Читать книгу Das Vermächtnis von Holnis - Peter Graf - Страница 4
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ОглавлениеJesper Olsen ließ sich wie an jedem Abend eines erfolgreichen Tages behäbig in seinem Ledersessel nieder, vor sich ein Glas voller Portwein, nicht billiger Branntwein oder Rumverschnitt, sondern ein Portwein, für dessen Preis ein Handwerker einen Monat schuften musste. Für ihn der allabendliche Beweis, dass er es geschafft hatte. Er hätte sich mittlerweile viel Luxus leisten können, ein Wohlstand, der ihn vielleicht sogar in die Kreise wohlhabender Kaufleute hätte bringen können. Aber er verzichtete auf ein ansehnliches Haus, auf Dienstboten; selbst den Besitz von Pferd und Kutsche untersagte er sich. Hin und wieder leistete er sich eine Hure, für die er als Amtsarzt sicher nichts hätte bezahlen müssen. Aber er belohnte sie immer großzügig, womit er sich deren Schweigen erkaufte, mit niemandem über seine Vorlieben zu sprechen. Und er war froh darüber, dass sicherlich keines der Mädchen auch nur darüber nachdachte, sich ihm ein zweites Mal anzudienen, trotz des stolzen Betrages, den er bezahlte.
Er war vorsichtig, und Wohlstand musste erklärt sein. Seine Silbertaler und Reichsbanknoten wusste er sicher unter den Dielenbrettern auf dem Schlafboden verwahrt und waren ihm Beweis genug, dass er es zu etwas gebracht hatte. Dieser Tag war erfolgreich gewesen, unerwartet erfolgreich. Die Visitation der Brigg, die vor Holnis vor Anker gelegen und dort auf die Erlaubnis auf Einreise gewartet hatte, hatte ihm einen Geldbeutel eingebracht, der ungewöhnlich schwer war. Er und nur er hatte die Macht darüber zu entscheiden, ob ein Schiff den Hafen anlaufen durfte oder ob das Schiff für Tage oder sogar Wochen unter Quarantäne gestellt wurde und die Schiffseigener dadurch viel Geld verlieren konnten. Und es stand in seiner Macht dafür zu sorgen, dass die Matrosen noch lange in ihrem hölzernen Gefängnis schmoren mussten, den ersehnten Hafen in unmittelbarer Reichweite. Und diese von der langen Reise ausgezerrten Männer konnten in einer solchen Situation für jeden Kapitän zur Gefahr werden. Diese Möglichkeiten sorgten dafür, dass er einen ständigen Zufluss an Reichstalern hatte. Am heutigen Tag hatte es ihm gereicht, nur einen flüchtigen Blick in den Laderaum zu werfen und auf Fragen zu verzichten, um seiner Altersabsicherung ein gutes Stück näher zu kommen. So genoss er das abendliche Ritual, sich immer wieder in Erinnerung zu bringen, wie er dahin gekommen war, wo er jetzt war.
Sein Leben hatte keineswegs vielversprechend begonnen. Das Leben auf einem kleinen Geesthof nicht weit entfernt von Tondern war von Armut geprägt. Aber nicht den Hunger, dem er und seine vier kleineren Geschwister so oft ausgesetzt waren, hatte er als Leid empfunden. Hunger gehörte zum Leben genauso wie der Sturm im Herbst, und alle hatten doch Hunger. Auch die harte Arbeit, die seinen kleinen Körper oft voller Schmerzen gefüllt hatte, war ein so selbstverständlicher Teil seines Lebens gewesen, dass er als Kind nie darüber nachgedacht hatte. Im Gegenteil: Es gab Pflichten, die ihn weniger erschöpften, und Jesper konnte sich noch an ein Gefühl der Freude erinnern, wenn er den Stall ausmisten durfte und nicht auf dem Feld Steine sammeln musste, die ihm die Arme auszureißen schienen. Was ihn aber auch jetzt noch, so viele Jahre später, erschauern ließ, war der Gedanke, nein, das Bild der Peitschen, das sich in sein Gehirn eingebrannt hatte. Dass Schläge zum Alltag gehörten, darüber gab es keine Zweifel. Aber sein Vater war von so brutaler Gewalt gewesen, dass Angst wie eine bleierne Decke über dem ganzen Hof gelegen hatte, und auch mit seinen mittlerweile 58 Jahren spürte Jesper immer mal wieder diese Last, die ihn auch heute noch manchmal zu erdrücken schien. Jede Minute, in der der Vater nicht in der Nähe gewesen war, war ihm vorgekommen wie ein Moment, in dem er mühsam durch seine Kehle Luft einatmen konnte. Wenn der Vater in der Nähe war, erfüllte ihn sofort das Gefühl, erstickt zu werden. Der Vater hatte nicht nur eine Peitsche, ein daumendicker Stock mit Rindslederstreifen am Ende. Überall auf dem Hof hingen die Peitschen, jederzeit sichtbar als unmissverständliche Warnung an den Wänden. Und es brauchte keinen Vorwand, dass der Vater sich eine griff und zuschlug, zuschlug, zuschlug. Nicht einmal oder zweimal. Er schlug sich jedes Mal in einen Rausch, der durch Schreie - zum Weinen war man gar nicht mehr in der Lage gewesen - eher bestärkt wurde. Nur wenn genug Blut den Rücken oder Po heruntergeflossen war, wandte sich der Vater ab, nicht ohne vorher noch schlimmste Drohungen ausgestoßen zu haben. Jesper erinnerte sich an seine verzweifelten Gedanken, warum die Mutter ihm und auch seinen Geschwistern nie zu Hilfe gekommen war, sondern eher davongewichen war, unsichtbar blieb. Als er etwas älter geworden war, war er fast jede Nacht davon wach geworden, dass aus der Nebenkammer, dort wo seine Eltern schliefen, wimmernde, unterdrückte Schreie von seiner Mutter zu hören waren, und ein Grunzen und Keuchen seines Vaters, wie das der Schweine, wenn sie sich um das Futter rauften. An den drauffolgenden Morgen war es ihm dann so vorgekommen, als ob die Mutter noch gebeugter ihren Kindern begegnete und noch weniger Worte für ihre Kinder zu haben schien. Und geborstene Lippen und geschwollene Augen ließen erahnen, dass es der Mutter nicht besser erging als ihren Kindern. Mit 14 Jahren wusste Jesper längst, was in der Nebenkammer nachts geschah, und er spürte bei dem Gedanken, was sein Vater unmittelbar hinter der Wand trieb, ein Gefühl, eine tiefe Erregung, die er genoss. Der Gedanke, wie sein Vater seine Mutter aufspießte, wie er sie mit seinem Bajonett aufschlitzte, immer wieder in sie hineinstach, ließ ihn eine Lust verspüren, für die er sich anfangs schämte, die er dann aber Nacht für Nacht herbeisehnte.
Jesper griff nach seinem Glas Portwein und genehmigte sich einen großen Schluck. Jesper hasste seinen Vater, der schon so viele Jahre tot war, verrottet und begraben im Dreck. Aber
das, was der Vater mit der Mutter gemacht hatte, bereitete ihm eine ebensolche Lust, wenn er bei den Huren war, und die Gedanken dabei verschafften ihm tiefe Befriedigung.
Der Vater hatte ihn einmal im Stall dabei erwischt, wie er immer wieder den Versuch unternommen hatte, einen angespitzten Ast in das Hinterteil einer Sau zu stechen und vor Lust dabei gestöhnt hatte. Wie diese gebrüllt hatte und zu fliehen versuchte. Die Prügel, die er dafür bezogen hatte, würde er seinen Lebtag nicht vergessen. Nicht dass er halbtot dafür geschlagen worden war und seine Wunden ihn wochenlang schmerzten, war für ihn so grausam gewesen, sondern dass der Vater ihn doch hätte verstehen müssen. Gerade er musste das doch verstehen. So richtig begriff das Jesper auch heute noch nicht.
Doch bald sollte sich sein Leben grundlegend ändern. Dänemark hatte an der Seite von Russland im Krieg gegen die Schweden schwere Verluste an Material und Menschen erlitten. Und wie nach jeder Schlacht zogen Werber der Armee von Dorf zu Dorf, um für eine Handvoll Taler junge Männer zu rekrutieren. Sein Vater sah die Chance, nicht nur ein hungriges Maul loszuwerden, sondern auch noch Geld dabei zu verdienen. Für Jesper war der Gedanke wegzumüssen entsetzlich. Das Leben auf dem Hof war die Hölle, aber das war immerhin das Leben, das er kannte.
Jegliche Form von Widerspruch kannte er jedoch nicht, und selbst wenn: Er wäre nur dem Hunger der Peitsche ausgesetzt gewesen und geändert hätte es nichts. Seine Mutter hatte ihm noch ein Stück Brot zugesteckt, der einzige Ausdruck von Liebe, an den er sich erinnern konnte. In der Kaserne in Tondern schien das grausame Leben so weiterzugehen. Nein, schlimmer noch. Er wurde einem Korporal zugeordnet, der es an Grausamkeit mit seinem Vater aufnehmen konnte. Vom frühen Morgen bis zum späten Abend wurden die Rekruten gepiesackt und misshandelt. Neben dem alltäglichen Drill musste Jesper seinem Korporal wie ein Sklave dienen, seine Unterkunft aufräumen, Nahrung organisieren, die Kleidung pflegen und Dienstbotengänge erledigen. Die Aufgaben waren so zahlreich, dass er immer wieder mal zum Kasernenhofdrill zu spät kam, was zu strengsten Bestrafungen in Form von Schlägen führte. Wenn er aber den Aufträgen des Korporals nicht umgehend nachkam, erwartete ihn auch dort schwerste Prügel. So hatte er nur die Wahl, entweder von der einen Seite oder von der anderen Seite seine Bestrafungen entgegenzunehmen. Aber das war nicht das Schlimmste. So ein Leben kannte er ja auch vom Hof, aber dort hatte er wenigstens nachts seine Ruhe gehabt. Schon in der ersten Nacht auf dem Kasernengelände hatte der Korporal ihn in sein Zelt befohlen. Er sollte sich die Hose ausziehen, um eine Uniformhose zu erhalten. Das hatte Jesper schon misstrauisch gemacht, denn alle Rekruten liefen auch noch nach Wochen mit ihrer alten Kleidung herum. Plötzlich und völlig unerwartet wurde er von hinten gepackt, mit aller Gewalt nach vorne gedrückt, und dann spürte er einen stechenden Schmerz in seinem Gesäß, ein Schmerz, der sich nicht auf den Po beschränkte, sondern der sich in seinem gesamten Leib wie ein Feuer ausbreitete. Er wollte schreien, aber eine stinkende Hand legte sich auf seinen Mund, dass er zu ersticken glaubte. Sein Körper wollte sich wegdrehen, dem Schmerz entrinnen, aber die Arme des Korporals waren wie aus Eisen. Jespers erster Gedanke war, warum der Korporal ihn mit seinem Messer abstach, was er wohl falsch gemacht hatte. Als er die grunzenden Laute, das Keuchen hinter ihm wahrnahm, Geräusche, die ihm von seinem Vater bekannt waren, wurde ihm klar, was mit ihm gemacht wurde. Jesper hatte nicht oft die Gelegenheit gehabt, in die Kirche zu gehen, aber er wusste, dass er nun in der Hölle landen würde oder sich schon dort befand.
So ging es nun Woche um Woche, in denen sein gesamter Körper eine offene Wunde zu sein schien, ein Feuer in ihm, das ihn von innen und außen verbrannte. Schon der Geruch des Korporals, der ihn an den von frisch geschlachteten Schweinen erinnerte, bereitete ihm Grauen. Das Aufwachen morgens war für ihn der Beginn einer unendlichen Qual, das Naherücken des Abends und der bevorstehenden Nacht empfand er, als ob der Tod persönlich Schritt für Schritt, unaufhaltsam, auf ihn zukroch und es keinen Weg gab, ihm zu entkommen. Während die anderen Jungen gelegentlich auch mal Freude in ihren Gesichtern zeigten, wenn sie miteinander sprachen oder sogar manchmal mit Waffen aus Holz Krieg spielten, blieb er davon ausgeschlossen, in seinem Schmerz und mit seiner Scham allein. Mit wem hätte er reden sollen? Wer hätte mit ihm reden wollen, er, der nur ein Stück wundes Fleisch war. Verachtenswerter Dreck.
Eines Tages bot sich ihm eine Chance und ein letztes Stück Lebenswillen erwachte in ihm.
Der Korporal hatte ihn zum Quartiermeister geschickt, der sein Kontor in der Nähe des Kasernenhoftores hatte. Jesper bemerkte, dass beide Wachen nicht am Tor standen und er einen Moment von niemandem gesehen werden konnte. Ohne zu überlegen schlich er aus dem Kasernengelände heraus, weg aus der Hölle. Er wusste, dass hinter der Kasernenhofmauer ein Wald lag, zu dem er nun stürmte, um dort Schutz zu suchen. Erst als er dort angekommen war, stellte er sich die Frage, wohin er sollte. Nach Hause, zum Hof ? Erstens erinnerte er sich nicht mehr an die Wegrichtung, und selbst wenn: Ihm war klar, wie er dort empfangen werden würde. Also lief er in irgendeine Richtung, die ihn von der Kaserne wegführte. Er rannte und rannte, als ob seine Beine ohne jeglichen Befehl das Kommando übernommen hatten und sein Kopf nur einen Gedanken kannte: weg! Erst als seine Lungen sich verweigerten, hielt er ein und stellte mit Erstaunen fest, dass er an Armen, Beinen und im Gesicht tiefe Schürfwunden hatte, die er sich bei der Flucht durchs Gehölz zugezogen haben musste, ohne es zu bemerken. Gleichzeitig mit dem 6 Uhr Läuten der Kirchenglocken der Tonderner Kirche spürte er, ohne etwas zu sehen oder zu hören, dass sich jemand näherte. Der Wald schluckte die Geräusche und ließ keine weite Sicht zu, aber ein kaum vernehmbares Vibrieren des Bodens warnte ihn, dass sich Tiere näherten, Pferde in schnellem Galopp. Und jeder Reiter, der im Wald sein Pferd galoppieren ließ, musste es eilig haben. In Bruchteilen von Sekunden war ihm bewusst, dass die Eile ihm galt, dass sie hinter ihm her waren. Das blanke Entsetzen packte ihn. Dass er desertiert war, wurde ihm erst jetzt klar. Er wollte doch nur weg vom Korporal. Er hatte doch nicht vorgehabt zu desertieren, machte sich aber nichts vor, was ihn erwartete, wenn sie ihn einfingen. Er hatte immer wieder mal aufgeschnappt, dass Männer ihren Dienst und die Entbehrungen leid waren, aber bei all den Gesprächen schwang stets unüberhörbar die Furcht mit, was passieren würde, wenn man sich unerlaubterweise der Armee entzog. Die Folgen wurden nie in Worte gefasst, als ob man sie sonst damit heraufbeschwören würde, aber die Bestrafungen mussten unerträglich sein, wenn selbst hartgesottene Soldaten nicht einmal über diese zu sprechen wagten.
Er sah sie nicht, er hatte sie nicht gehört. Erst als ein Reiter mit gezogenem Säbel schon wie ein Berg vor ihm stand, wurde ihm schlagartig klar, was ihm bevorstand. Es schien ihm, als würden sich seine Knochen und sein Rückgrat in Luft aufgelöst haben, dass er ganz leicht wurde, schwebte, als seine Beine unter ihm nachgaben, und sein Kopf ihn von seiner Angst befreite, indem er das Bewusstsein verlor.
Er wurde davon wach, dass er eine plötzliche Eiseskälte auf dem Oberkörper und im Gesicht wahrnahm. Als er die Augen aufschlug, erblickte er über sich den Korporal, der einen weiteren Eimer mit Wasser über ihn ausschüttete.
„Damit du auch bei deiner Feier schön wach bist“, hörte er den Korporal mit fast sanfter Stimme. Die Augen des Korporals leuchteten beinahe freundlich, ähnlich wie die des Vaters, bevor der zur Peitsche gegriffen hatte. Er konnte diese Augen nicht anschauen, wollte sich aufrichten und stellte erst in diesem Moment fest, dass er auf einer hölzernen Bank lag und mit Lederriemen festgeschnallt war. Um ihn herum standen im Kreis alle anderen Rekruten. Keiner sprach, kein hämisches Grinsen. Ihr stilles Mitgefühl erfüllte ihn mit Grauen. Die Angst schlich sich nicht heran mit Herzklopfen oder feuchten Händen, nicht mit zittrigen Beinen oder furchterregenden Bildern im Kopf. Die Angst überrollte ihn, schlug in ihn ein, als ob Bänder aus Eisen um seine Brust gelegt wurden, die sich mit jedem Atemzug zusammenzogen und ihm die Luft abschnitten. Eine Angst, die ihn zum Keuchen und sein Herz zum Rasen brachte, sodass sich sein Brustkorb hob und senkte wie bei einem Kaninchen, bevor es geschlachtet wurde. Er hob seinen Kopf, so weit er konnte, und sah wie der Korporal zu seinen nackten Füßen ging, mit einer beinlangen Stahlfeder in der Hand. Der unbändige Versuch zu fliehen, ließ seinen Körper aufbäumen.
Der Schmerz nach dem ersten Schlag war so ungeheuerlich, dass sein ganzer ausgezerrter Körper und sein Hirn explodierten. Seine Augen konnte nicht mehr aufnehmen, dass sich die Stahlrute durch seine Hornhaut an den Fußsohlen wie durch Papier durchgeschnitten hatte und sich tief in sein Fleisch hineingefressen hatte. Er nahm seinen schrill heulenden Schrei nicht mehr wahr, der nicht mehr menschlich klang und der die Rekruten totenbleich werden ließ. Er schmeckte nicht mehr das Blut, das seinen Mund füllte, als er sich die eigene Zunge fast durchbissen hatte. Es war kein Schmerz, es war eine Feuersbrunst, die sich von außen in ihn hineinfraß und von innen wieder hinaus. Ihn verbrannte. Wenn es einen Gott gab, so sorgte der dafür, dass er die weiteren Schläge nicht mehr spürte. Er versank in einer tiefen Dämmerung, deren Mitleid ihn vor tödlichem Schmerz und abgrundtiefer Angst bewahrte.
Jesper genehmigte sich ein zweites Glas, wobei seine Hand beim Einschenken merklich zitterte und ihm bewusst wurde, dass sich bei seinen Erinnerungen die Zehen seines verunstalteten, völlig vernarbten Fußes unwillkürlich verkrampft hatten. Aber nun konnte er mit bitterer Genugtuung daran denken, dass eben diese Folter, die ihn fast das Leben gekostet hatte, der Auftakt zu einem neuen Leben gewesen war. Ein Leben, das ihm die Chancen geboten hatte, dass er sich nun dort befand, wo er jetzt war. Und diesen Gedanken genoss er. Deswegen tauchte er so gern in seinen Erinnerungen ab.
Man hatte ihn nach der Tortur in ein Lazarettzelt geschleppt, womit der Korporal seine Menschlichkeit unter Beweis stellen wollte. Irgendwann hatte sein junger Körper dafür gesorgt, dass die Blutungen seines zerfetzten Fußes zum Stillstand kamen, und ein mitleidiger Feldarzt hatte seinen Teil dazu beigetragen, indem er Lappen um das zerrissene Fleisch gewickelt hatte und die regelmäßig wechseln ließ. Von all diesem Tun kriegte Jesper nichts mit. Jespers gemarterte Seele hatte seinen Körper verlassen, der in einem ständigen Nebel mit Schmerz und Fieber kämpfte.
Nis Nilsen hatte als Arzt, wenn auch noch jung an Jahren, bereits viel Elend auf den Schlachtfeldern in Schweden und auf Seeland erlebt. Um dieses Leid ertragen zu können, hatte er sich wie jeder Soldat eine Rüstung aus Gefühlskälte zugelegt und sein blutiges Geschäft ohne Anteilnahme auszuführen gelernt. Der junge Kerl, der sich in seiner Bewusstlosigkeit und in seinem hohen Fieber auf dem Strohlager hin- und herwälzte, erweckte allerdings bei ihm Erinnerungen an seinen verstorbenen kleinen Bruder, zu dem er eine tiefe Verbindung gehabt hatte und für dessen Tod er sich verantwortlich hielt. Und deswegen versuchte er seine Schuld dadurch etwas gutzumachen, indem er dafür Sorge trug, dass das arme Bürschchen eine Pflege erhielt, die sonst bestenfalls Offizieren zukam: Die Verbände wurden gewechselt, durch die aufgebrochenen Lippen wurde dem Jungen Wasser und Brühe eingeflößt und eine alte Pferdedecke hielt den kleinen Kerl warm, wenn er sich im Schüttelfrost hin- und herwarf. In den folgenden Wochen erschien es oft so, als würde der Junge seinen Kampf verlieren, und je länger sich Nis darum bemühte, den armen Teufel am Leben zu behalten, desto mehr fühlte er sich mit diesem Häufchen Elend verbunden. Als Jesper immer häufiger das Bewusstsein erlangte und Nis soviel Dankbarkeit für die Zuwendung in dessen Augen las, fasste er einen Beschluss: Er wollte den Jungen als Assistenten an seiner Seite haben. Ein Offizier aus seinem Regiment, dem er aus einer delikaten Situation geholfen hatte, war ihm einen Gefallen schuldig. Eine Hure hatte dem Hauptmann an einer Stelle eine Verwundung beigefügt, für die man keinen Respekt erhielt, sondern wo unerträglicher Spott zu erwarten war. Nis hatte den Offizier mit größter Diskretion behandelt. So wurde man sich schnell einig, dass der Junge an der Seite des Arztes arbeiten sollte, zumal schon feststand, dass Jesper mit seinem maltraitierten Fuß als ordentlicher Soldat nichts mehr taugte.
Als Jesper nach drei Wochen das erste Mal seine Umgebung nicht durch einen Schleier wahrnahm, tauchte der Mann neben seinem Lager auf, den er in den letzten Wochen immer nur schemenhaft vor sich gesehen hatte, der aber scheinbar nichts Böses im Sinn hatte.
„ Du musst wieder zu laufen lernen“, hörte er eine unerklärlich freundliche Stimme.
„Du hast so lange gelegen, dass es Zeit wird, dass du deine Beine bewegst. Und auch dein Fuß muss sich an dein Gewicht gewöhnen.“
Jesper versuchte aufzustehen, aber seine Beine knickten weg wie die bei frisch geborenen Kälbern.
„Zieh dich an meinem Arm hoch und leg deinen Arm um meine Schulter.“
Dieser Befehl schien nicht mit böser Absicht zu kommen, aber ein Unbehagen machte sich in ihm breit. Die Berührung eines Menschen kannte er nur in Form von Schlägen und er zuckte zusammen, als sich der Männerarm ihm entgegenstreckte. Jesper ignorierte den stechenden Schmerz in seinem Fuß und richtete sich auf. Als er umzukippen drohte, schlang der fremde Mann seinen Arm um Jespers Hüfte und hielt ihn aufrecht.
„Du musst jetzt jeden Tag üben. Du wirst mir bei meiner Arbeit helfen und dazu brauchst du deine Beine.“
Die Umarmung war für Jesper zuerst unangenehm, aber dann hatte er das erste Mal in seinem Leben das Gefühl, dass jemand sich um ihn kümmerte, ihm Schutz geben wollte, ihn nicht als mehr oder weniger nützliches Vieh sah. Ein Gefühl, das ihn schlagartig jeden Schmerz vergessen ließ und dazu beitrug, innerhalb weniger Tage so weit zu Kräften zu kommen, dass er erste Hilfsarbeiten und Botengänge verrichten konnte. Für Jesper begann nun eine Zeit, die die glücklichste in seinem bisherigen so armseligen Leben war. Er wurde nicht mehr geschlagen, wurde mit Essen und sogar neuer Kleidung versorgt und für ihn das Erstaunlichste: Er bekam eine Aufmerksamkeit in Form von freundlichen Worten, die ihm bis dahin völlig unbekannt gewesen war. So nahm er alle Arbeiten bereitwillig und mit größter Sorgfalt und Zuverlässigkeit an, vermied jeden Fehler und zeigte einen Eifer, der ihm Lob und auch ein wachsendes Vertrauen des Arztes einbrachte.
„Du sollst lernen, mich bei meiner Tätigkeit als Arzt zu unterstützen.“
Jesper stutzte. Bislang waren ihm, wo immer er auch gewesen war, nur eintönige, meist körperlich äußerst anstrengende Arbeiten aufgetragen worden. Aufgaben als Arthelfer traute er sich nicht im Ansatz zu.
Sie standen neben einem Artilleristen, dessen Bein von einer Lafette überrollt worden war und übel zugerichtet war.
„Leg du ihm einen Verband an. Du hast jetzt oft genug zugeschaut.“
„Ich weiß nicht, wie man das macht.“ Jespers Stimme zitterte bei dem Gedanken, dass der Arzt ihn wegschicken könnte, wenn er einen Fehler machen würde.
„Mach es!“, befahl Nis mit harscher, aber nicht unfreundlicher Stimme.
Obwohl das Bein tief aufgerissen war und stark blutete, gelang es dem Jungen scheinbar mühelos, den Verband so geschickt anzulegen, dass die Blutung gestillt wurde und selbst der zeternde Soldat seine Anerkennung aussprach. Von diesem Tag an wurde Jesper in alle medizinischen Arbeiten eingebunden. Er pflegte die Kranken und Verwundeten, soweit deren Rang eine Behandlung zuließ. Er wechselte Verbände, schiente Brüche, und eine besondere Freude bereitete es ihm, Schrapnellsplitter oder Kugeln aus wundem Fleisch oder aufgerissenen Eingeweiden hervorzugraben, wobei er tunlichst verschwieg, dass ihn das Winseln der Verwundeten, deren wimmerndes Schreien, fast in Erregung versetzte.
„Es ist erstaunlich, welche Begabung du für diesen Beruf mitbringst, dass dich auch nichts aus der Fassung bringt“, bemerkte Nis immer wieder.
Jesper lernte schnell und er lernte viel, und er hoffte Woche für Woche und Monat um Monat, dass die Zeit bei dem Arzt nicht enden würde. Mit seinen jetzt 17 Jahren war er zu einem kräftigen jungen Mann herangereift, den seine harte Kindheit und Jugend älter erscheinen ließ und der es längst mit den Fähigkeiten seines Lehrers aufnehmen konnte. Den anderen jungen Soldaten blieb er fremd, was ihn nicht störte. Er hatte den Arzt, der ihm viel mehr als nur Lehrer war. Vielen war er unheimlich, so verschlossen er blieb und so verbissen er arbeitete, aber nicht wenige zeigten auch ein gewisses Maß an Respekt ihm gegenüber, was ihn mit Hochgefühl erfüllte. Sein besonderes Interesse galt den Tinkturen, den Flüssigkeiten und Ingredienzen, die der Arzt in einem verschlossenen Schrank in kostbaren Fläschchen und Phiolen aufbewahrte.
„Lass deine Finger davon“, fluchte Nis Nilsen seinen Assistenten an, als Jesper eine Flasche mit einer glasklaren Flüssigkeit aus dem Schrank herausnahm, weil ihn die Form der Flasche so angesprochen hatte.
„Davon reichen wenige Tropfen, um einen Hünen umzubringen“.
Ohne recht zu wissen warum, schaffte es Jesper in einem unbeachteten Moment, etwas von dieser Flüssigkeit in ein leeres Fläschchen abzufüllen, bevor der Arzt den Schrank wieder verschloss.
Zwei Zufälle sollten dazu führen, dass Jesper an einem der drauffolgenden Tage eines der befriedigendsten Erlebnisse seiner Jugend erleben durfte. Der Arzt musste für einige Tage zur Kommandantur nach Sonderburg. Und genau zu diesem Zeitpunkt wurde der Korporal, der ihn so gequält hatte, bewusstlos und mit hohem Fieber in das Lazarett eingeliefert. Jesper betrachtete es als Fügung, wenn nicht durch Gott, so doch durch den Teufel so vorgesehen, dass er sich etwas der Flüssigkeit erschlichen hatte. In der folgenden Nacht konnte kaum jemand in der Kaserne schlafen, weil die grässlichen Schreie des Korporals bis in jeden Winkel des Geländes schallten, und jeder war erleichtert, als der Korporal am nächsten Morgen tot aus dem Lazarettzelt getragen wurde.
Die Erinnerungen daran, wie der mächtige Mann in Krämpfen vor ihm gelegen hatte, wie dessen Körper gezuckt und sich Stunde um Stunde zusammengekrümmt hatte, das Brüllen und Wimmern, führte immer noch zu einem wohligen Schauer, den Jesper sich bis zu seinem Lebensende bewahren wollte.
Als der Arzt zurückkam und mitteilte, dass er zur königlichen Marine nach Kopenhagen abgeordnet worden war, brach zunächst für Jesper eine Welt zusammen. War das die Strafe für das, was er in der Nacht getan hatte? Als er dann aber hörte, dass er mitgehen sollte, schien sein Glück perfekt. Der Arzt und er, untrennbar.
In Kopenhagen überschlugen sich die Ereignisse. Die königliche Flotte lag im Hafen oder auf Reede vor Anker. Nis Nilsen hatte mit seinem Gehilfen auf einer Fregatte als Schiffsarzt Quartier genommen und die beiden teilten den außerordentlichen Luxus, eine Kammer für sich allein zu haben.
Jesper wusste nichts von den politischen Geschehnissen um ihn herum. Er hätte es auch nicht verstanden, warum Dänemark sich mit Napoleon verbündet hatte oder warum die englische Flotte sich um das Skagerak herumgeschlichen hatte, unbemerkt den großen Belt heruntergesegelt war und nun vor Kopenhagen lag.
Ihm war aber augenblicklich klar, dass das Donnergrollen, das sich von Sekunde zu Sekunde zu einem Höllengewitter aus berstenden Explosionen, schrillem Pfeifen und fassungslosen Schreien steigerte, keine Geschützübungen waren, sondern dass sie unter schwerem Beschuss standen. Jesper und Nis hatten keine Zeit zu reagieren und sie hätten auch nicht gewusst, wie sie diesem Überfall aus Eisen, Blei und Feuer hätten entkommen können.
Jespers Sinne nahmen nicht mehr wahr, wie eine Kanonenkugel die halbfußdicke Bordwand durchschlug und die Kammer mit Glut, Metallsplittern und zerfetztem Holzbalken zu einem Käfig aus brennenden Nägeln machte.
Als er die Augen wieder Aufschlug, hatte er einen beißenden Geruch in der Nase, seine Augen tränten vor Rauch, aber er stellte mit Erstaunen fest, dass er kaum verletzt sein konnte.
Trotz des Rauches war es ungewöhnlich hell in der Kajüte. Durch ein körpergroßes Loch aus zerrissenen Planken kam Licht herein, das den in mehrere Teile zerlegten Körper des Schiffsarztes beleuchtete. Jespers Herz setzte aus. Der Arzt war nicht sein Freund gewesen, nicht sein Vater oder Bruder. Der Arzt war für ihn Schutz gewesen, Orientierung und Vertrauen, ohne die das Leben die Hölle gewesen war. Sein erster Reflex war, sich in einen der beindicken Holzsplitter zu werfen, den Säbel des Arztes zu greifen und sich in den Leib zu rammen, diesem dreckigen Leben, das ihn nun wieder erwartete, ein Ende zu setzen.
Der Überlebensinstinkt eines 17-Jährigen hielt ihn zurück. Das zunehmend krängende Schiff ließ ihm keine Zeit, sich in Trauer von seinem Herrn zu verabschieden, und er hätte auch nicht gewusst wie. Er hätte auch nicht zu erklären gewusst, warum er die Ledertasche des Arztes vom Gürtel über dessen zerquetschter Hüfte an sich riss - vielleicht um irgendein Andenken zu haben. Er musste nur raus hier, raus.
Jesper konnte hinterher nicht mehr erinnern, wie er es geschafft hatte, sich aus diesem Chaos zerfetzten Holzes, verbogenen Eisens und zerrissener Leibe zu entwinden. Völlig leer, ohne Schmerz und Gefühle, ohne Hoffnungen und ohne Zukunft fand er sich am Abend an einem Abschnitt des Strandes wieder, der von den Kämpfen verschont geblieben war. In der Ledertasche fand er einige Geldstücke und säuberlich gefaltet und durch ein Tuch geschützt die Urkunde, die Nis Nilsen als Arzt auswies.
Die nächsten Jahre streunte Jesper durchs Land, ohne Plan und ohne Ziel. Er übernachtete in abseits stehenden Scheunen oder baute sich Unterstände im Wald, hielt sich mit kleinen Diebstählen am Leben oder verdiente sich als Tagelöhner einen Teller Suppe oder einen Laib Brot. Manchmal wurde ihm erlaubt, für einige Tage im Stall zu schlafen, wenn er Gelegenheit gehabt hatte, seine Kenntnisse als Mediziner anzuwenden, indem er immer noch mit großem Geschick Sensenschnitte zunähte, Eiterbeulen öffnete oder sogar Zähne zog. Aber er mied die Menschen und blieb nie länger an einem Ort. Vor allen Dingen dann wurde es für ihn höchste Zeit zur Abreise, wenn im Dorf gemunkelt wurde, dass ein Mädchen vergewaltigt worden sein sollte, ein Kind misshandelt oder ein Tier brutal gequält.
Ein fürchterlicher Herbststurm setzte diesem unsteten Treiben ein Ende.
Jesper suchte Schutz vor dem Unwetter in einem Gasthaus, das gut gefüllt war, sodass er sich nicht allein an einen Tisch setzen konnte, um von seinen wenigen Geldstücken ein Bier zu bestellen. Sein versoffener Tischnachbar, ein dreckiger, kleinwüchsiger Kerl, jammerte unaufhörlich darüber, dass er der Gehilfe des Amtsarztes in Flensburg gewesen wäre, der unerwartet verstorben war. Und weil kein neuer Arzt gekommen war, hätten sie ihn davongejagt. In diesem Moment keimte in Jesper eine Idee, die seinem Leben wieder eine Richtung geben sollte. Er besaß medizinische Fähigkeiten, er hatte Lesen und Schreiben gelernt - und er war im Besitz einer Urkunde mit Siegeln und Unterschriften, deren Wert er erst jetzt begriff. Er wollte den Posten des Amtsarztes.
Mit einer für ihn unbekannten Zielstrebigkeit machte er sich daran, seinen Plan umzusetzen. Seine Kenntnisse und Papiere wiesen ihn als Arzt aus, aber sein Äußeres, darüber machte er sich keine Illusionen, würde ihn verraten. Die nächsten Tage verbrachte er Stunden damit, mit Wasser und groben Steinen seine Hände von ihrer dicken verräterischen Hornhaut zu befreien und seine verwachsenen Nägel in eine gepflegtere Form zu bringen. Er schaffte es, mit einer Klinge und unglaublicher Geduld, seinen Haaren und seinem Bart einen Schnitt zu verpassen, der ihm für einen Arzt angemessen erschien.
Das größte Problem war seine Kleidung: Seine Hose und seine Jacke waren nicht nur unendlich verschmutzt, was ihn nie gestört hatte, sondern in einem Zustand, der ihn niemals als honorige Person hätte durchgehen lassen. Aber er erinnerte sich, welche Wirkung Uniformen auf Menschen hatte.
Er wusste, wo es Uniformen gab. So beschloss er, nach Tondern zu ziehen, wo er die Kaserne kannte. Er versteckte sich in dem Wald, mit dem ihn schlimmste Erinnerungen verbanden, um auf eine Gelegenheit zu warten.
Nach drei Tagen voller Hunger, Ängste und Zweifel ergab sich eine solche Gelegenheit.
Ein Uniformierter, der aus welchen Gründen auch immer allein und nicht zu Pferd unterwegs war, verließ den Waldweg, um einem natürlichen Bedürfnis nachzugehen. Jesper hatte es sich früh angeeignet, sich fast lautlos zu bewegen, um ja nicht aufzufallen. Es fiel ihm leicht, sich dem im Unterholz hockenden Mann von hinten anzuschleichen. Der Schnitt durch die Kehle des Mannes mit der Klinge kam so entschlossen und schnell, dass der Soldat keinen Laut mehr ausstoßen konnte. Den Strick, den er sich auf dem Weg nach Tondern gestohlen hatte, sowie einen schweren Stein nutzte er dazu, den Leichnam in dem Waldsee verschwinden zu lassen.
Jesper brauchte Tage, um seine neue Kleidung vom Blut zu reinigen und um nach Flensburg zu ziehen. Immer wieder beschlichen ihn Ängste, wenn er daran dachte, was er sich in den Kopf gesetzt hatte. Ihm war klar, dass sein erstes Auftreten entscheidend war, und deswegen legte er sich wieder und immer wieder die Worte zurecht, mit denen er im Rathaus seine Ankunft ankündigen wollte. In Flensburg angekommen, war er von der Lebhaftigkeit der Stadt verwirrt. Es war schon Jahre her, dass er sich in eine Stadt solcher Größe gewagt hatte.
Die Stadt brodelte vor Geschäftigkeit und wimmelte voller Menschen. Hier konnte er den Menschen nicht aus dem Weg gehen und er hatte den Eindruck, dass jedermann ihn anstarrte. Er zwang sich dazu, nicht ständig hinter sich zu gucken, ob er verfolgt wurde. Er vermied es, den Leuten in die Augen zu schauen, und ergab sich ein zufälliger Blickkontakt, so flatterten seine Augenlider und sein Herz begann zu rasen. Es konnte doch niemand wirklich glauben, dass er Soldat war, dass die Uniform seine eigene war. Die Unruhe der Stadt, von der er wusste, dass sie neben Kopenhagen der größte Handelsplatz im gesamten Norden war, übertrug sich auf ihn. Das Klappern der zahlreichen Fuhrwerke, das Geschrei der Leute ließen ihn zusammenzucken. Der Lärm von der Straße und aus den zahlreichen Hinterhöfen drückte auf seinen Kopf, sodass er immer wieder versucht war, wegzurennen, seiner wahnsinnigen Idee zu entfliehen. Aber dann erkannte er, dass die Leute Ehrfurcht oder sogar Angst vor seiner Uniform spürten, was ihm wieder etwas Sicherheit gab.
Er suchte sich bewusst einen Mann aus, bei dessen schäbiger Kleidung er sich sicher sein konnte, Respekt zu erwarten und den er mit grober Stimme ansprach: „Der Weg zum Rathaus?“
Die Untertänigkeit, die ihm entgegenschlug, steigerte sein Selbstbewusstsein, das sich aber wieder auflöste, als er vor dem prächtigen Gebäude stand, zu dem ihm der Mann den Weg gewiesen hatte. Erst jetzt nahm er wahr, dass er von Macht und Reichtum ausströmenden Gebäuden umgeben war. Das Rathaus selbst war ein Sinnbild für den Aufstieg Flensburgs als Handelsmetropole. Die Bürger der Stadt, zumindest diejenigen, die hier zu Reichtum und Einfluss gekommen waren, hatten ihre Dankbarkeit dafür in Stein hauen lassen. Das Rathaus war ein mehrstöckiges neugotisches Gebäude aus rotem Backstein mit zahlreichen Türmen und Erkern. Das Dach aus roten Ziegeln ragte steil nach oben, als wolle es wie ein nach oben gereckter Finger zeigen, wohin die Stadt strebte. Die vielfältigen schmalen Fenster waren bunt verglast, ohne dem Haus die Würde zu nehmen.
Hier, an diesem Ort sollte sich entscheiden, ob Jesper am Galgen hängen würde oder ihn ein Leben in Amt und Würde erwartete. Ohne noch lange zu überlegen und wieder in Zweifel zu verfallen, schritt er energisch die Granitstufen hoch und befahl einem Rathausdiener, ihn zum Bürgermeister zu führen, der bei dem selbstbewussten Auftreten des Besuchers nicht daran dachte, nach dessen Anliegen zu fragen. Jesper wurde in einen düsteren, aber eindrucksvollen Raum geführt, in dem hinter einem schrankgroßen Schreibtisch aus schwarz gebeizter Eiche ein eher unscheinbarer Mann saß, dessen Tracht und Amtskette ihn aber als Bürgermeister auswies.
Jesper salutierte flüchtig und hielt dem Mann beiläufig die Arzturkunde hin.
Er stellte sich nicht vor, er stellte keine Frage, sondern er ließ seine einstudierten Worte wie einen militärischen Befehl klingen, der keinen Widerspruch und keine Nachfragen zulassen sollte: „Ich werde hier den Posten des Amtsarztes übernehmen.“
Erik Hansen hatten nicht eine besondere Intelligenz oder alte Beziehungen dieses Amt des Bürgermeisters eingebracht, sondern neben seinem Wohlstand die Fähigkeit zu unterscheiden, wann er buckeln musste oder wann er zutreten konnte. Hier schien ihm ein angemessener Respekt vonnöten, so dass Jesper und der Bürgermeister in kürzester Zeit die Modalitäten regelten.
Von dieser Stunde an war aus Jesper Olsen Nis Nilsen geworden, der nun schon so viele Jahre als Amtsarzt in Flensburg residierte und wenn auch nicht beliebt, so doch respektiert wurde. Seine neue Identität war ihm so in Fleisch und Blut übergegangen, dass er die allabendlichen Erinnerungen brauchte, um nie zu vergessen, wo er eigentlich herkam und welches Glück ihm beschieden war.
Nis Nilsen war tief in seinen Gedanken versunken und nach dem dritten Glas Portwein fast eingenickt, als er eine Veränderung im Raum wahrnahm. Es war kein Geräusch, kein Windzug oder Schatten, aber er war nach so vielen Jahren immer noch Soldat genug, um Gefahr zu spüren. Mit einer Geschwindigkeit, die man diesem etwas schwerfälligen Mann nicht zugetraut hätte, schnellte er aus dem Sessel hoch und drehte sich zur Tür. Er bekam nie Besuch und hatte auch noch nie einen Dienstboten in sein Haus gelassen, aber was ihn erschreckte, war nicht die Anwesenheit einer fremden Person in seinen Räumen, sondern der Mann selbst. Der Fremde war nicht von beeindruckender Gestalt, zwar athletisch, aber nicht besonders kräftig. Was Nis Nilsen entsetzte, war die kalte Ruhe und die Selbstsicherheit, die der Mann ausstrahlte. Und Nis registrierte ein fast unscheinbares stilettartiges Messer, das der lautlose Eindringling so locker in der Hand hielt, als wollte er ein Geschenk überreichen. Blitzartig schoss dem Amtsarzt eine Erinnerung in den Kopf, die er vor einigen Jahren in einer der zahlreichen Flensburger Wirtshäuser erlebt hatte.
Ein Mann von furchterregender Gestalt, vermutlich ein Matrose, war offensichtlich mit einem anderen Gast in einen Streit geraten. Der fast sieben Fuß große Mann, der Arme wie Dreschflegel besaß und dessen Gesicht durch zahlreiche Narben gezeichnet war, hatte sofort sein Messer gezogen, das einem kleinen Säbel glich. Er war um sich schlagend und brüllend auf sein Gegenüber losgestürmt. Sein wesentlich kleinerer Gegner war wortlos und scheinbar völlig entspannt stehen geblieben und wich erst im allerletzten Moment dem tödlichen Hieb des Matrosen aus. Kein Mensch im Gasthaus hatte gesehen, wie der Mann ebenfalls sein Messer gezogen haben musste und dem Matrosen einen Stich mitten ins Herz versetzt hatte, so schnell ging der ungleiche Kampf zu Ende. Als der Mann wortlos und fast schlendernd das Wirtshaus verließ, konnte ihm Nis ins Gesicht sehen. Völlig regungslos und ohne Emotionen, ein Bild, das er nicht aus seinem Gedächtnis verloren hatte.
Der Fremde, der vor ihm stand, war sicher einige Jahre jünger, hatte aber den gleichen Blick. Nis Nilsen erkannte, dass es kein Entrinnen gab.
Der Amtsarzt nahm nicht mehr die blitzschnelle Bewegung wahr, er spürte auch nicht den Schnitt in seinem Hals. Das letzte, was seine Augen an sein Gehirn sandten, war das Bild einer Tätowierung eines doppelstämmigen Baumes auf dem Unterarm des Mannes.