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Sommer 1980 : Abitur in der Tasche - und nun?
ОглавлениеIch hatte kaum mein Abiturzeugnis nach Hause getragen, da stand schon der Besitzer des Tante-Oma-Ladens unseres Dorfes in der Tür und beglückwünschte mich mit den Worten: „Mit einem Durschnitt von 2,5 bis du besser als der Sohn von Franz-Josef Strauß – ich bin stolz darauf“. Nun denn, der Durschnitt hatte auch mich positiv überrascht – eine besondere Leuchte in der Schule war ich gerade nicht, abgesehen von meinen sehr guten Noten in Englisch und Französisch. Mathematik hatte ich in der zwölften Klasse mit einer 4 minus abgegeben, Physik Grundkurs mit einer glatten 3 im Abitur bestanden. Das schlimmste Fach war Musik, da schrieb ich in den Klassenarbeiten stets eine glatte Fünf – zu sehr wurde ich von der Zwölfton-Musik Bartoks gequält-, schaffte es aber jedes Jahr zu den Zeugnissen auf eine Drei zu kommen. Der Trick war einfach: ich spielte eine halbe Stunde lang brasilianische Gitarre, und das hatte konnte ich schon sehr gut. Was kümmerte mich dann der Rest? Egal, das Abitur hatte ich geschafft!
Was nun? Für mich stand nur eines fest: Ich wollte an die Uni. Der erste Gedanke war, Russisch zu studieren. Geht aber nicht, weil man schon vor Studienbeginn gut russisch sprechen können sollte, und das war nicht der Fall. Also was anderes ... Chemiker! Das war's! Dann bin ich zu meinem Chemielehrer gefahren und habe ihn gefragt, was er davon halte. Er hat sich halb totgelacht: „Weissenbach, Sie als Chemiker? Wollen Sie wirklich in den Semesterferien im stinkenden Labor irgendwelche Mischungen zusammenbrauen? Jeder Chemiker findet irgendwann seine Mischung, die ihn ins Jenseits befördert ...“ OK, gestorben.
In Frage kamen nur Numerus Clausus-freie Fächer – und davon gab es doch jede Menge!
Es gibt nicht allzu viele Zeugen Jehovas mit Abitur. Wenn dann noch einer studieren will, erregt dies – zumindest in Versammlungen auf dem Lande – einiges Aufsehen. Tatsächlich sprachen mich mehrere Zeugen an, ob ich, so kurz vor dem Weltuntergang, tatsächlich noch meine Zeit mit einem Studium verschwenden wolle und ob es nicht besser wäre, Pionier (Vollzeitprediger) oder gar Missionar im Ausland zu werden. Das ging mir durchaus durch den Kopf, irgendwie hatten sie ja Recht. Ich blieb glücklicherweise bei meiner Entscheidung für ein Studium. Alles andere wäre eine glatte Katastrophe geworden, aber die kam auch so.
Mein Bruder hatte bereits einen Studienplatz für Elektrotechnik an der Fachhochschule. Wir beschlossen, uns eine gemeinsame Wohnung zu suchen. Leichter gesagt als getan: es gab kaum irgendwelche Angebote, die meisten waren zu teuer. Einige unserer Glaubensbrüder halfen uns mit Adressen von freien Wohnungen, es folgten unendlich viele ergebnislose Telefonate. Eines von diesen ist mir in lebhafter Erinnerung geblieben: in einem Haus war jemand verstorben (war ein Tipp aus der Versammlung), und so fragten wir bei der Vermieterin nach, ob die Wohnung noch frei wäre. Die Vermieterin war entsetzt und sagte „Was? Ist da schon wieder jemand gestorben? Oh Gott, wer denn?“ Das war unendlich peinlich, schließlich rückte mein Bruder mit dem Namen heraus. „Ach der Herr Soundso, neeee, der ist doch schon seit zwei Wochen tot,....nein, die Wohnung ist bereits vermietet“. Andere Vermieter wollten uns nicht glauben, dass wir Brüder waren ... „Zwei Männer in einer(!) Wohnung? ... Nein, ich glaube, die Wohnung ist schon vermietet.“
Schließlich fanden wir doch noch eine kleine Wohnung unweit der Uni: ein Zimmer, eine kleine Küche, Bad mit Dusche. Um zur Toilette zu gelangen, musste man durch die Dusche klettern. Kurzherum, eine richtige Studentenbude. Die Wohnung war noch ein wenig renovierungsbedürftig, und da immer noch Ferien waren, war es meine Aufgabe, die Wände zu streichen.
Ich erinnere mich noch an dem letzten Abend in meinem Elternhaus. Der Wagen war schon mit Farbeimern, Pinseln, eine Menge Bücher, Gitarre und einem Schlafsack beladen. Nächsten Morgen sollte es losgehen. Ich hatte ein wenig befürchtet, dass es noch zu einer Abschiedsszene kommen würde, denn schließlich verließ nun auch das letzte Kind das Elternhaus. Aus Rücksicht für meine Eltern wollte ich den Abend noch bei ihnen verbringen.
Abends ging ich noch zum Wagen hin, um irgendetwas einzuräumen. Dann kam mein Vater hinterher und drückte mir einen Korb in die Hand, ein paar Nahrungsmittel und eine Taschenlampe. Er sagte nur, dass er es verstehen könne, wenn ich noch am Abend los wolle, ich solle mich jetzt einfach ins Auto setzen und losfahren. Er drückte mir die Autoschlüssel förmlich in die Hand. Die Taschenlampe wäre für die Nacht da, falls ich noch kein Licht anschließen könne. Mit meiner Mutter wäre alles klar, „fahr' man jetzt los, Junge“. Er hatte mich regelrecht gedrängt, ich ließ das zu. „Fahr ' man, fahr' man los.“
Das tat ich auch, so einfach hatte ich mir das nicht vorgestellt.
Die Einrichtung der Wohnung gestaltete sich einfach: die Betten und unsere Schreibtische nahmen wir von unserem Elternhaus mit, Stühle dazu. Die Waschmaschine holten wir vom Sperrmüll, Bücherregal und Teppich gleich mit. Den Eisschrank besorgten wir uns für einen Fünfer vom ASTA. Fertig, mehr brauchten wir nicht. In dem Zimmer hatten wir unsere beiden Betten und einen Schreibtisch gestellt, einen weiteren Schreibtisch in der Küche. Das war eine irrsinnige Kletterei, um in der Wohnung überhaupt irgendwohin zu gelangen, aber man ist ja jung, da stört einen so etwas nicht. Zu allem Überfluss kriegte mein Bruder einige Monate später noch ein Klavier als ständige Leihgabe: auch dieses fand noch im Zimmer seinen Platz. Ein wenig zu meinem Verdruss – die Kletterei wurde nun zunehmend schwieriger – und zum Verdruss unserer Nachbarn. Aus anderen Gründen.
Ein paar Wochen danach war dann der Einschreibtermin an der Uni. Ich holte den Anmeldebogen ab und begann, diesen auszufüllen. Gewünschtes Studienfach? Tja, das wusste ich immer noch nicht, und ahnungslos – und beneidenswert naiv, wie ich war - , machte ich kurzerhand mein Kreuz bei „Physik Diplom“.
Peter wird Physiker! Darauf war ich mächtig stolz, ich hatte zwar nur einen Grundkurs in Physik, den auch passabel mit 9 von 15 Punkten abgeschlossen, also das würde ich schon schaffen. Damit war die Anmeldung komplett.
In den Wochen vor dem Studium boten die einzelnen Fakultäten den Studienanfängern an, sich bei einem Professor zu informieren. Also fuhr ich zu den Physikern und hatte ein Gespräch mit einem Prof. Dr. Schrenke, seinerseits Experimentalphysiker. Das Gespräch war sehr nett, bis zu dem Moment, wo er mich nach meinen Leistungskursen im Abitur fragte. „Englisch und Französisch“, sagte ich. „Waaaaaaaas??? Englisch und Französisch? Mein Gott, warum denn nicht Physik oder wenigstens Mathematik?“ Der Professor war sichtlich geschockt, ich ebenso. Dann erklärte er mir, er wolle mich ja keinesfalls entmutigen, aber wenn ich nicht Mathematik könne, dann würde ich niemals das Grundstudium schaffen, zwei Drittel der Leute würden an der Mathematik scheitern und das wäre eine glatte Katastrophe und ... Den weiteren Verlauf des Gespräches überlasse ich der Fantasie des geneigten Lesers. Zum Schluß rannte(!) er zu seinem Schreibtisch, schrieb etwas auf einen Zettel und drückte mir diesen in die Hand mit den Worten: „Fahren Sie heute noch in einen Buchladen, besorgen Sie sich diese Mathematik-Bücher und fangen Sie noch heute Abend an zu lernen“.
Ich war mittlerweile so klein, dass niemand mehr die Tür für mich aufmachen musste – ich passte bequem unter durch. Wohl noch im Schock fuhr ich zum Buchladen, kaufte mir die Bücher und fing am selben Abend an zu lernen: Differentialrechnung, Integralrechnung, Lineare Algebra.
Als das Studiensemester dann im Oktober 1980 begann, war ich hoch motiviert, mich in Mathematik reinzuhängen – da gab es zu den Grundvorlesungen wöchentliche Aufgabenzettel, die dann zu Hause zu lösen waren. Ich fand schnell eine Gruppe von drei anderen Studenten und zusammen lösten wir die Aufgaben jeweils nachmittags bei Kaffee und Keksen. Kuchen war zu teuer. Dieser Zusammenschluss hielt noch für viele Jahre und sollte für mich noch eine große Bedeutung haben, aber dazu später.
Das Lösen der Aufgaben war zwar kompliziert, aber wenigstens hatte ich dadurch Erfolgserlebnisse, die mich weiter motivierten. Insbesondere mein Professor für Lineare Algebra verstand es, aus dem Stoff eine Art Krimi zu machen, er zog mich regelrecht in seinen Bann. Auch heute noch, zwei Jahrzehnte nach meinem Diplom, lese ich – ich mag's kaum sagen – abends noch Mathematik-Bücher und freue mich über eine gelungene und ästhetische Theorie.
In Physik sah die Welt etwas anders aus: wöchentlich musste man zu einer Übungsstunde erscheinen, dann wurden Aufgabenzettel verteilt, die dann in der Übungsstunde selbst zu lösen waren. Die allererste Aufgabe – Umrechnung von Bogenmaß in Winkelmaß – hatte ich noch geschafft. Simpler Dreisatz! Danach keine einzige Aufgabe mehr.
Zu Weihnachten hin nahm ich mir vor, den Anschluss an die Physik jetzt auch noch hinzukriegen und besorgte mir das Standardwerk für alle Physiker : Resnick/Halliday „ Physics“. Das Buch ist doppelt so groß und doppelt so dick wie die Bibel, mit tausenden von Formeln und Übungsaufgaben. Während der Weihnachtsferien ackerte ich mich von Aufgabe zu Aufgabe durch und ging dann nach Neujahr in die Physik-Übungsgruppe mit dem festen Vorsatz, von nun an jede Aufgabe lösen zu wollen.
Meine Einstellung erwies sich hingegen als ein wenig zu optimistisch. Der Übungszettel wurde verteilt, ich las die Aufgaben durch und dachte noch, da werde es sicher eine Formel dafür geben, wenn ich die nur wüsste ...
Meine Nachbarn vor und hinter mir begannen eifrig zu rechnen, und dann nach etwa 30 Minuten passierte es: einer der Studenten schrie förmlich auf, er habe die Lösung. Der Professor sauste von seinem Stuhl hoch und fragte, wie die Lösung den laute: „4,443“. Freude bei beiden, das muss wohl die richtige Lösung gewesen sein. Der Professor : „Haben Sie denn auch gesehen, dass man den Sinus durch den Tangens ersetzten kann, weil der Winkel so nahe bei Null liegt?“... Die nachfolgende Diskussion ist zu einem nicht weiter interessant für Nicht-Physiker, zum anderen habe ich diese auch nicht so ganz verstanden. Lassen wir das also. Was mich beschäftigte, war vielmehr die Frage, ob „4.443“ nun gut oder schlecht ist? Oder prima oder nicht so toll? Ich konnte beim besten Willen mit der Zahl nichts anfangen.
Dann stand ich auf, wünschte dem Herrn Professor noch alles Gute und verließ die Übungsstunde. Tags drauf schrieb ich mein Studienfach in Mathematik / Romanistik – zunächst fürs Lehramt - um. Zu einem späteren Zeitpunkt entschied ich mich dafür, kein Lehrer zu werden – dies habe ich bis heute nicht bereut – und hatte statt dessen Mathematik / Informatik auf Diplom studiert.
Soweit zum Thema: „Man sollte nur das Studieren, worin man in der Schule auch gut gewesen ist“. Ein paar Jahre später, nach meinem Diplom, bin ich noch zu meiner alten Schule gefahren und begegnete gleich als Erstes meinen ehemaligen Mathematik-Lehrer. Der erkannte mich sofort ( oh Gott, war ich so(!) schlecht?) und fragte gleich, was denn aus mir geworden wäre. „Das erraten Sie nie!“ - hatte er auch nicht und war völlig überrascht und hoch erfreut, dass ich mein Diplom in Mathematik gemacht hatte.
Ich kann wirklich sagen, dass diese Jahre unbeschwert waren. Viel Geld hatten wir zwar nicht, aber es reichte sogar dafür aus, dass wir uns gemeinsam ein Auto leisten konnten. Das Erste was ein betagter Taunus 17m, seinerzeit ein regelrechter Straßenkreuzer. Irgendwann war jemand beim Ausparken in die Fahrertür gefahren, sodass diese sich nicht mehr öffnen ließ. Macht nichts, dann steigt man halt auf der Beifahrerseite ein und aus. Bis dann ... der Hebel zum Öffnen der Tür der Beifahrerseite irgendwann abriss. Nun denn: Fenster runterkurbeln, mit der Hand dann gekonnt nach Außen langen und die Beifahrertür öffnen. Ein paar Monate später hatten wir dann einen Kabelbrand im Armaturenbrett. Von da an fuhren wir stets mit Abblendlicht und der Motor ließ sich nicht mehr ausschalten. Hieß im Klartext: Die Verriegelung der Motorraumklappe lösen (das ging sogar noch), rüberrücken auf die Beifahrerseite, Fenster runterkurbeln, die Tür öffnen, Fenster wieder hochkurbeln, Motorraumklappe öffnen und dann mit einem Engländer – den hatten wir schon im Motorraum positioniert - die Batterie abklemmen. Glücklicherweise kamen wir mit diesem Fahrzeug nie in eine Polizeikontrolle: „Steigen Sie doch mal bitte aus“. Im Nachhinein hätte ich es mir sogar fast gewünscht ...