Читать книгу Das Tor zur Welt - Peter Weissenbach - Страница 8

Das Paradies bekommt einen Riss

Оглавление

Ein Zeuge Jehovas kann und darf sich nicht einfach aussuchen, in welche der Versammlungen er gehen möchte. Ausnahmen müssen erst befürwortet werden. In der ersten Versammlung fühlte ich mich nicht so richtig wohl – die Versammlung war vollständig überaltert. Also wechselte ich in eine andere, wo auch ein paar Zeugen ebenfalls an der Uni studierten. Ich bemerkte, dass die Glaubensbrüder dort insgesamt aufgeschlossener und freier waren als andernorts, also blieb ich. Befürwortung hin oder her.

Das Leben als Zeuge Jehovas ist ziemlich stressig. Dreimal pro Woche soll man in eine Versammlung gehen, dann am Wochenende sich am Predigtdienst beteiligen und dies auch noch möglichst ein- oder zweimal innerhalb der Woche durchführen. Jede Stunde muss genau notiert werden und wird dann am Monatsende abgegeben. Ach ja, ich vergaß das „persönliche Studium“: In den Versammlungen werden vorgegebene Wachtturm-Artikel durchgenommen: Absatz für Absatz mit vorgegebenen Fragen, die die Versammlung zu beantworten hatte. Das muss – selbstverständlich – auch noch vorbereitet werden. Viel Zeit für ein Privatleben bleibt da nicht.

Die Wachtturm-Studien begannen nach einiger Zeit mich zu langweilen. Es hatte mich dabei schon immer ein wenig gestört, dass in vielen Wachtturm-Artikeln immer auf die eigene heroische Geschichte der Zeugen Jehovas Bezug genommen wird. Stets wurde im Artikel klar gemacht, dass irgendeine Posaune aus der Offenbarung in Wahrheit eine Rede von DemUndDem auf DemUndDem Weltkongress gewesen sei – man könne hierin vortrefflich erkennen, wie sich die Offenbarung an den Zeugen Jehovas – und natürlich nur an ihnen - erfülle. Einmal war ich fast geneigt zu fragen, ob der Pupser des Redners während seines Vortrages vielleicht die fünfte Posaune darstellen könne, ... gemacht hab' ich's nicht. Eigentlich schade.

Viel entsetzter war ich, als immer mehr Freiheiten eingegrenzt wurden: nunmehr durfte die Musikbegleitung in den Versammlungen nicht mehr von eigenen Musikern gespielt werden, sondern kam von der Schallplatte. Der Grund: irgendwo auf der Welt hatte wohl jemand ein wenig zuviel musikalisch experimentiert, das muss man schließlich unterbinden!

Aber auch das schluckte ich, brav, wie ich war.

Ich erinnere mich an einen Zeugen – er spielte leidenschaftlich gerne Bassgitarre -, der sich deswegen bei mir beklagte und meinte, wir wären gar keine Neue-Welt-Gesellschaft im eigentlichen Sinne: wir hätten keine Kindergärten, keine Schulen, keine Krankenhäuser, jetzt nicht einmal mehr Musik. Ich gab ihm Recht. Und hab' wieder geschluckt.

Zum Studienbeginn bemühte ich mich um eine ehrenamtliche Stelle im Katastrophenschutz. Der Grund dafür lag darin, dass Zeugen Jehovas weder Militärdienst noch Zivildienst ableisten, aus Gründen der Neutralität. Ich erhielt eine solche Stelle beim Deutschen Roten Kreuz. Nach der Ausbildung als Sanitäter bestand meine Aufgabe darin, bei Opern- und Theatervorstellungen als Sanitäter anwesend zu sein. Beide Veranstaltungsorte lag in unmittelbarer Nähe meiner Wohnung und diese Aufgabe machte mir sehr viel Spaß. Der Höhepunkt war ein Konzert mit der Violinistin Anne-Marie Mutter – sie hatte sich kurz vor dem Konzert in die Hand geschnitten, ich wurde dazugeholt um - fachmännisch - ein Pflaster draufzukleben. Das war nett!

Eines Abends klingelte ein Glaubensbruder bei mir – er sah ziemlich fertig aus und bat um ein dringliches Gespräch. Auch er war im Katastrophenschutz tätig. Er erzählte mir, dass die Gesellschaft der Zeugen Jehovas beabsichtige, diese Art von Tätigkeit zu untersagen. Es würde jedem Glaubensbruder auferlegt, diese Angelegenheit binnen 6 Monaten zu regeln, ansonsten drohe der Ausschluss aus der Gemeinschaft.

Ich war geschockt. Warum? Die Mitarbeit im Katastrophenschutz steht schließlich unter den Genfer Konventionen, welche die politische Neutralität garantieren. Warum sollte dies dann gegen die Neutralität der Zeugen verstoßen?

Ich konnte mir darauf keinen Reim machen, vergrub mich für eine Woche in der Universitätsbibliothek der Juristischen Fakultät und studierte intensiv die Genfer Konventionen, inklusive den zahllosen Kommentaren hierzu. Ich konnte beim besten Willen nichts erkennen, was meine Neutralität in Frage stellen könnte, ganz im Gegenteil! Mit den Gesetzestexten und Kommentaren bewaffnet, ging ich auf die Ältestenschaft meiner Versammlung zu, legte ihnen die Unterlagen und meine Schlussfolgerungen vor und stieß, erwartungsgemäß, auf offene Ohren. Keiner konnte sich vorstellen, warum die Neutralität gefährdet sein sollte. Sie wollten mit mir zusammen und einem Kreisaufseher – dieser wird von der Gesellschaft der Zeugen regelmäßig in die einzelnen Versammlungen geschickt – besprechen. Ich war sehr ermutigt. Und – noch immer - grenzenlos naiv.

Etwa 14 Tage später erhielt ich dann die gewünschte Einladung mit dem Kreisaufseher und der Ältestenschaft meiner Versammlung, nahm zu dem Termin wiederum alle Unterlagen mit. Was dann passierte, war schlichtweg unglaublich: anstelle einer Diskussion stellte sich der Kreisaufseher vor mich auf und sagte, es gäbe hierüber keinerlei Diskussion. Die Gesellschaft der Zeugen hätte schon entschieden. Entweder ich verließe den Katastrophenschutz innerhalb von 6 Monaten oder es käme zu einem Ausschluss. Ich solle hier und jetzt, an Ort und Stelle, bekennen, dass ich den Katastrophenschutz verlassen werde, ansonsten wolle er mich sofort ausschließen. Er dulde keinen Widerspruch. Ich schaute die Ältestenschaft an: keine Reaktion. Nicht einmal der Versuch. Nur betretendes Schweigen. Niemand hat mich mit meinem Leben bedroht, nur damit, dass ich nicht in das verheißene Paradies käme und all meiner Freunde in der Gemeinschaft beraubt wäre.

Dann habe ich nachgegeben. Heldenhaft war dies sicher nicht.

Ich habe mein Entlassungschreiben der zuständigen Bearbeiterin beim DRK selbst vorbeigebracht. Wir kannten uns gut, da wir in der Vergangenheit gemeinsam eine ganze Reihe von Übungen für den Katastrophenschutz vorbereitet hatten. Sie konnte nicht glauben, was ich ihr vortrug, und dies war nicht viel: nur, dass ich den Katastrophenschutz wegen Neutralitätsverletzung verlassen müsse. Sie brachte die gleichen Argumente vor, wie ich sie der Ältestenschaft vortrug – ich konnte nichts darauf erwidern. Es war demütigend, dass ich ganz offenbar etwas entgegen meiner eigenen Überzeugung tat. Und dennoch ...

Dies war zweifellos der erste gravierende Einschnitt in meiner Einstellung zu den Zeugen, da war viel Vertrauen auf Schlag zerstört worden. Dennoch war der Glaube noch immer so groß, dass ich klein beigab, nur um nicht ausgeschlossen zu werden, nicht weil ich von der Richtigkeit überzeugt gewesen wäre.

Nach meinem Ausscheiden aus dem Katastrophenschutz musste ich befürchten, mein Studium aufgeben zu müssen: es drohte die unmittelbare Einberufung zum Zivildienst, den ich auch nicht machen konnte. Damit musste ich befürchten, ein Verfahren wegen Fahnenflucht mit sechs Monate Gefängnis zu bekommen mit der Konsequenz, als Vorbestrafter mein Studium nicht mehr weiterführen zu können. Ich war in entsetzlichen Schwierigkeiten und schrieb einen verzweifelten Brief an das Bundesamt für den Zivildienst. Ich erklärte meine Situation und bat darum, mein Studium beenden zu dürfen. Jemand musste meine Not dort verstanden haben und es wurde vereinbart, die Angelegenheit auf die Zeit nach meinem Studium zu klären. Die größte Bedrohung war zunächst abgewendet! Auch hier kann ich nur sagen, dass ich unglaubliches Glück gehabt habe – meine gesamte Existenz hätte zerstört werden können. Wegen Nichts! Es war nicht mein Verdienst, dass diese Angelegenheit so glimpflich ausgegangen ist, und ich sollte in den folgenden Jahren diese Erfahrung noch des Öfteren machen.

Im Rückblick darauf kann ich nur feststellen, dass es mir in jenen Jahren noch deutlich an Persönlichkeit und Standhaftigkeit gefehlt hat. Zu anderen Zeiten – und das ist eine sehr bittere Erkenntnis – hätte man "wer-weiß-was" aus mir machen können. Bei manchen Diskussionen um die Mitwirkung herausgestellter Persönlichkeiten im Dritten Reich obliegt mir sicher kein Urteil mehr.

Das Tor zur Welt

Подняться наверх