau außer Hörweite war. „Hast du mitgekriegt was hier los ist?“
Das Gestell unter ihm ächzte bedrohlich als er sich setzte.
„Meinst du den …Gasanschlag von dem alle sprechen?“
„Darum geht`s.“
Beschwichtigend hob der Oberstaatsanwalt eine Hand. „Aber ich würde eine andere Sprachregelung bevorzugen.“
„Wie du meinst.“
Keller nickte fahrig und griff sich mit zwei Fingern in den Hemdkragen. „Wie ich sehe bist du ja wieder einsatzfähig, und das freut mich jetzt sogar doppelt.“
„Verbindlichen Dank.“
Max Engels war sich nicht so sicher. Seine Hüfte war ein einziges Drahtgeflecht, und er brauchte zum Laufen immer noch eine der Krücken. Die Schmerzen konnte er zwar meistens ausschalten, aber in seinen Albträumen erlebte er immer noch die grausamen Augenblicke auf dem Straßenbelag in der Rue Saint-Remy, als er zusehen musste wie sein eigenes Blut aus ihm herauslief und in den grauen Gully sickerte.
Für einen Moment war Funkstille.
„Also wie fühlst du dich heute, Max?“
„Richtig gut.“
Die beiden Männer sahen sich an.
„Ich sitz in der Klemme“, erklärte Keller und verzog das Gesicht. „Ich brauche einen erfahrenen Ermittler“, sagte er dann noch leise. „Einen Pragmatiker, der uns schnell hilft, und auf den ich mich rückhaltlos verlassen kann, verstehst du?“
„Wie kommst du auf mich“, brummte Engels.
„Max, …nicht so bescheiden. Hier weiß doch jeder Kollege wer du bist.“
„Amen.“
Engels blickte hastig auf und begegnete dem Blick des Oberstaatsanwalts.
„Sag schon was du von mir willst.“
Till Keller erwiderte den Blick ohne einmal zu blinzeln.
„Hast du Interesse an etwas anspruchsvoller Ablenkung?“, fragte er in einem anderen Tonfall weiter. „Wie gesagt, wir haben einige gute Leute hier, aber ich brauche jemand mit deiner Erfahrung.“
Max Engels nahm Witterung auf, aber er spürte auch wieder das Gefühl, als alles um ihn kalt wurde, und wie sie seine Jacke aufrissen.
„Denk ruhig darüber nach, aber es eilt, mein Freund.“
„Ach ja?“
„Die Schockwellen kommen verflucht nahe.“
„Und wieso?“
„Wie gesagt, ich habe gerade einen furchtbaren Fall geerbt und dazu muss noch einen Engpass überbrücken.“ Till Keller räusperte sich. „Du kennst doch das Theater mit den Personalzuweisungen.“
„Ich lese immer noch Zeitung, Till. Was ist dran an der Geschichte mit dem Anschlag?“
„Das steht so noch nicht fest“, versuchte Keller die Nachricht noch einmal abzuschwächen, „Es war wohl eher ein Raubüberfall, aber tatsächlich wurde eine ganze Familie dabei ausgelöscht.“
„Gibt es schon Erkenntnisse?“
„Meine Leute haben doch gerade erst angefangen.“
Till Keller schüttelte den Kopf. „Und gerade jetzt wird meine erfahrenste Ermittlerin auch noch abgezogen.“
„Wie das?“
„Das glaubst du eh nicht, also versuch ich erst gar nicht dir eine Erklärung zu basteln.“
„Und warum lässt du dir das so diktieren?“
„Mir sind die Hände gebunden“, grunzte Keller. „Du kennst das doch.“
Noch einmal bohrten sich die Augen der beiden Männer ineinander.
„Und du gibst natürlich brav nach?“
Keller überhörte das und fuhr fort: „Ein ganz wichtiger Fall ist das, verstehst du?“
Vorsichtig sah er sich um ehe er antwortete, als befürchtete er beobachtet zu werden.
„Hör auf damit“, brummte Engels. „Das mieft ja bis hierher.“
„Ich mein`s ernst, Max.“
Keller sah noch ernster aus. „Ich habe viel zu wenig Beamte und es brennt an allen Ecken.“
„Es ist überall das Gleiche“, sagte Engels mit schmalen Lippen, „aber deinen Tatort kann ich mir ja mal ansehen.“ Er begann sich etwas aufzurichten. „Kriegst du mich hier raus?“
Keller nickte sofort. „Mit dem Innenministerium ist das schon geklärt, und dein Chef ist auch einverstanden.
„Das überrascht mich jetzt doch.“ Engels grinste. „Hat der Personalrat tatsächlich nichts einzuwenden?“
Keller winkt mit einer Hand ab. „Auch der ISIM nicht. Das ist alles geklärt“, sagte er schleppend. „Glaub mir, du hast bis auf weiteres Sonderurlaub.“
„Dann kann`s von mir aus auch sofort losgehen.“
Engels erhob sich und verstaute die Pistole etwas umständlich in seinem Hosenbund hinten unter der Jacke. Mit einer höflichen Handbewegung hatte er Kellers Angebot, ihm beim Aufstehen zu helfen, abgelehnt.
Till Keller übersah die Bewegung und stapfte missmutig los. Der Kies knirschte unter seinen Sohlen.
Max Engels warf noch einen schnellen Blick auf den Fluss. Griff nach seiner Metallkrücke und folgte dem Oberstaatsanwalt etwas mühsam.
Kellers Dienstwagen war ein silberfarbener Mercedes und parkte auf dem vorderen Parkplatz zwischen allen möglichen anderen Karossen.
Der Chauffeur, ein rundlicher Polizeimeister war offensichtlich ausgedehnte Verweilzeiten gewohnt. Mit verschränkten Armen saß der Mann auf dem behaglichen Vordersitz der S-Klasse, hatte den Kopf gesenkt und versuchte nicht einzuschlafen.
Als die beiden Männer neben dem Wagen ankamen, klopfte Keller einmal sachte an das Seitenfenster. Der Fahrer zuckte hoch, und schlagartig erstarb das Radiokonzert im Innenraum. Keller schob sich auf die Rückbank und Engels kletterte neben ihn.
„Wir können gleich fahren, Hans.“
Wenig später rollten sie vom Parkplatz und der Fahrer fädelte die große Limousine geschickt in den fließenden Verkehr.
Während sie die Straße entlangschwebten lehnte sich Engels zurück in die Polster und ließ den Blick durch die Seitenscheibe wandern.
„Mit K.o.-Gas hatte ich schon mal zu tun“, sagte er als sie an der Ampel standen. „Fentanyl!“
Mit der flachen Hand fuhr er dabei, wie suchend über das Lederpolster neben sich. „In Russland war das. Das Zeug wurde damals von Spezialeinheiten eingesetzt.“
„Tatsächlich?“
Keller drehte sich zu ihm.
„Ich war bei der Erstürmung des Dubrovka-Theaters mit dabei“, erklärte Engels knapp. Für einen Moment schloss er die Augen. „Terroristen und Geiseln waren damals auszuschalten.“
„Ich erinnere mich“, sagte Keller gedämpft. „Bei dem Einsatz sind doch massig Leute ums Leben gekommen.“ Noch etwas leiser fügte er hinzu. „Natürlich habe Ich davon gelesen.“
Engels nahm sich einen Augenblick Zeit, um seine Gedanken zu ordnen. „In dem Theater sind damals tatsächlich mehr als hundert Geiseln gestorben“, brummte er. „Manche Quellen behaupten sogar noch viel mehr, aber siebenhundert Menschen haben überlebt.“
Till Keller starrte nur geradeaus.
„Fentanyl ist ein übles Zeug.“
Engels streckte seine Beine und fixierte seinen Nebenmann. „Wenn du Pech hast und zu viel davon abkriegst, kotzt du dir die Lunge aus dem Hals, zumindest, wenn du wieder aufwachst.“
„Wie wird das Gas eingesetzt?“
„Soweit ich mich erinnern kann, haben die damals gesprüht!“
Kellers Gesicht nahm einen gequälten Ausdruck an. „Dann weißt du ja wovor wir alle Angst haben…“, sagte er matt.
In dem Moment machte ihm der Fahrer ein Zeichen. Er hob seine Hand und schwenkte etwas, das aussah wie eine schwarze Brieftasche. Keller reagierte, beugte sich vor und nahm das Smartphone entgegen.
„Einfach und wirkungsvoll.“
Till Keller drehte den Kopf weg und wischte mit dem Daumen über das Display. Er überflog den Text, der vor ihm aufleuchtete, und scrollte schnell weiter.
„Sieh dir das an“, unterbrach er das Schweigen. „Unsere Zielfahnder haben im Handelshafen einen Kokaintransport abgefangen.“
„Toll.“
Engels hob beide Hände und ließ sie gleich wieder sinken.
„Die Ermittlungsgruppe hat siebenhundert Kilo von dem Dreck aus dem Verkehr gezogen.“
„Glückwunsch an die Abteilung.“
„Das werde ich so weitergeben.“
Till Keller grinste etwas verkniffen.
Eine Pause entstand.
„Habt ihr die Dealer auch erwischt?“, fragte Engels.
„Bestimmt nicht alle“, antwortete Till Keller. „Aber einige von denen sitzen jetzt bestimmt schon in Durlach.“
„Dann wird`s demnächst in der Region etwas unruhiger werden“, gab Engels noch von sich.
„So ein Schlag gegen die Drogenszene war lange überfällig.“
„Die Einbruchsziffern werden auch ansteigen.“
Kellers Stimme klang leicht abwehrend. „Endlich haben wir etwas Zählbares.“
„Glaubst du bei der Gasaschlag handelt es sich um einen Einbruch?“
Kellers Kopf ruckte herum.
„Keine Ahnung“, knurrte er, „aber das werden wir herausfinden. Wir wissen noch nicht viel, aber wo sich Geld trifft, da treiben sich auch Kriminelle rum. Im letzten Herbst haben die Kollegen in Frankfurt eine Bande von Rumänen geschnappt, die hatten im Taunus hunderte Häuser ausgeplündert.“
„Aber eine ganze Familie umzubringen, das passt doch nicht zu einer Überfallserie.“
Keller schüttelte den Kopf, aber er sagte nichts mehr.
Der Verkehr wurde noch dichter, aber der Chauffeur steuerte den Wagen ruhig weiter die Straße entlang. Hie und da gab es Schaufenster und Geschäfte. In der Ferne hörte man die Sirenen von Polizeiautos oder Ambulanzen. Für ein paar Straßenbiegungen sagte keiner mehr ein Wort.
„Hat sich schon jemand zu der Tat bekannt?“ fragte Engels nach einer Weile. „Du vermutest doch auch einen Terroranschlag?“
„Hoffentlich ist es das nicht.“
Der Oberstaatsanwalt räusperte sich geräuschvoll. „Das heißt im Klartext, dass ich mir das gar nicht erst vorstellen will, verstehst du?“
„Was wisst ihr über die Opfer und die Hintergründe?“
„Nicht viel, nur, dass es sich um Ian Kaufmann und seine Familie handelt.“
„Meinst du den … äh…Eishockeyspieler?“
„Ja.“
„Ian Kaufmann …der soll tot sein?“
Engels Stimme wurde lauter. „Geht`s hier um durchgeknallte Stalker? Verdammt! Was willst du denn andeuten?“
„Blödsinn.“
Till Keller duckte sich leicht.
„Kaufmann war ein Idol. Als Sportler … war er ein Held, und für die Adler ein gigantischer Imageträger.“
„Ich habe immer gedacht der wäre deutscher.
„Kaufmann kam aus Québec und war Frankokanadier.“
„Ist das wichtig?“
„Ian Kaufmann lebte schon etliche Jahre in der Stadt, und besaß seit langem einen Tennisclub. Der war verheiratet und hatte zwei fast erwachsene Töchter.“
„Der Mann ist echt eine Legende“, sagte Engels nach einigen wenigen Augenblicken. „Bevor Ian Kaufmann zu den Adlern kam, war er jahrelang Profi in der NHL.“
Dann zählte er auf. „Zuerst bei den Minnesota Wild und dann bei Chicago Wolves. In den Neunzigern hat er sogar in der Kanadischen Nationalmannschaft gespielt, ich glaube, er hat 1991 in Finnland und `92 in der Tschechoslowakei WM-Gold geholt…“
„Sport ist nicht unbedingt meine starke Seite“, schnappte Keller dazwischen.
Engels lächelte etwas halbherzig.
„Ist das so?“
„Woher weißt du das alles?“
„Ian Kaufmann war Vossens Idol“, sagte Engels und knabberte dabei an seiner Unterlippe, und da fragte Keller nicht weiter.
Während sie die Straße entlangschwebten dachte Engels zurück an den Tag in Lüttich, und an Laurent Vossen, seinen Kollegen, der nicht so viel Glück gehabt hatte wie er, und der an dem Vormittag im Mai auf der Rue Saint-Remy im Kugelhagel verblutet war. Max Engels hatte immer noch ein schlechtes Gewissen deswegen.
„Ist schon seltsam mit diesen ehemaligen Sportsstars“, sagte Till
Keller nach einer kurzen Weile und folgte dabei Engels Blick nach draußen.
„Sie sind wie schwarze Löcher, die ziehen das Elend nur so an.“
„Stell dir vor, du hast deine große Zeit mit zweiundzwanzig“, sagte Max Engels nachdenklich. „Dann bist du für den Rest deines Lebens nur noch ehemalig.“
Der Oberstaatsanwalt starrte Engels an und wartete auf das erlösende Gelächter.
Es kam nicht.
Noch achthundert Meter. Vorbei an dem verlassenen Fußballplatz. Dann hatten sie die Brücke erreicht. Der Fahrer setzte Blinker und einen Augenblick später rollte die silbergraue Limousine langsam hinüber auf die Insel.
Max Engels betrachtete die schmale Brücke und für einen Augenblick verspürte er einen Anflug von Wehmut. Dann ging es nach links. Hohe Baumreihen und kiesbestreute Feldwege. Nur die Zufahrt zu den paar Häusern war geteert. Weiße Flatterbändern sperrten den Weg, aber der schwere Wagen wurde nicht einmal aufgehalten. Die Streifenpolizisten winkten nur zackig.
Der Weg zog noch eine Schleife und dann baute sich eine Hausgruppe vor ihnen auf. Steil wie ein Schiffsbug sah das aus. Gegenüber auf der schattigen Straßenseite war eine kleine Menschenmenge versammelt. Die Passanten reckten immer wieder die Hälse und starrten neugierig zu dem zartgelben Sandsteingebäude hinüber.
Mehrere Funkwagen der Schutzpolizei und zwei Zivilfahrzeuge parkten vor dem Grundstück und blockierten damit die Zufahrt. Etliche Polizisten in Uniform liefen suchend umher.
Außerdem parkte ein Übertragungswagen der RNF-Nachrichten auf der Straße und die Reporter unterhielten sich mit den aufgeregten Zuschauern und hielten jedem ein Mikrophon unter die Nase, der den Mund aufmachte.
Kellers Fahrer stoppte neben einem mit Unkraut überwucherten Grundstück und die beide Männer hinter ihm stiegen wortlos aus. Keller ging voraus. Engels hatte seine Krücke im Wagen liegenlassen. Er bewegte sich vorsichtig und biss einige Male die Zähne aufeinander. Auf die Passanten achteten sie nicht.
In der geteerten Grundstückseinfahrt stand der Transporter der Spurensicherung. Daneben ein uniformierter Polizeibeamter mit einem Klemmbrett in der Hand. Oberstaatsanwalt Keller winkte dem Mann zu und blieb wartend neben dem offenen Torflügel stehen.
Engels ging einfach den Weg weiter, bis zum Carport. Unter dem Dach standen zwei Autos, ein Stadtjeep und ein kleiner Wagen mit Faltverdeck.
Er hob das Absperrband hoch und bog sich darunter durch. So gelange er in den Garten. Der Duft von den Obstbäumen mischte sich mit dem von frischem Gras, und es war angenehm schattig.
Stimmen drangen aus dem Haus, aber er konnte nur ein paar undeutliche Wortfetzen auffangen. Sofort fiel sein Blick auf die uniformierten Beamten vor ihm.
Die große Terrasse lag etwas erhöht und war überdacht mit einem schrägen Glasdach. Vorsichtig kam Engels die wenigen Stufen hoch und ging direkt auf die breite Schiebetür zum Wohnzimmer zu.
An der schmalen Hausseite richtete sich eine junge Frau auf und schüttelte gerade noch den blonden Kopf. Als sie Engels bemerkte unterbrach sie das Gespräch und kam ihm geschmeidig entgegen.
Sie kamen zu zweit, und Engels erkannte die Frau sofort.
„Back! Also doch.“
Alles kam wieder. Sabine Back, und die alten Geschichten mit ihr. Als Back an der Polizeischule angefangen hatte, war sie für zwei Semester Engels Schülerin gewesen, und bereits zu der Zeit hatte sie es problemlos geschafft, ab und an seinen Puls zu beschleunigen.
Jetzt war Sabine Back die jüngste Ermittlungsgruppenleiterin in der Region, und ein echter Star der Badischen Kripo. Immer wieder stand sie im Rampenlicht. Nicht nur wegen Ihrer beachtlichen Erfolge, sondern vor allem auch wegen ihres Lebensstils als männerfressender Vamp.
Ruckartig blieb Engels stehen und starrte der Frau entgegen. Bis er sah wie es in ihren Augen leicht aufblitzte.
Sabine Back überragte alle Anwesenden um mindestens eine Kopflänge. Die Frau war Mitte Dreißig, und hatte kein Gramm zu viel am Leib. Sie hatte ein fein geschnittenes Gesicht mit einem angriffslustigen Kinn. In ihren dunklen Augen schien ständig ein Gewitter aufzuziehen.
Es ist lange her“, sagte Max Engels als erster. „Aber eigentlich hätte ich mir denken können, dass wir uns ausgerechnet an einem Tatort, in der Stadt hier über den Weg laufen.“
Die große Frau mit den raspelkurzen Haaren kam näher und grinste.
„Ich geb`s zu“, sagte sie. „Manchmal hat man es mir sogar genauso prophezeit, Max Engels.“
Ihr Lächeln wurde breiter. Es wirkte fast deplatziert, aber die Frau hatte für einen Moment das Gesicht eines fröhlichen Mädchens, nicht das einer rabiaten Kommissarin der Mordkommission.
Sie musterten sich gegenseitig und ließen sich auch dabei etwas Zeit dabei. Back trug einen engen dunkelblauen Hosenanzug mit weißer Bluse, und modische Springerstiefel. In jedem Ohr von ihr steckten eine Menge Ohrringe und das kurze Haar war maisgelb gefärbt. Sie kaute ihren Kaugummi und starrte Engels an.
„Was ist jetzt?“
„Ich soll hier arbeiten“, sagte Engels.
„Hat sie der Oberstaatsanwalt schon eingewiesen?“
Engels zwinkerte ihr zu. „Tatsächlich hat er nur zu mir gesagt: Das macht zwar die Lange, aber...“
„Habe ich etwa dafür meinen Termin sausen lassen?“
„Schade…“
Mechanisch erwiderte Engels ihr Lächeln. „Bestimmt kann man was Neues ausmachen.“
„Kein Problem.“
„Ich weiß, dass das hier eigentlich ihr Spielplatz ist.“ Engels wurde wieder ernsthaft. „Aber ich freue mich sie zu sehen, und dass sie noch auf uns gewartet haben, finde ich, ehrlich gesagt, … taff.“
„Was?“
„Was?“
Engels gab ihr die Hand.
„Gleichfalls.“
Unwillig winkte Back ab, aber ihre Augen flackerten.
„Außerdem wollte ich halt unbedingt rausfinden, ob sie sich noch an ihr Fußvolk von damals erinnern.“
„Sie haben sich überhaupt nicht verändert, Verehrteste“, sagte Engels geduldig, „aber ich vergesse nie ein Gesicht. Das wissen sie doch hoffentlich noch.“
Dann begrüßte Max Engels auch den Kollegen von der Spurensicherung. Arthur Kemmer, klein, gepflegter Ziegenbart, wache Augen.
„Erst mal so was wie Entwarnung“, sagte Kemmer launisch. „Es war kein VX, oder ein anderes Giftgas, aber ähnlich gemein.“
Der Mann steckte in einen weißen Kunststoffoverall, und war zugeknöpft bis zum Kinn.
Engels betrachtete seinen Gegenüber einen Augenblick länger.
„Das hört sich doch gut an.“
„Vor allem ist es verbindlich“, erwiderte der Techniker trocken, „und darum ist es die gute Nachricht.“
Danach war eine Zeitlang nur das Rauschen des Windes zwischen den Bäumen zu hören.
„Keine Gefahr mehr. Wir haben jedes Zimmer im Haus gecheckt.“.
„Was war es für ein Zeug?“
„So schnell können wir noch nicht “, knurrte Kemmer säuerlich in Engels Richtung. „Das Labor kümmert sich um die Bestimmung, aber geben sie mir noch ein paar Stunden.“
„Was wissen wir schon?“
Sabine Back und der Kriminaltechniker sahen sich schnell an.
„Den Kollegen muss ich jetzt wohl nicht weiter vorstellen, oder?“ Oberstaatsanwalt Keller, der inzwischen herangekommen war, machte den Umstehenden ein Zeichen mit der Hand. „Max Engels hilft bei uns aus und führt ab sofort die Ermittlungen.“
Missmutig legte er noch seine Stirn in Falten.
„Mehr ist im Augenblick nicht zu sagen.“
Sabine Back nickte einmal und suchte Blickkontakt bei dem Oberstaatsanwalt.
„Das möchte ich aber noch loswerden.“
Für einen Augenblick sah sie Engels offen ins Gesicht:
„Ich freue mich, dass es ihnen wieder gut geht, Max“, sagte sie hastig. „Nach den Einsatzmeldungen, die wir mitgekriegt haben, hätte ich nicht gedacht, dass wir uns so schnell wieder über den Weg laufen.“
„Amen.“
„Ich dachte sie wären nur noch als Dozent tätig gewesen.“
„Das war ich auch, aber …das ist…ach …eine andere Geschichte.“
„Dann verschieben wir das auf später.“ Das Lächeln von Back wurde noch um einige Grade heller. „Sind sie bereit für die Stabübergabe“, fragte sie entschlossen.
„Was ist hier passiert …“
„Das kann ich noch gar nicht einordnen.“ Backs Augen weiteten sich und wurden für eine Sekunde noch größer. „Ein Gruselfilm, aber leider ist der real! Die ganze Familie ist vergast worden, …man kann`s nicht anders sagen, und ich bin immer noch geschockt.“
Für einen Moment konnte man wieder die Vögel laut zwitschern hören
„Das sind wir alle“, sagte Till Keller tonlos. „Die Leichen sind schon in der Rechtsmedizin, man weiß ja nie … äh… um was es sich tatsächlich handelt.“ Mit einem Ruck wuchtete er sich herum.
„Du glaubst nicht wie dramatisch es hier aussah, als die ersten Kollegen eintrafen.“
„Wer steckt dahinter?“, fragte Engels. „Was sagt der Staatsschutz?“
„Keine aktuellen Erkenntnisse.“
„Wir haben trotzdem nicht viel Zeit.“
„In den Luftschichten über uns, sind keine Verunreinigungen festzustellen“, begann Kemmer. „Auch in der Umluft nicht.“
„Zum Glück!“
Kemmer sah die Umstehenden der Reihe nach an.
„Es besteht keine Gefahr für die Bevölkerung.“
„Malen sie den Teufel nicht an die Wand.“
„Das THW hat Messungen durchgeführt“, sagte Kemmer. „Die haben die Lüftungssysteme in dem Haus druckbelüftet, und alles dann noch mehrmals durchgespült.“
„Gibt’s eigentlich vergleichbare Fälle in der Umgebung?“
Back seufzte einmal um die Anspannung loszuwerden.
„Einbrüche mit K.o.-Gas häufen sich zwar dramatisch, aber so etwas habe ich noch nicht gesehen.“
„Ian Kaufmann, der Name sagt ihnen doch bestimmt auch etwas?“ Arthur Kemmer grinste irgendwie verloren. „Und jetzt ist er tot, und wir stehen vor einem Rätsel.“
„Ist mir bekannt, aber wieso ist der Name schon an die Presse gegangen.“
„Tschuldigung“, erwiderte Kemmer und reckte sein Kinn streitlustig nach vorne. „Aber solche Meldungen entwickeln eine gewisse Eigendynamik. Dagegen sind wir machtlos.“
„Ich meine“, sagte Max Engels, „hatte Kaufmann denn keinen Gasmelder im Haus?“ Widerstrebend sah er sich um. „Was hat sich hier bloß abgespielt?“
„Es gibt Anzeichen dafür, dass es sich um keinen gewöhnlichen Gasüberfall gehandelt hat“, sagte Sabine Back und senkte ihre Stimme.
„Die Opfer wurden nicht in ihren Betten aufgefunden“, erklärte sie weiter. „Die Leiche der Frau lag hinter der Schlafzimmertür, die von Kaufmann quer über dem Schreibtisch. Der Gasmelder hat Alarm ausgelöst, vermutlich sind sie davon auch aufgewacht, aber jemand hat ihn abgestellt.“
Für einen Moment herrschte bedrücktes Schweigen. Engels wechselte das Standbein und warf Kemmer einen schnellen Blick zu.
„Irgendwelche Ideen?“
„Ich will nicht spekulieren“, sagte der Spurensicherer. „Die alte Dame war die Einzige, die in ihrem Bett lag. Vielleicht hatte sie Schwierigkeiten aufzustehen, wir wissen es nicht.“
„Und die beiden Mädchen?“
„Die lagen vor ihren Zimmern, im Flur im Dachgeschoss.“
„Wie kam das Gas überhaupt ins Haus?“
„Es wurde einfach durch die Lüftungsschächte gepumpt“, sagte Kemmer. „Hier von der Giebelseite aus. Die Thermostate waren auf zwanzig Grad eingestellt, und so verteilte sich das Gas dann schnell im ganzen Haus.“
Engels schaute dem Spurensicherer immer noch ins Gesicht.
„Merkwürdig, aber was machte…Kaufmann auf dem Schreibtisch?“
„Der Schreibtisch stand genau unter dem Lufteinlass“, erklärte Arthur Kemmer. „Und der Tote lag auf einer Decke, als man ihn fand“, berichtete er weiter. „Es scheint als hätte er gesehen, wie das Gas hereinströmte, und versucht, es mit Hilfe der Bettdecke aufzuhalten. Das unterstreicht noch einmal das Ungewöhnliche an dem Fall.“
„Sonst noch irgendwas?“
Kemmer sah Engels direkt an.
„Gewöhnliches K.o.-Gase wie „Fentanyl, oder Kohlendoioxid sind farblos“, sagte er gedämpfter. „Und jedes dieser Gase wäre unsichtbar gewesen.“
„Also wurde etwas Aggressiveres eingesetzt? Aber was…, verdammt noch mal?“
Arthur Kemmer schüttelte den Kopf.
„Das wissen wir halt noch nicht“, knurrte er und winkte ab, „aber es ging alles rasend schnell und vermutlich war das Zeug sogar irgendwie sichtbar. Wie Wasserdampf oder Rauch.“
„Muss man sich jetzt mehr auf solche brutalen Raubüberfälle einstellen?“
„Bis jetzt haben wir noch nichts Vergleichbares.“
„Wer hat die Toten gefunden?“
„Frau Bolzin. Das ist die Haushälterin“, antwortete Sabine Back wieder und zog dabei den dünnen Gummihandschuh von ihrer linken Hand. „Die Frau hat uns auch angerufen.“
„Hat sie was damit zu tun?“
Sabine Back schüttelte den Kopf. „Die Frau hat ihren eigenen Schlüssel. Wenn sie das Haus hätte ausräumen wollen, hätte sie das bereits vor einer Woche tun können, als Familie Kaufmann noch auf Reisen war.“
Max Engels war plötzlich wie aufgeladen.
„Was wurde gestohlen?“
„Alles was sich schnell zu Bargeld machen lässt. Sogar der Tresor ist weg.“
„Was?“
Die Diebe, oder vielleicht sollten wir sagen die Mörder, rissen ihn aus der Wand im Arbeitszimmer, und nahmen ihn mit, vermutlich sogar ungeöffnet. Alle Kunstgegenstände sind weg, alle Computer und Fernseher und sonstigen Elektrogeräte, außerdem der gesamte Schmuck und sämtliches Bargeld. Sie haben sich auch reichlich Zeit gelassen.“
„Wie lange haben die gebraucht?“ „
„Mindestens eine halbe Stunde für den Tresor und ebenso viel für den Rest der Beute.“
„Konnten sie schon feststellen, wann es passiert ist?“
„Der Einbruch begann exakt um 04.05. Uhr.“
„Hat der Hund denn nicht angeschlagen?“
Irritiert zuckte Kemmer mit der Achsel. „Wer hat denn was von einem Hund gesagt?“
„Das war ein Scherz, Kollege.“
Kemmers Augen wurden größer, aber ohne einen Kommentar drehte er sich einfach um und machte ein paar Schritte. „Jedenfalls war die Alarmanlage zu dem Zeitpunkt ausgeschaltet.“
Die drei anderen kamen hinter ihm her.
„Wie denn ausgeschaltet?“, fragte Engels. „Haben die den Strom unterbrochen? Oder einfach die Kabel herausgerissen?“
Back blickte auf ihre Uhr.
„Ich kann es mir nicht anders erklären, als dass die Mörder den Code gekannt haben“, sagte sie und drehte sich etwas zur Seite. „Entschuldigen sie mich, aber ich habe noch einen Einsatz und muss dazu noch einiges arrangieren.“
„Wann darf ich ins Haus?“
„Erst wenn wir durch sind.“ Eine griesgrämig dreinblickende Kriminaltechnikerin streckte ihren Kopf durch die offene Terrassentür. „Sind sie der Sonderermittler, der ab jetzt übernimmt?“
„Richtig.“
„Dann brauche ihre Fingerabdrücke zum Abgleich.“
Die Frau mit dem Pferdeschwanz sprach mit einem weichen Mannheimer Zungenschlag.
„Vorher fassen sie bitte nichts an.“
„Nein Madam:“
Engels kratzte sich am Hals. Sein Handy hatte angefangen zu piepsen und zeigte penetrant an, dass ihn jemand sprechen wollte.
Verdutzt nahm er das Gespräch an.
„Hallo“, meldete er sich.
„Hallo Max, … Joe hier…“
„Wer?“
„Tänzer. Du hast mich doch nicht vergessen, oder?“
Jo Tänzer war Reporter vom Neckarblick, und ein alter Bekannter, war er auch. Natürlich war die Handynummer von Engels noch immer in seinem Telefonverzeichnis abgespeichert.
„Hier steckst du also, alter Freund?“
Engels drehte sich zur Seite.
„Was willst du?“, fragte er leise.
„Ich sehe dich gerade auf meinem Radar, und frage mich was du da bei Kaufmann treibst.“
„Von was redest du denn?“
„Hör auf mit dem Quatsch. Ich stehe mit meiner Mannschaft direkt vor Kaufmanns Haus und versuche nur meinen Job zu machen. Du kennst das doch.“
Für einen Moment war es still in der Leitung.
„Willst du vielleicht einen ersten Kommentar zu der Geschichte hier abgeben?“
„Was denkst du?“
Augenblicklich wusste Tänzer, dass es zwecklos war, aber er versuchte es trotzdem weiter. „Du wirst doch ein paar Erklärungen haben für einen alten Freund, oder gilt das nicht mehr.“
Engels beschloss sich nicht zu ärgern.
„Ja, sicherlich“, sagte er deshalb. „Hier hast du meinen Kommentar, und das ist …vertagtes Schweigen. Zu laufenden Ermittlungen gibt es von mir immer noch keine Wasserstandsmeldungen, auch wenn ich mal viel Blut verloren habe.“
„Gibt’s schon Hinweise?“, fragte Tänzer unbeeindruckt weiter. „Wo können wir uns treffen und in Ruhe reden?“
„Wende dich getrost an die Presseabteilung. Die können dir sicherlich helfen.“
Wieder blieb es einen Moment lang still. Engels hörte Geräusche im Hintergrund. Schritte? Eine Autotür?
Entschlossen drückte er das Gespräch weg.
Presserummel war das letzte was er jetzt brauchten konnte.
„Nachher können sie sich in aller Ruhe umsehen“, bemerkte Back etwas lauter und sah auf die Uhr. „Die Fallakte lasse ich ihnen bringen.“
Damit setzte sie sich in Bewegung.
„Jetzt muss ich weiter…“
„Ich weiß“, brummte Engels und sah ihr hinterher, bis sie verschwunden war.
Nachdem Sabine Back gegangen war, verschwand auch das Licht am Horizont und es wurde langsam dämmrig.
„Kommen sie mit“, rief Kemmer ihm zu und bugsierte ihn zu dem schmalen Kiesweg, der zum Vordereingang führte. „Wir fangen am besten da vorne an.“
„Einverstanden.“
Steifbeinig versuchte Engels mit Arthur Kemmer Schritt zu halten.
„Auf die Art sind die Kerle ins Haus gekommen.“
Kemmer war stehengeblieben und deutete mit der Hand kurz nach unten auf ein aufgebrochenes Seitenfenster. Dann waren sie um die Ecke. Ein uniformierter Polizist stand vor der Außentür zur Küche und wartete.
Engels blieb stehen und fragte ihn: „Ist die Luft wieder sauber?“
Der Mann wirkte etwas nervös. „Die Feuerwehr hat bis vorhin nachgemessen“, sagte er und guckte dabei unsicher.
„Das ist nur das Adrenalin“, sagte Engels und streckte sich. „Ich bin gleich wieder normal.“
Der Uniformierte nickte, lies Kemmer und Engels ins Haus und schloss hinter ihnen die Tür.
Schweigend gingen die drei Männer durch die Küche, landeten in der großen Eingangshalle und sahen sich dort um. An der linken Wand, befand sich die Garderobe. Von der Diele gelangte man ins Wohnzimmer. Die Tür stand offen. Schneeweiße Wände sahen sie an.
Dicke Balken ragten aus der Decke Aber Engels machte einen Bogen und schielte nur mal in den großen Raum. Große Sofas und einige Sessel verteilten sich in dem Raum. Kriminaltechniker waren noch bei der Arbeit. Der blonde Pferdeschwanz war allerdings nicht dabei.
Max Engels blieb einfach im Flur stehen. Bis zum Dach war alles offen, der Luftbereich war mindestens acht Meter hoch, vielleicht sogar mehr. Zwei Treppen, eine auf jeder Seite führten zu der Galerie ins Obergeschoss, und in der Mitte hing ein riesiger, schmiedeeiserner Kronleuchter. Der Fußboden aus schneeweißem Granit war glatt und eiskalt.
Die Luft war trocken.
Engels rief: „Können wir reinkommen?“
„Das dauert noch.“
„Seid ihr immer noch nicht fertig?“ bellte Kemmer. „Etwas mehr Tempo, bitteschön.“
„Fangen wir halt von oben an?“, sagte der Streifenpolizist und zeigte auf die Treppe.
„Klingt doch vernünftig.“
Engels ließ den Mann vorangehen und folgte ihm mit ein paar Schritten Abstand. Ein kühler Luftzug ging durchs Haus, irgendwo mussten noch Fenster geöffnet sein. Das Lüften war also doch noch nicht vorbei.
Im Dachgeschoß gab es nur eine kleine rechteckige Plattform als Diele. Dahinter zeigten Türen in zwei Richtungen.
„Hier haben wir die Mädchen gefunden“, sagte der Uniformierte und zeigte am Boden auf die mit Kreide nachgezeichneten Umrisse der Körper, die hier gelegen hatten.
Max Engels sagte nichts.
„Hier hat die älteste Tochter, Sandy gewohnt“, fuhr der Polizist fort und öffnete die erste Tür auf der linken Seite.
Engels ließ sich Handschuhe geben bevor er das Zimmer betrat. Dann sah er sich um. Der Raum war ziemlich klein und in Rosa und Gelb gehalten. In einer der Schrägen befand sich eine gemütliche Sitzecke. Direkt daneben führte eine breite Glastür auf einen großen Balkon.
In einer Ecke stand ein weiß lasierter Schreibtisch mit Laptop, Drucker. Schreibtischlampe und Stiften. Das Standregal diente auch als Raumteiler und war auf der einen Seite mit bunten Postern dekoriert. Das französische Bett in der anderen Ecke war immer noch zerwühlt, und auf dem flauschigen Teppich lagen T-Shirts, Schuhe und einige Kataloge in einem einzigen Durcheinander.
Ein großes Bücherregal quoll über von Büchern. Auf der linken Seite standen überwiegend Taschenbücher. Auf der rechten standen Comics und einige Nachschlagwerke.
Nach ein paar Augenblicken musste Engels sich räuspern. Damit drehte er sich um und ging wieder hinaus auf den Flur. Ohne ein Geräusch zu machen zog er die Tür hinter sich zu.
Im Flur blieb er einen kurzen Moment stehen, öffnete die Tür auf der rechten Seite und gelangte in ein großes schneeweißes Badezimmer mit einer Badewanne auf einem Sockel, einem breiten Waschbecken, einem Bidet und einer Toilette.
Die nächsten beiden Schlafzimmer waren leer, nichts wies auf Gäste hin. Das letzte befand sich ganz hinten links. Die Tür stand offen, im Raum war es stockfinster. Engels machte Licht.
Das Zimmer war chaotisch. Der Teppich lag zusammengeschoben auf der Seite. Das Bett stand schief, Matratze und Bettzeug waren heruntergezogen worden. Die Türen des massiven Kleiderschranks standen offen, es roch angenehm. Jungmädchenkleider lagen auf dem Boden. Jeans, Blusen, mehrere Röcke, eine Jeansjacke. Eine große Reisetasche war in die Ecke geworfen worden. Daneben lagen zwei Tennisschläger. Auf dem Schreibtisch, es war dasselbe Modell wie bei ihrer Schwester, nur in Grün, lag ein Headset, daneben stand ein Teller mit Apfelscheiben und eine bauchige Flasche mit Mineralwasser.
Max Engels hatte genug und verließ das Zimmer wieder. Ohne sich noch einmal umzusehen, ging er über die Treppe nach unten, wandte sich auf der Galerie direkt nach links, und öffnete die Schlafzimmertür von Lilli und Ian Kaufmann.
Der Raum vor ihm war riesig.
Ein Türflügel stand offen und ließ das restliche Tageslicht in den Raum hineinfallen. Ein breites Boxspringbett stand neben der Terrassentür, und bot auch von dort einen herrlichen Ausblick über den Garten. An der Seitenwand hing sonst wohl ein überdimensionierter Flachbildschirm. Jetzt wirkte die Wandfläche kahl und verwaist. Für einen Augenblick starrte Engels auf die ausgebleichten Abdrücke.
Daneben stand ein Sekretär. Auf der anderen Seite befand sich eine Frisierkommode und ein großer Spiegel. Engels Blick wanderte automatisch zur Lüftungsöffnung.
„Bitte warten sie einen Augenblick.“
Max Engels schloss die Tür hinter sich. Die Anstrengung setzte ihm zu. Alles drehte sich. Der fehlende Schlaf, dachte er, und zwang sich gleichmäßig zu atmen. Nach einigen Minuten kam er wieder auf den Flur.
„Bei ihnen alles in Ordnung?“
Der Uniformierte schwieg für einen Moment, dann nickte er und gemeinsam gingen sie sie die Treppe hinunter.
„Und, wie sieht`s aus?“
Kemmer kam gerade durch die Terrassentür wieder zurück ins Wohnzimmer. Mit einem Seitenblick fragte er: „Mögen sie Eishockey?“
„Manchmal…“
Engels zog die Handschuhe aus und warf sie in den Müllsack der Spurensicherer.
„Da hinten befindet sich noch ein Schlafzimmer“, sagte Kemmer und zeigte mit seinem langen Lineal den Flur entlang. Sie machten einen Bogen nach rechts. Direkt neben der Küche lag der Essbereich, der war im Landhausstil möbliert, und dann kam noch ein kleinerer Flur. An der ersten Tür hing ein Zeichenblatt. „Hier wohnt Susanna“, stand in großen Blockbuchstaben darauf.
„Wo ist das Mädchen?“, fragte Engels. „Sie war ja wohl nicht im Haus als es passiert ist, oder?“
Der Streifenbeamte sah ihn forschend an, streckte dann seinen Arm aus und öffnete die Tür. Nebeneinander blickten sie in ein ordentliches Jugendzimmer. Das schmale Bett war gemacht und die Tagesdecke ordentlich darübergebreitet. Ein Laptop, der so aussah wie der von Sandy, stand ausgeschaltet, aber aufgeklappt auf dem Schreibtisch. Ein verblichenes Poster von Britney Spears hing neben der Tür.
„Reicht das jetzt?“
Widerstrebend nickte Engels.
Zusammen kamen sie aus dem Haus und gingen weiter durch den Vorgarten.
„Diese Susanna, wer ist das?“
„Vielleicht eines der Hausmädchen, oder?“ Kemmer rollte mit den Schultern. Neben dem Straßenrand blieb er stehen.
„Wäre möglich.“