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Seelen im Wartestand

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Hinter der christlichen Überhöhung der Märtyrer stand eine Vorstellung vom Jenseits, die auch Julian im Toledo des 7. Jahrhunderts – wenn er sie in allen ihren Konsequenzen nachvollzogen hätte, wie es ein heutiger Religionswissenschaftler tun muss – als Botschaft aus einer ganz und gar fremdartigen Welt erschienen wären. Stattdessen schienen Cyprians klangvolle Wendungen Julian Ausdruck einer ungebrochenen christlichen Tradition. Aber in Wahrheit gehörte Cyprian einer ganz anderen Welt an, einer Welt mit ganz anderen Vorstellungen von der Beschaffenheit der Seele und dem Jenseits.

Das wird deutlich, wenn wir uns noch einmal fünfzig Jahre zurückbewegen, ganz an den Anfang des 3. Jahrhunderts n. Chr. Dort treffen wir auf den unermüdlichen Verfasser christlicher Schriften Tertullian von Karthago (um 160 bis um 240). Cyprian bildete in Julians Wahrnehmung der frühen Kirche den äußersten Horizont. Und während Julian sich aus den Schriften Cyprians reichlich bediente, kommt Tertullian in seinem Prognosticon überhaupt nicht vor. Im 7. Jahrhundert konnte man Tertullian höchstens im dunklen Hintergrund dessen finden, was Julian als orthodoxen Katholizismus kannte, denn er war als Häretiker verdammt worden. Zur Zeit Cyprians war das jedoch noch nicht der Fall gewesen, ja die umfangreichen und mit gründlichen Argumentationen versehenen Werke Tertullians beeinflussten die lateinische Christenheit noch für einige Generationen über die Zeit Cyprians hinaus. Cyprian selbst bezeichnet Tertullian als »den Meister«.

Für Tertullian handelte es sich bei der durchschnittlichen Seele um ein überraschend zahmes Ding. Auf die schwachen Seelen der großen Masse kam es ihm – wie auch Cyprian – kaum an; interessanter waren die der Märtyrer. Aber das war nicht alles. Der weitere Weg der Einzelseele nach dem Tod war für Tertullian völlig unerheblich, wurde doch – nach seiner Ansicht – ein solches Nachleben ganz und gar in den Schatten gestellt von der umfassenden Verwandlung aller Dinge, die mit der christlichen Auferstehungslehre in Aussicht gestellt war. Man glaubte damals, jene mächtige Verwandlung stehe unmittelbar bevor. Tertullian stellte sie sich so majestätisch, so radikal, so umfassend vor, dass der Zeitraum zwischen dem Tod und der Auferstehung der Toten dagegen kurz und bedeutungslos erschien.

Diese Sichtweise Tertullians sollte indes nicht mit der Tradition eines christlichen »Mortalismus« verwechselt werden, der sich in manchen Kreisen bis heute gehalten hat. Glaubt man dieser Lehre vom »Seelenschlaf«, so ist die Seele des Verstorbenen gewissermaßen bewusstlos – so gut wie tot –, bis sie bei der Auferstehung der Toten am Tag des Jüngsten Gerichts erweckt wird. Nach Tertullians Auffassung jedoch wurden die Seelen der Verstorbenen nie ganz bewusstlos, sondern erlebten vielmehr eine zeitweilige »Aussetzung« ihrer bisherigen Existenz, während sie darauf warteten, dass der nächste große Akt des göttlichen Heilsdramas anbräche und nach dem Jüngsten Gericht, bei der Erweckung der Toten, ihnen Gottes Herrlichkeit zuteilwürde.14 Kurz gesagt, ließ für Tertullian (und für viele seiner Zeitgenossen) der Gedanke an die »große Zukunft« des allgemeinen Heilsgeschehens – mit dem Jüngsten Gericht und der Auferstehung der Toten – keinen Raum für den Gedanken an die »kleine Zukunft« der Einzelseele nach dem Tod.

Diese Einstellung war unter den Christen des späten 2. und frühen 3. Jahrhunderts weit verbreitet. Sie versperrte gewissermaßen die Sicht auf bestimmte Vorstellungsoptionen, wenn diese Christen über den Tod nachdachten. Die offensichtlichste und hartnäckigste dieser Imaginationsblockaden äußert sich in der christlichen Leugnung einer aus sich heraus unsterblichen Seele. Viele christliche Denker waren der Ansicht, wer die Seele als grundsätzlich unsterblich bezeichne, gestehe ihr eine zu große Autonomie zu. Keine Seele gelange allein deshalb direkt in den Himmel, weil sie eine Seele sei, wie es – so die herrschende Auffassung – die heidnischen Philosophen behauptet hatten. Stattdessen bestanden die christlichen Apologeten entgegen den Ansichten ihrer nichtchristlichen Kontrahenten darauf, dass die bloße Existenz der Seele ganz allein von Gottes Willen abhänge. Ihre Belohnung werde sie dereinst aus Gottes machtvoller Hand erhalten – und zwar genau dann, wenn Gott es gefiel. Christen, hieß das auch, starben für die Auferstehung der Toten, nicht für die Unsterblichkeit ihrer Seelen.

Hier sind wir auf einem völlig fremdartigen Territorium angelangt, das Julian von Toledo nur mit Mühe als christlich würde erkannt haben. Aber die Tatsache bleibt bestehen, dass die lateinischen Christen zur Zeit Tertullians gerade nicht zu dem Glauben ermutigt wurden, ihre körperlosen Seelen würden nach dem Tod unverzüglich in den Himmel gelangen (wie es die meisten Christen heute glauben), ganz im Gegenteil: Die führenden heidnischen Autoritäten der Zeit setzten den Aufstieg der Seele in den Himmel als selbstverständlich voraus. Sie glaubten, dass die Seelen großer Männer (sowie jene ihrer Nächsten wie Eltern, Frauen und Kinder) sogleich nach dem Tod zu den Sternen aufsteigen würden. Wie züngelnde Flammen würden sie an ihren ursprünglichen Wohnsitz zwischen den funkelnden Sternen und Sternhaufen der Milchstraße zurückkehren. Wer sich im Leben durch eine hohe Seele ausgezeichnet hatte, so glaubte man, würde nach seinem Tod ohne Umschweife auf solche Höhen gelangen.15 Was die Frage der Unsterblichkeit der Seele betraf, waren Tertullians Zeitgenossen wahre Außenseiter unter den christlichen Theologen.

Tertullian (und viele andere führende Christen seiner Zeit) hielten den Glauben an die Unsterblichkeit der Seele nicht nur für überheblich, sondern für belanglos. Die allgemeine Auferweckung der Toten bildete das Gravitationszentrum ihres Denkens. In aller Schärfe wiesen sie darauf hin, dass es für die Seele keineswegs ausreichend sei, ihrem Körper zu entfliehen. Anstatt direkt in den Himmel aufzusteigen, nähmen die christlichen Seele gewissermaßen eine Auszeit: Sie warteten auf etwas Besseres – auf die große Zukunft ihrer Auferstehung. Gott werde nicht weniger tun als das gesamte Universum neu schaffen und das allein zu ihren Gunsten. In einer Geste höchster Macht werde Gott – was sowohl den menschlichen Verstand als auch die besten Erkenntnisse der antiken Naturwissenschaft herausforderte – jeden einzelnen menschlichen Körper neu erschaffen, indem er Leib und Seele eine unvorstellbar herrliche »Verwebung« (texturam) geben wolle.16 Erst dann werde die große Zukunft eingetreten sein. Die Wiederherstellung der ganzen Schöpfung, aller gesellschaftlichen Lebenszusammenhänge und jedes einzelnen menschlichen Körpers galt diesen Christen für weitaus großartiger als jeder noch so himmlische Flug einer einzelnen Seele zu den Sternen. Gegenüber ihren heidnischen Kontrahenten bestanden christliche Wortführer wie Tertullian wie besessen auf einer größeren – viel größeren – Sache, als es die bloße Unsterblichkeit der Seele war.

Bei Tertullian gibt es im Jenseits also so etwas wie ein Zeitgefühl – und das ist eine Vorstellung, die Julian und seinen Zeitgenossen völlig fremd gewesen wäre: das Jenseits als eine Welt voller Seelen, die warten. Denn jene mächtige Verwandlung, in der die Leiber und Seelen der Verstorbenen wieder vereint werden sollten und bei der die müde Erde selbst zum Paradies werden würde, sie war es doch wert, dass man auf sie wartete! In der Tradition, die Tertullian vertrat und die nach ihm noch über viele Generationen Bestand hatte, setzte man ganz selbstverständlich voraus, dass Christenseelen erst einmal warten mussten, bevor sie mit ihrem Körper wiedervereinigt werden konnten. Erst dann würden sie, wie man glaubte, an Gottes neuer Schöpfung vollen Gefallen finden. Allein die Seelen der Märtyrer entgingen der Wartezeit im Zwielicht. Sie gelangten ohne Umwege ins Paradies, denn sie waren ja bereits »Freunde Gottes« (amici Dei) geworden. Sie durften in das gleißende Innerste von Gottes Palast eintreten. Sie wurden in seine Gegenwart »aufgenommen«. Sie wurden von Christus selbst, ihrem Kaiser, umarmt und geküsst, genau wie privilegierte Personen auf Erden vom Kaiser umarmt und geküsst wurden.17

Allerdings stellten die Märtyrer eine absolute Elite dar. Andere Seelen (selbst die Seelen der Gerechten) mussten sich mit einer kleinen Zukunft zufriedengeben, zu der eben auch eine gewisse Zeit des Wartens gehörte. Diese Wartezeit war jedoch keineswegs trostlos. Man stellte sie sich als eine Art Rast vor, bei der die Seelen sich an einem schattigen und geborgenen Plätzchen ausruhen konnten. Der Gedanke an Ruhe und Erfrischung (refrigerium) bildete das Zentrum, um das sich in dieser Sicht des Jenseits alles drehte. In christlichen Glaubenszeugnissen und auch in der Kunst wurde der Vorstellung von einer Erfrischung der Seelen durch Bilder Ausdruck verliehen, die den Menschen des antiken Mittelmeer- und Nahostraums schon immer viel bedeutet hatten. Gute Seelen wurden durch etwas erquickt, das Tertullian ein refrigerium interim nennt, eine erfrischende Zeit der Einkehr, eine »Verschnaufpause« in der anderen Welt, so wohltuend, wie wenn man mit guten Freunden unter schattigen Bäumen rastet, um kühles Wasser und köstliche Speisen miteinander zu teilen.

Vergessen wir nicht, dass in einer Gesellschaft, in der Freizeit und Muße (otium) als Privileg der Elite ein hoher Stellenwert zukam, solch ein Warten überhaupt nichts Anrüchiges oder Widriges war. Die Seelen der Gerechten freuten sich an dieser Muße – einer schier nicht enden wollenden Muße, wie sie den Denkern der Antike als die Conditio sine qua non alles kreativen Schaffens gegolten hatte. Während dieser Zeit konnten sie sich daranmachen, die ganze Ungeheuerlichkeit jener Veränderung zu begreifen, die ihnen noch bevorstand – in der großen Zukunft der Auferstehung. Selbst die größten Seelen brauchten eine Weile, um sich »in Gottes Gegenwart zu akklimatisieren«.18

Mehr verlangten sie auch gar nicht. Uns modernen Menschen kommt diese Vorstellung des Jenseits merkwürdig unvollständig vor – und Julian von Toledo sah das ganz ähnlich. Tatsächlich war Julian, vergleicht man ihn mit noch früheren Christen, fast selbst schon ein moderner Mensch. Aber das liegt daran, dass die Ansichten, die Tertullian im 3. Jahrhundert mit solchem Eifer vertreten hatte, schon manchen seiner Zeitgenossen reichlich altmodisch erschienen waren. Schon damals hatte sich in christlichen Kreisen eine hochgespannte, platonische Vorstellung von der Seele als einer rein geistigen Wesenheit auszubreiten begonnen – einer Seele, die geradezu ein Anrecht darauf besitze, ohne Aufschub zu der beseligenden Schau Gottes zu gelangen. Und das ging natürlich zulasten der älteren Vorstellung, der zufolge die Seelen eine gewisse Wartezeit zu absolvieren hatten. Nach dem neueren Verständnis war der Himmel das wahre »Vaterland« der Seele. Der Gedanke, dass die Seelen guter Christenmenschen nach deren Tod nicht unverzüglich in den Himmel gelangen sollten, grenzte in den Augen späterer Christen an eine Negierung des Christentums überhaupt.19

Wie wir heute wissen, hat sich in der lateinischen Christenheit die Auffassung durchgesetzt, die Seele gelange unmittelbar nach dem Tod in den Himmel. Dieser Triumph der einen Vorstellung über die anderen hat eine Art gläserne Wand errichtet, die zwischen uns und jenen inbrünstigen Erwartungen steht, wie sie die Christen noch früherer Zeiten gehegt haben: Wir mögen diese Wand zwar auf den ersten Blick nicht bemerken; aber wenn wir genau hinsehen, ist sie doch da. Der Gedanke, dass allen, restlos allen Seelen nach dem Tod erst einmal eine »Auszeit« bevorstehe – dass sie abzuwarten hätten, bis Gott seine gewaltige Verwandlung des gesamten Universums vollbracht haben würde –, ist in den westlichen Kirchen verloren gegangen. Schon einem Christen des 7. Jahrhunderts, wie Julian von Toledo einer war, wäre er wie der Ausdruck einer fremden Welt erschienen.

Der Preis des ewigen Lebens

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