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Julian von Toledo, 688 n. Chr.

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Im Jahr 688 saßen der Erzbischof Julian von Toledo, der Hauptstadt des Westgotischen Reiches, und der Bischof Idalius von Barcelona still in einer Bibliothek und lasen. Idalius war ein kranker Mann; die Gicht plagte ihn sehr. Da Toledo in diesen Tagen weitgehend menschenleer war und Ruhe über der Stadt lag – der König und sein Heer waren zu ihrer Frühjahrskampagne aufgebrochen –, hatte Julian sich daran begeben, aus der Fülle seiner Bibliothek eine Anthologie großer Autoren der lateinischen Kirche zusammenzustellen, mit der er seinem todkranken Freund ein wenig Trost spenden wollte.

Julian nannte seine Textsammlung ein Prognosticon futuri saeculi – also eine »medizinische Vorhersage der künftigen Welt«.1 Durch seine Wortwahl macht er deutlich, dass er dabei an eine medizinische Prognose denkt: Seine Sammlung soll die Gewissheit einer ärztlichen Diagnose bieten. Die darin versammelten Texte präsentieren das zukünftige Schicksal der menschlichen Seele, Schritt für Schritt, vom Zeitpunkt des Todes über ein körperloses Nachleben bis schließlich zur glorreichen Erneuerung der gesamten Schöpfung am Tag der Auferstehung und des Jüngsten Gerichts.

Im Mittelalter entwickelte sich Julians Anthologie zu einem wahren Bestseller.2 Das überrascht nicht, denn das Prognosticon bot seinen Lesern etwas, was Claude Carozzi, Julians bester Interpret, als ein ganzes »Universum von Gewissheiten« über den Tod und das Schicksal der Seele nach dem Tod bezeichnet hat.3 Das Prognosticon nahm für sich das Gewicht von über vier Jahrhunderten christlicher Jenseitsreflexion in Anspruch. Der Erzbischof hatte sich durch die Bestände seiner umfangreichen Bibliothek gearbeitet und Textauszüge zu den Themen Tod und Jenseits angefertigt, wo immer er bei einem christlichen Autor auf diese Themen traf: vom großen Bischof Cyprian von Karthago um die Mitte des 3. Jahrhunderts angefangen bis hin zu Papst Gregor dem Großen am Ende des 6. Jahrhunderts. Schon Julians Anthologie umspannt also beinahe die vier Jahrhunderte, die auch wir in den Blick nehmen wollen.

Das Prognosticon ist deshalb so wertvoll, weil es nicht weniger bietet als ein Panorama christlicher Jenseitsvorstellungen, wie sie am äußersten Ende der christlichen Antike – bereits an der Schwelle zum Mittelalter – verbreitet waren. Natürlich ahnte Julian nicht, dass er am Ende einer Epoche lebte. Nur eine Generation später sollte das Westgotenreich von arabischen Invasoren aus dem Osten hinweggefegt werden und Toledo über viele Jahrhunderte eine muslimische Stadt werden.

Doch es ist nicht allein der schmerzliche Eindruck einer »Endzeit«, der Julians Prognosticon auszeichnet. Was ich nämlich bei meiner ersten Lektüre nicht erkannt hatte, war, dass das Prognosticon noch weit mehr zu bieten hat als eine unschätzbare Sammlung christlicher Jenseitsvorstellungen zur Zeit Julians. Es bietet dem Leser eine Möglichkeit, die uns Historikern nur selten vergönnt ist: gleichsam über die Schulter eines antiken Autors mitlesen zu können, während dieser Schriften liest, die wir selbst auch schon studiert haben. Wie dachte Julian über die frühchristlichen Werke, aus denen er exzerpierte? Inwiefern unterschied sich das, was er in diesen Texten erblickte, von deren heutigem Verständnis in der historischen Erforschung der frühen Kirche?

Freilich spiegelt dieser geschichtswissenschaftliche Zugang eine moderne Methodik.

Julian war sich seines großen zeitlichen Abstands zu den früheren der von ihm kopierten Texte kaum bewusst. Vielmehr war er überzeugt, dass die Anthologie, die er für seinen Freund Idalius zusammengestellt hatte, den Ausdruck einer zeitlosen und ungebrochenen Tradition darstellte. Jedem Aspekt des Jenseits, den er betrachtete, ordnete er Textauszüge aus den verschiedensten Epochen zu. Es kam ihm offenbar überhaupt nicht in den Sinn, dass jene Auszüge die diversen »Christentümer« ganz unterschiedlicher Zeitalter repräsentieren mochten. Und warum hätte er das auch denken sollen? Er war kein moderner Kirchenhistoriker oder Religionswissenschaftler. Er hatte ein dringendes Anliegen. Er war ein christlicher Bischof, der ein Handbuch zusammenstellte – fast schon ein wissenschaftliches Lehrbuch –, durch dessen ewige Wahrheiten er einem Freund das Sterben leichter machen wollte.

Doch sobald heutige Historiker die von Julian herausgeschriebenen Stellen in die chronologische Folge ihrer Entstehung bringen, wird klar, dass wir es jeweils mit ganz verschiedenen christlichen Epochen zu tun haben. Jede dieser Epochen war von einem anderen Weltbild geprägt. Als Historiker hätten wir Julian mitteilen können, dass ihm, wenn er etliche der frühchristlichen Autoren, die er in seiner Anthologie zitiert, persönlich getroffen hätte, diese wohl – trotz aller christlichen Gemeinsamkeit – wie fremdartige, geradezu vorsintflutliche Kreaturen vorgekommen wären, deren Lebenswelt sich von seiner eigenen scharf unterschied; und jene frühchristlichen Autoren hätten über Julian wohl ganz ähnlich gedacht.

Wir sollten uns deshalb zunächst solche Auszüge aus dem Prognosticon ansehen, in denen Julian die frühesten christlichen Autoren zitiert, die ihm bekannt waren. Wir werden sehen, was er in ihnen sah. Wir werden auch sehen, was er über sie nicht wusste, obgleich es uns heute geläufig ist: der präzise historische Kontext der zitierten Schriften und die verschiedenen Weltbilder, die sich in ihnen jeweils ausdrücken.

Der Preis des ewigen Lebens

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