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In der Grauzone oder das Lösegeld der Seele

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Diese große Gesamtentwicklung ist in zahlreichen hervorragenden Darstellungen zur christlichen Eschatologie nachgezeichnet worden, auf die ich bei der Arbeit an diesem Buch immer wieder dankbar zurückgegriffen habe.24 Meine Absicht ist es nun, die Entwicklungen, die in jenen Büchern beschrieben werden, vor dem Hintergrund einer Gesellschaft im Wandel zu skizzieren. Wie ich in meinem Vorwort bereits ausgeführt habe, wird es in diesem Buch um das »Warum« (und nicht um das »Was«) der betreffenden Entwicklungen gehen. Ich kann mich nicht damit begnügen, den inhaltlichen Wandel christlicher Jenseitsvorstellungen nachzuerzählen, sondern werde stattdessen festzustellen suchen, warum bestimmte Ansichten und Praktiken aufkamen und warum manche rasch weite Verbreitung fanden, während andere – je nach Ort und Situation verschieden – heftige Debatten, ja sogar Widerstand auslösten. Einem solchen jahrhundertelangen Wandlungsprozess können wir letztlich nur gerecht werden, indem wir die beiden unzertrennlichen Seiten des Christentums – die religiöse und die soziale – zusammen betrachten. Im Zuge dieses Prozesses ging die genuin frühchristliche Vorstellung vom Jenseits (mit ihrer monumentalen Gleichförmigkeit) in eine fein ausdifferenzierte Erzählung von der je individuellen Reise unzähliger Einzelseelen auf. Die Details dieser Erzählung hat Julian von Toledo für seinen kranken Freund zusammengestellt, indem er im Jahr 688 seine Bibliothek durchforstete.

Wir wollen diese Einleitung nun abschließen, indem wir einem Grundmotiv nachgehen, das in den diversen Kirchen im Laufe der Zeit verschiedene Ausprägungen gefunden und damit einen besonders gut »sichtbaren« Wandel angestoßen hat. Dabei geht es um einen einzigen Punkt: Was konnten die Lebenden für die Toten tun und welche sozialen Auswirkungen hatten ihre Bemühungen?

Diese Frage ist so grundlegend, dass wir sie häufig zu stellen vergessen. Meine These dazu wäre, dass es im Wesen christlicher Jenseitsdarstellungen stets irgendetwas gegeben hat, was die Lebenden und die Toten zueinander zog. Genauer gesagt, war da die untergründige Ahnung, dass sowohl die Lebenden als auch die Toten – in einem gewissen Sinne – unbestimmte, unvollständige Wesen bleiben mussten. Von beiden Seiten – den Lebenden wie den Toten – nahm man an, dass sie ihr jeweiliges Gegenstück auf irgendeine Weise brauchten. Und insbesondere brauchten die Toten die Lebenden. Das lässt sich auf die eine oder andere Art von beinah jeder Religion des antiken Mittelmeerraumes behaupten. Im Fall des Christentums fasste man diese Abhängigkeitsbeziehung zwischen den Lebenden und den Toten schließlich – und mit großem Nachdruck – als Zusammenhang von Sünde und Fürbitte auf. Viele Verstorbene (Heilige natürlich ausgenommen) galten als unvollkommene Wesen, denn sie hatten gesündigt. Die Lebenden konnten, wie man glaubte, den Toten gerade deshalb behilflich sein, weil sie deren fundamentale Unvollkommenheit teilten. Im Laufe der Zeit aber führte man diese Unvollkommenheit zunehmend auf die Sünde zurück. Es war diese Auffassung von einer geteilten Unvollkommenheit, die dem Fürbittgedanken in den Christengemeinden jener Zeit seine große imaginative Kraft verlieh.

Dasselbe gilt mutatis mutandis von jeder Entwicklungsstufe des christlichen Glaubens zwischen den Tagen Cyprians und der Zeit Julians von Toledo. Tatsächlich muss uns, wenn wir die verschiedenen christlichen Jenseitsvorstellungen der jeweiligen Epochen vergleichen, eine große Gemeinsamkeit auffallen: Im großen Gesamtkonzept des Jenseits gab es immer eine »Grauzone«.

Das gilt selbst in der schwarz-weißen Vorstellungswelt Tertullians. Irgendwo zwischen dem strahlenden Weiß der Märtyrer und dem finsteren Schwarz der »gottlosen«, nichtchristlichen Mehrheit – Unpersonen eigentlich, denen sowieso die Hölle drohte und über deren Schicksal christliche Autoren im Zeitalter der Märtyrer nur wenig Tinte und noch weniger Tränen vergossen –, irgendwo zwischen diesen beiden Polen lag die große, stille Zahl der christlichen Seelen im interim: Wartende, die das refrigerium der anderen Welt genossen. Diese wartenden Seelen im tertullianischen Jenseitsmodell kann man, streng genommen, kaum als »Sünder« bezeichnen; aber sie waren doch unvollkommen. Sie litten nicht. Sie hofften auch nicht auf eine »Beförderung« in einen höheren, besseren Zustand (wie etwa die katholischen Seelen späterer Zeit darauf hoffen konnten, früher oder später aus dem Fegefeuer entlassen zu werden). Nein, für sie würde diese Beförderung schon zur rechten Zeit geschehen: bei der Auferweckung aller Toten. Dennoch zeichnete diese Seelen eine gewisse Unfertigkeit aus, ein strebendes Bemühen, das sie den Lebenden stärker annäherte als den glorreichen Märtyrern, die bereits sicher im Paradies weilten. Tertullian, der durchaus kein Schwärmer war, fand überhaupt nichts Seltsames daran, wenn ein Witwer einmal im Jahr bei der Eucharistie Opfergaben für die Seele seiner verstorbenen Frau darbrachte. Sie mochte zwar keine arge Sünderin gewesen sein. Aber sie befand sich doch immer noch in jenem »Wartezimmer« des Jenseits und in diesem Sinne war sie ihrem früheren Ehemann (der ja noch lebte) näher als jenen so überwältigend vollkommenen, unbeugsamen Märtyrern (die ja ebenfalls schon tot waren).

In späteren Jahrhunderten dehnte sich die dämmrige Grauzone zwischen dem Gleißen der Heiligen und der undurchdringlichen Finsternis der Gottlosen immer weiter aus. Schon bald glich sie einer ganzen Welt im Kleinen, einer »anderen Welt«, die von den Seelen der Durchschnittschristen bewohnt wurde – von den Nachzüglern des großen Seelenmarathons (um dieses Bild noch einmal aufzugreifen), die weder große Heilige noch schwere Sünder waren. Die Seelen in dieser mittleren Kategorie machten den größten Teil der Kirche aus. Sie waren die Seelen unheroischer »Alltagschristen« in einer Reichskirche, die zwar keine strahlend einmaligen Märtyrer mehr hervorbrachte, dafür aber reichlich Raum für Sünder bot.

Lateinische Schriftsteller, die Julian von Toledo zeitlich näherstanden als Tertullian und Cyprian, widmeten sich der dämmrigen Zwischenwelt, in der durchschnittliche Christenseelen das Jenseits bevölkerten, mit immer größerer Aufmerksamkeit. Unter ihnen ragt Papst Gregor der Große (590–604) heraus, in dessen Werken Julian von Toledo viele brauchbare Textpassagen finden sollte. Gregor war überzeugt davon, dass Christen das düstere Land jenseits des Grabes durch Träume und Visionen zumindest in groben Zügen kennenlernen konnten. Ihm war, als ob das Jenseits bereits in einem weichen Dämmerlicht dalag, dass das Morgengrauen des Jüngsten Tages vorauswarf. Gregor nahm viele solcher Jenseitsvisionen in seine berühmten Dialoge auf, die 594 in Umlauf kamen. Er tat dies, weil er durchschnittliche Gläubige davor warnen wollte, was ihnen nach dem Tod bevorstand. Und er tat es auch, weil er jene christlichen Glaubenspraktiken wärmstens empfehlen wollte, die für die Seelen der Verstorbenen womöglich den Ausschlag für Himmel und Hölle geben konnten: das Fürbittgebet, vor allem aber die Feier der Eucharistie.25 In der Grauzone des Jenseits, diese Vorstellung lag nah, konnten die Toten und die Lebenden zusammenkommen. Und die blanke Wand zwischen der Welt der Lebenden und der Welt der Toten konnte durchstoßen, ja beinahe durchlöchert werden durch bestimmte Handlungen, die die Lebenden vollzogen.

Die Vorstellung, die Lebenden könnten etwas für die Toten bewirken, gab den einzelnen Durchschnittsgläubigen ein dringend ersehntes Gefühl von Handlungsmacht im Angesicht des Todes. Zugleich ist es aber dieser Punkt – der alles entscheidende Kontaktpunkt von Lebenswelt und Jenseits –, an dem sich der stille Druck einer ganzen Gesellschaft erfahren lässt. In den folgenden Kapiteln werde ich die Wirkungsweise dieses Drucks noch genauer beleuchten. Mit der Zeit spielte in der Verbindung der Lebenden zu den Toten der Reichtum eine immer größere Rolle. Wir werden unsere Erzählung mit dem Blick in eine Zeit abschließen (beinahe schon zu Lebzeiten Julians von Toledo), in der es ein regelrechtes Wettrüsten unter den Frommen gab, die sich einander in ihrer Frömmigkeit geradezu überbieten wollten. Insbesondere die Reichen – und natürlich die Mitglieder jener stets sehr viel größeren Gruppe, die es den Reichen in allem gleichtun will – waren sehr darauf bedacht, ihre eigene Seele (und die ihrer lieben Verstorbenen) zu beschützen, zu umsorgen und schließlich heim in den Himmel zu geleiten.

Diese Entwicklung lässt sich bereits im späten 4. und im frühen 5. Jahrhundert beobachten. Sie wird etwa an der Sorge ersichtlich, mit der Reiche ihren verstorbenen Angehörigen ein privilegiertes Begräbnis in der Nähe eines Märtyrerschreins zu sichern suchten (und auf die in Kapitel 2 noch eingegangen wird). Im Verlauf des 5. und 6. Jahrhunderts wurden die Kirchen dann immer deutlicher zu Institutionen, in denen die reichsten Mitglieder der westlichen Christengemeinden ihre gesellschaftlichen Muskeln spielen lassen konnten. Das taten sie vor allem durch Spenden und fromme Stiftungen, die ihrer eigenen Seele und den Seelen ihrer Angehörigen zum Schutz dienen sollten. Doch auch aus der Hierarchie der Kirche heraus mühte sich eine beachtliche Reihe von Bischöfen und anderen christlichen Autoren, die Reichen zur Verantwortung zu ziehen, indem sie das Panorama eines Jenseits entwarfen, das mit der Zeit in immer grelleren und unheilvolleren Farben ausgemalt wurde (wie wir in den Kapiteln 4 und 5 noch sehen werden). Im Epilog schließlich gelangen wir bis in die Zeit Julians von Toledo zurück und die Landschaft Westeuropas ist übersät mit Begräbniskirchen und Klöstern, die ganz dem Gebet für die Seelen der Verstorbenen verpflichtet sind.

In den großen Klosterstiftungen des 7. Jahrhunderts erreichte das alte Bekenntnis zu der Bindung zwischen Lebenden und Toten ein Crescendo. Das Gedenken auch an weniger vollkommene Tote (Könige und Königinnen, Adlige und ihre Frauen, politische Bischöfe) wurde in Einrichtungen gepflegt, deren finanzielle Ausstattung mehr als üppig war. Solche Klöster – Mönchs- wie Nonnenklöster – sah man als »Gebetskraftwerke« für die Seelen der Verstorbenen. In Abteien, Konventen und großen Stiftskirchen lagen die privilegierten Toten – das heißt im Grunde: die sehr Reichen oder die sehr Heiligen – in Kapellen beigesetzt; über ihren Gräbern spielte das ewige Licht parfümierter Kerzen. Diese Lichter, die an den Grabstätten ohne Unterlass brannten, sollten bereits hier auf dieser dunklen Erde ein klein wenig von jenem endlosen Ruhmesglanz widerspiegeln, den die verstorbene Person (wie man hoffte) im Paradies genoss oder doch bald genießen sollte.26

So war es gekommen, dass Geld – oftmals das sprichwörtlich »große Geld« – in den Kirchen Westeuropas Einzug gehalten und seine Stimme erhoben hatte. Diese Entwicklung ließ sich in einer Formulierung aus dem Buch der Sprichwörter (13,8) zusammenfassen:

Redemptio animae viri divitiae eius.

Das Lösegeld für die Seele eines Mannes ist sein Reichtum.

Dieser Satz, den man der großen Weisheit König Salomos zurechnete, war unter den Vermögenden des 7. Jahrhunderts n. Chr. überaus populär.27 Wie bei so vielen Sinnsprüchen aus dem Alten Testament hatte sich jedoch die Auslegung des Verses mit der Zeit verändert. Für den blasierten Verfasser des Buches der Sprichwörter, der wohl im 3. Jahrhundert v. Chr. gelebt hatte, bedeutete jener Satz lediglich, dass ein Reicher sein Vermögen einsetzen konnte, um seine Haut zu retten – ein Armer aber nicht.

Bis zum Anbruch des Mittelalters hatte sich allerdings das Verständnis von anima – »Seele« – grundlegend gewandelt. Darunter stellte man sich nun nichts grundlegend Körperliches, Diesseitiges mehr vor, sondern vielmehr die einsame Christenseele, die zitternd und bebend zwischen Himmel und Hölle baumelte und zu ihrem Trost dringend darauf angewiesen war, dass die Lebenden ihr Gebete und Gaben darbrachten. Das war jedenfalls die Vorstellung des Bischofs Leodegar von Autun, die in seinem 675/676 aufgesetzten Testament zum Ausdruck kommt – nur vier Jahre später, im Jahr 679, sollte Leodegar brutal ermordet werden. In diesem Testament heißt es, Leodegar handele »eingedenk jener Warnung der Weisheit [Salomos]: Das Lösegeld für die Seele eines Mannes ist sein Reichtum.« Und weiter: »Aus Liebe zu Gott und zur Vergebung der Sünden« stifte Leodegar der Kirche Sankt Nazarius (der Kathedrale von Autun) ein ansehnliches Stück Land – immerhin vier Gutshöfe samt Ausstattung –, damit aus den Erträgen ein Armenhaus für vierzig Bewohner unterhalten werden könne, das am Tor zum Kathedralbezirk eingerichtet werden solle.28 Diese teure Stiftung stellte ein angemessen üppiges »Lösegeld« für die Seele eines mächtigen politischen Bischofs dar.

Vom Testament des Leodegar und ein paar anderen Beispielen einmal abgesehen, taucht die dramatische Formulierung vom »Lösegeld der Seele« in den Stiftungsurkunden jener Zeit überraschend selten auf. Fest etablieren sollte sie sich erst im Jahrhundert darauf.29 Der Grund dafür, dass ich sie hier dennoch in den Mittelpunkt meiner Betrachtungen gestellt habe, liegt in der unglaublichen Bildmacht der Pro-redemptione-Formel, der allerlei Konnotationen anhaften – vom Lösegeld für Gefangene bis hin zu jener ultimativen Auslösung der ganzen Menschheit durch das Opfer Christi. Die Formulierung von der redemptio animae unterstrich, dass es mit dem bloßen »Leben jenseits des Grabes« nicht getan war: Lösegelder mussten gezahlt werden. Kontakte wollten geknüpft und gepflegt sein, lebendige Kontakte zwischen den Lebenden und den Toten. Diese Kontakte ermöglichten es den Lebenden, auf die eine oder andere Weise für die Seelen der Verstorbenen einzutreten, um ihnen auch nach dem Tod noch nahe zu sein. Und der Glaube an das Bestehen solcher Kontakte ermöglichte es den Reichen, sich mit wachsender Prachtentfaltung für die Belange »ihrer« Toten einzusetzen.

Alles in allem war es das Vorhandensein immer größerer Reichtümer in den christlichen Kirchen, das dafür sorgte, dass die christlichen Jenseitsvorstellungen nicht luftige Spekulation blieben. Die ganze christliche Gesellschaft der Zeit fand sich unversehens in eine unermüdliche Debatte über das Verhältnis zwischen Geld und Grabesruhe verwickelt. Von Zeit zu Zeit bewirkte der großzügige Einsatz von Reichtümern als »Lösegeld der Seele« wahre Großtaten etwa in der Armensorge. Auch in Kunst und Architektur führte die Praxis zu spektakulären Ergebnissen: Man denke nur an die mächtigen Sarkophage aus milchweißem Marmor, die dicht an dicht die frühchristlichen Schreine umdrängten, damit die Toten so nah wie möglich an den dort bestatteten Heiligen zur Ruhe kommen mochten; oder an die schimmernden Goldmosaiken, die leuchtenden Grüntöne, die blutroten Mohnblüten und sternenübersäten Himmelsgewölbe, die einen Hauch des Paradieses selbst durch Grüfte wehen ließen, zumindest in den Begräbniskapellen und Mausoleen der Prominenz. Die Welt der Spätantike wäre um einiges an Schönheit ärmer gewesen, wenn die Menschen sich weniger Gedanken darüber gemacht hätten, wie sie an den Gräbern ihrer Verstorbenen eine Verbindung zwischen dieser Welt und der nächsten stiften konnten.

Zuweilen kam es natürlich vor, dass die Zurschaustellung von Reichtum in diesem Zusammenhang die Zeitgenossen verärgerte (wenn sie nämlich exzessiv oder in anderer Hinsicht unangebracht erschien). Solche neuen Formen der Prachtentfaltung sorgten dann für heftige Diskussionen darüber, wie mit Reichtum in der Gesellschaft überhaupt umzugehen sei – und insbesondere natürlich bei der Totensorge. Durch die Jahrhunderte blieb in diesen Diskussionen eine so grundlegende wie schwierige Frage lebendig: Wie – wenn überhaupt – konnten Himmel und Erde, die Lebenden und die Toten durch menschliches Handeln – und damit unweigerlich auch durch Geld – zusammengebracht werden?

Wir sollten die langfristigen Auswirkungen jener endlosen Debatten nicht unterschätzen. Ohne die beschriebenen »Grauzonen«, in denen zumindest die Möglichkeit aufschien, die Lebenden könnten das Schicksal der Seelen im Jenseits auf irgendeine Weise beeinflussen – und ohne den Reichtum, der die Begünstigteren unter den Lebenden in die Lage versetzte, die zarten Bande zwischen Lebenden und Toten konkret, sichtbar, ja bisweilen atemberaubend schön werden zu lassen –, hätte es schlicht weniger Anreize für die Christen des Westens gegeben, sich mit solch kühner Vorstellungskraft ganze Welten jenseits des Grabes auszumalen. Es hätte sich im lateinischen Westen durchaus auch eine ganz andere Konstellation von Jenseitsvorstellungen und -erwartungen durchsetzen können. Vielleicht hätte sie stärker der Ideenwelt des rabbinischen Judentums, des Islams oder vieler Gegenden des christlichen Orients geähnelt; in all diesen Fällen nämlich waren Spekulationen über den Aufenthalt der Seele im Jenseits – die »kleine Zukunft« der Seele – wesentlich weniger üblich als im lateinischen Westen, wodurch dort bestehende Vorstellungen vom Jüngsten Gericht und der allgemeinen Auferweckung ihre traditionelle Wucht und Dringlichkeit behielten.30 Tatsächlich jedoch waren bis in die Zeit Julians von Toledo die Jenseitsvorstellungen der Westkirche gegenüber den analogen Vorstellungen ihrer ostkirchlichen, jüdischen und muslimischen Nachbarn grundverschieden geworden. Wie hatte es dazu kommen können? Um das zu verstehen, müssen wir an den Anfang zurückkehren. Wenden wir uns also nun der Frage religiöser Stiftungen in den christlichen Kirchen und ihrem Verhältnis zum Totengedenken im 2. und 3. Jahrhundert n. Chr. zu.

Der Preis des ewigen Lebens

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