Читать книгу Das Vermächtnis von Holnis - Peter Graf - Страница 5

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Fritz kam von der Arbeit müde und hungrig nach Hause. Wie gewohnt wich er mit tänzelnden Schritten den Tropfen aus Kondenswasser aus, die in dem dunklen, engen Durchgang zwischen den beiden Vorderhäusern von der Decke tröpfelten. Als er den Hinterhof erreichte, war ihm sofort klar, dass etwas vorgefallen sein musste. Kein Mensch war im Hof. Nicht seine Eltern oder Brüder und auch kein Nachbar. An sonnigen Frühlingsabenden wie heute war immer jemand vor der Tür. Die kleinen Hinterhofhäuser, die sich Seite an Seite zum Hang hin aneinanderreihten, waren eng, dunkel und feucht. Auch wenn kein Sonnenstrahl den Hof erreichte, so zog es alle Nachbarn nach draußen, falls es nicht regnete oder zu kalt war. Und heute war ein milder Abend, der auf den Frühling hoffen ließ. Abends war die Zeit, in der sein Vater draußen immer irgendetwas werkelte, sei es ein Stuhl reparieren oder alte Schuhe zusammenflicken. Seine Mutter hatte eigens einen klapprigen Hocker an der Hauswand stehen, um dort Gemüse zu schruppen oder Kartoffeln zu schälen und damit der verqualmten Küche zu entfliehen. Auch die Nachbarjungen lungerten vorm Abendessen immer in der Nähe des Hauses herum, um ja nicht zu spät zu kommen und mit leerem Bauch ins Bett gehen zu müssen. Niemand aus den Nachbarhäusern war zu sehen, wo doch der Hof der Ort war, wo die täglichen Neuigkeiten ausgetauscht wurden oder einfach nur ein Schnack gehalten wurde, wie Fritz`Vater immer zu sagen pflegte. Noch ungewöhnlicher war die verschlossene Haustür. Die Tür stand fast immer sperrangelweit offen, um den modrigen Geruch aus den schlecht belüfteten Räumen zu bekommen. Jeder Dieb wusste, dass es aus den Wohnräumen solcher Gebäude kaum etwas zu stehlen gab und dass die Gefahr erwischt zu werden, bei solch enger Nachbarschaft das Risiko nicht lohnte. Deswegen war es überflüssig, die Türen zu verriegeln.

Gerade in dem Moment, als Fritz die Türklinke herunterdrücken wollte, wurde die Tür von innen aufgestoßen. Er schaffte es um Haaresbreite, den Kopf zur Seite ziehen, um keine Beule davonzutragen. Als Fritz erkannte, wer da vor ihm auftauchte, und er sich sicher war, dass ihm seine Augen keinen Streich spielten, war er erst wie erstarrt und er konnte kein Wort über seine Lippen bringen. Mit allem hätte er gerechnet - nur nicht mit seinem großen Bruder Christian. Eine Flut von Gefühlen überschwemmte ihn: Fassungslosigkeit, die Erinnerung an das Gefühl, verlassen worden zu sein, und eine überwältigende Freude. Unter größter Anspannung verharrte er an der Stelle, nicht sicher, wie er dem Bruder begegnen sollte und mit einem Stück Furcht, er könnte sich gegenüber seinem Bruder lächerlich machen. Aber als Christian die Arme ausbreitete und über das ganze Gesicht strahlte, fiel er ihm in die Arme, gleichgültig, ob das mit seinen neunzehn Jahren noch passend war. Sein Bruder hatte sich äußerlich kaum in den letzten Jahren verändert. Christian war immer noch einen halben Kopf größer als Fritz, er trug seine blonden lockigen Haare etwas länger, als Fritz in Erinnerung hatte, und er war ungewöhnlich braun gebrannt. Sein Lächeln strahlte eine Sorglosigkeit aus, als wäre er immer noch ein Kind aus geschützten Zeiten. Was Fritz allerdings sofort als Veränderung auffiel, war die Ruhe, die der Bruder vermittelte. So sehr Fritz seinen großen Bruder immer bewundert hatte, so sehr hatte ihn auch dessen Ungeduld und Ruhelosigkeit gestört, die häufig zu unvermittelten Wutausbrüchen geführt hatten. In der Schmiedewerkstatt war ihm einmal der Gedanke gekommen, dass sein Bruder wie flüssig glühendes Eisen war. Wenn in den Tiegel mit der Schmelze auch nur ein kleiner Tropfen Wasser geriet, dann schien der ganze Topf zu explodieren und konnte fürchterlichen Schaden anrichten. Jetzt stand Christian einfach so da, hielt seine Arme um Fritz` Schulter geschlungen, und es kümmerte ihn offensichtlich nicht, dass die Umarmung zu lange dauerte und dabei eine Nähe offensichtlich wurde, die sich für junge Männer kaum gehörte.

„Lass uns reingehen, Christian, du musst erzählen, du musst alles erzählen.“

Fritz hatte so viele Fragen, dass er gar nicht wusste, mit welchen er anfangen sollte. Obwohl ihm die so intensive Begrüßung so gut getan hatte, platzte er jetzt vor Neugierde und musste alles, alles erfahren, was sein Bruder erlebt hatte, und damit konnte er nicht länger warten.

Er wollte sich an seinem Bruder vorbei ins Hausinnere drängeln, als er mit einem festen, fast schmerzhaften Griff zurückgehalten wurde.

„Warte, Fritz, ich muss erst mit dir sprechen.“ Die Stimme von Christian war freundlich, aber energisch.

„Wir haben uns lange nicht gesehen, aber es ist hier nicht der richtige Ort für Erklärungen.

Wenn wir hier zusammen reingehen, dann brauche ich dein Wort, nein, du musst mir bei deinem Leben schwören, dass nichts, worüber wir drinnen reden, über deine Lippen kommt.

Und dass du die Namen der Leute, die dir drinnen begegnen, vergisst. Kannst du das, Fritz?“

Fritz war verwirrt. Diese plötzliche Ernsthaftigkeit passte überhaupt nicht zu der Situation.

Was würde ihn drinnen erwarten, warum forderte sein Bruder einen solchen Vertrauensbeweis ein? Bei seinem Leben schwören! Ihm war plötzlich mulmig zumute und er verstand nicht, was sein Bruder, gerade nach so langer Zeit wieder zurückgekommen, von ihm verlangte. Was würde ihn in seinem Zuhause, an dem Ort, wo er sich Zeit seines Lebens sicher gefühlt hatte, erwarten?

„Was ist los hier, Christian, was soll diese Heimlichtuerei?“

„Schwöre es oder bleib draußen!“ `

Diesmal schwang in Christians Stimme wieder eine Ungeduld mit, die Fritz von früher kannte. Fritz fühlte sich von dieser unvermittelten Forderung überfallen, traute sich aber nicht, seinen Bruder mit weiteren Fragen oder mit Misstrauen zu verärgern. Also versprach er ihm feierlich sein Schweigen.

Verunsichert betrat er mit zögerlichen Schritten die Wohnküche, dicht gefolgt von seinem Bruder, der die Tür hinter sich sorgsam verschloss. Die Wohnung bestand aus drei Räumen. Unmittelbar hinter der Haustür öffnete sich die Küche, deren kleines Fenster zum Hof hin ging. Der Raum war spärlich möbliert mit einem alten Tisch, um den sechs Stühle herumstanden, denen man ansehen konnte, dass sie schon oft instand gesetzt worden waren. An der Wand stand der Küchenofen, die Feuerhexe, auf dem immer ein Topf für heißes Wasser stand und wo um diese Zeit herum üblicherweise die Mutter beim Zubereiten des Abendessens war. An den Wänden waren allerhand grobe Bretter befestigt, die alle Utensilien aufnahmen, die für die Versorgung einer Familie nötig waren. Hinter dem Eingang direkt neben dem Ofen ging eine schmale, ausgetretene Treppe hoch zum Schlafboden, der nur durch ein winziges Giebelfenster etwas Licht bekam. Eine Tür aus alten Bootsplanken führte von der Küche aus in einen weiteren Raum, die Wohnstube, deren Fenster allerdings zum Hang hinzeigte, sodass es hier stets dunkel war und die Familie hier sich nur bei Kerzenlicht aufhalten konnte. Es gab noch eine vierte Kammer, die sogar größer war als die anderen Räume, die aber fensterlos war. Deren Wände führten in den Hang hinein und hier war es sogar im Sommer feucht und stockdunkel.

In dieser Höhle wurden nur Dinge aufbewahrt oder Vorräte gelagert, denen die Feuchtigkeit nichts anhaben konnte. Alle Wohnräume waren menschenleer, aber aus dem letzten Raum hörte Fritz gedämpfte Geräusche oder Stimmen.

Christian sprach noch einmal seinen Bruder an: „Denk an dein Versprechen, Fritz. Ich vertraue auf dich.“

Fritz folgte mit gemischten Gefühlen, teils Neugierde, teils Furcht, seinem Bruder, der die Kammertür geöffnet hatte und wortlos den Raum betrat. Drinnen erblickte Fritz die Konturen von drei Personen, die bei schwachem Kerzenlicht um den Tisch herum saßen, der aus dem Wohnzimmer hier hereingetragen worden sein musste. Ihr Gespräch war in dem Moment verstummt, als sich die Tür öffnete, und sie blickten mit misstrauischem Blick auf Fritz. Vorne saß ein Mann, den Fritz im Schein der geöffneten Tür am besten erkennen konnte.

Vor Schreck vergaß er zu grüßen. Der Gildemeister guckte ihn mit ausdrucklosen Augen an.

Der Gildemeister, der der Zunft der Schmiede vorstand, war noch nie bei ihnen zu Hause gewesen. Fritz hatte ihn zwar schon mehrfach gesehen, wenn der Mann auf Hochzeiten oder Beerdigungen von Handwerkern seiner Zunft eingeladen war. Da war er dieser hoch geachteten Person schon begegnet, ohne je mit ihr gesprochen zu haben. Aber er wusste eines: Der Gildemeister suchte dann die Zunfthandwerker zu Hause auf, wenn ein Mitglied der Familie gestorben war.

Ruckartig drehte er sich zu seinem Bruder um.

„Christian, was ist passiert?“, keuchte es aus ihm heraus.

„Beruhige dich, es ist nicht das, was du denkst.“ Christians Stimme war fest und glaubwürdig.

„Setz dich auf den freien Stuhl.“

Als Fritz immer noch beunruhigt an den Tisch herantrat, um den freien Platz einzunehmen, traute er seinen Augen kaum. Er war wie benommen. An seiner Seite saß schweigend ein Mann, der hier überhaupt nicht hergehörte. Wie ein Bauer in einem Thronsaal fehl am Platze war, so unpassend war die Anwesenheit dieses Herrn in einer Hinterkammer eines Handwerkerhauses. Er musste sich irren. Das markante Gesicht dieses Mannes ließ jedoch selbst im Halbdunkel keinen Zweifel zu. Seine Wichtigkeit brauchte nicht durch den feinen Gehrock oder Zylinder unterstrichen zu werden. Die ganze Gestalt strahlte eine Autorität aus, die keiner teuren Ausstattung bedurfte, so dass Fritz wie erstarrt und völlig verschüchtert neben dem Stuhl stehen blieb. Er kannte den Herrn.

Flensburg war zwar eine bedeutende Stadt, aber nicht groß genug, als dass man die einflussreichsten und mächtigsten Männer nie zu Gesicht bekam. Er hatte ihn schon mehrfach in einer Kutsche oder auf einem seiner prächtigen Pferde vorbeireiten sehen. Als kleiner Junge hatte er staunend und voller Bewunderung hinter ihm hergeschaut, später aber bei den seltenen Gelegenheiten kaum noch Aufmerksamkeit auf ihn gerichtet, weil solche Männer für ihn aus einer Welt kamen, die so unerreichbar war, dass es nicht lohnte, darüber nachzudenken und seine Gedanken zu verschwenden. Neben ihm saß ohne jeden Zweifel Folke Dethleffsen.

Dieser Mann verfügte nicht nur über einen unvorstellbaren Reichtum in Form von mehreren Kaufmannshöfen, diversen Speichern und einer Reihe von Großseglern; dieser Mann hatte einen Einfluss in der Stadt - nicht nur als Ratsmitglied - der sich mit dem des dänischen Königs messen konnte.

Mit einer knappen Handbewegung forderte der Kaufmann Fritz auf sich niederzulassen.

Fritz war erneut für einen Moment fassungslos, als sein Bruder in dieser Runde als erster das Wort ergriff, um Aufmerksamkeit bat und ankündigte, von seinen Erlebnissen zu berichten:

Bevor Christian vor drei Jahren Flensburg fast fluchtartig den Rücken zugekehrt hatte, konnte er eigentlich mit seinem Leben zufrieden sein. Er hatte wie sein Vater das Schmiedehandwerk erlernt und sich als außerordentlich talentiert erwiesen. Er wusste nicht nur, dass das Eisen kirschrot glühend sein musste, um es wie eine Weidenrute biegen zu können, sondern er hatte offensichtlich die Gabe und das Gespür, feinste Farbunterschiede des Metalls in der roten Glut wahrzunehmen, damit das Eisen geschmeidig wie Ton war und unter seinen Hammerschlägen jede Form annahm, die er ihr geben wollte. Natürlich war dem Meister sein Talent nicht verborgen geblieben und hatte dessen Ehrgeiz geweckt, seinem Lehrjungen alles beizubringen, was er sich selbst in vielen Jahren Erfahrung angeeignet hatte.

So erlernte Christian nicht nur das bloße Schmiedehandwerk. Der Meister führte ihn in die Kunst ein, dem flüssigen Eisen Substanzen in Form von Pulvern oder Metallkörnern zuzuführen, deren Namen so ungewöhnlich waren, dass Christian sie kaum aussprechen oder behalten konnte. Aber er erkannte sofort an der Farbe, am Gewicht, sogar am Geruch, welchen Zusatz er vor sich hatte. Und ihm wurde beigebracht, dass diese Zusätze die Eigenschaften des Eisens stark verändern konnten, je nachdem ob man besonders harte oder nachgiebige, federnde oder starre Werkstücke herstellen wollte.

Für Christian war seine Lehre keine Mühe oder Arbeit. Er genoss es jeden Tag, wie ein Magier dem Metall Rätsel zu entreißen oder nach seinen Rezepten Geheimnisse zuzufügen.

Kurz nach seiner Freisprechung zum Gesellen geriet er jedoch an eine Gruppe junger Männer, von denen er schon gehört hatte, deren Ideen ihn aber bislang nicht interessiert hatten: den Jungen Deutschen. Das Geheimnisvolle an deren Versammlungen reizte ihn. Als eine von mehreren Gruppierungen, die Südschleswig von Dänemark lösen wollte und eine eigene Verfassung verlangte, waren deren Versammlungen natürlich verboten. Aber die heimlichen Treffen waren kaum zu unterbinden und Christian ließ sich schnell für ihre Ideale begeistern. Ein freies Schleswig, ein freies Holstein als Teil des Bundes Deutscher Länder. Kein dänischer König, keine dänischen Minister und auch keine von diesen eingesetzten Räten sollten über Flensburg oder Südschleswig entscheiden. Es war an der Zeit, dass man dieses alte, starre und obrigkeitshörige System auflöste und das Volk selbst für sich entscheiden ließ.

Für Christian war es mehr Abenteuer als Überzeugung, wenn sie handbeschriftete Plakate aufhängten, den dänischen Danebrog von Fahnenmasten rissen oder nachts in Amtsstuben eindrangen und diese verwüsteten, wobei er sich dabei schnell Respekt verdiente, weil er mit seinen Kenntnissen auch die schwersten Schlösser überwand.

Ein Ereignis riss ihn dann aus seiner jugendlichen Abenteuerlust. Bei einem Sängerfest wurde nicht nur er von Polizisten brutal zusammengeschlagen. Einer seiner Brüder, so nannten sich die Jungen Deutschen untereinander, verschwand in einer Arrestzelle und wurde erst Tage später tot und in einem grausamen Zustand am Fördeufer aufgefunden. Christian war entsetzt. Er legte sich einen Eid auf, alles dafür zu tun, dass ihm Gerechtigkeit widerfahren würde.

Dazu war es nicht mehr gekommen. Von unbekannter Seite erhielt er eine Botschaft, dass er aus Flensburg verschwinden musste, um nicht das gleiche Schicksal zu erleiden wie sein Freund. Er wurde aufgefordert, sich nach Hamburg durchzuschlagen, um von dort auf ein Auswandererschiff nach Amerika einzuschiffen. Der Botschaft lag ein Umschlag bei, in dem sich eine beträchtliche Summe Geld befand.

Fritz hatte nicht bemerkt, dass an dieser Stelle des Berichts der Gildemeister und der Kaufmann kurz aufblickten und sich kaum merklich mit dem Kopf zunickten. Er hörte wie gebannt zu und konnte es kaum fassen, dass sein Bruder in einem Land gewesen war, das für ihn so fern wie der Mond schien.

Die Überfahrt war schrecklich gewesen. Der Zweimaster war als Frachtsegler gebaut worden, dickbäuchig und mit flachem Unterwasserschiff. Das führte dazu, dass das Schiff schon bei geringer Dünung hin- und herschlingerte, so dass die Passagiere im Schiffsrumpf jedes Gleichgewichtsgefühl verloren hatten und erbärmlich seekrank geworden waren. In seiner Erinnerung war die gesamte Überfahrt ein nicht enden wollender Albtraum. Nur ein Teil des Frachtraumes war für die Mitfahrer abgetrennt worden. Es herrschte eine Enge, die schon nach wenigen Stunden zu ersten Streitigkeiten und später dann zu massiven Konflikten bis hin zu Schlägereien geführt hatte. Es war dunkel gewesen, es war feucht gewesen und ekelerregend dreckig. Aber das Schlimmste für Christian war der Gestank, der in jede Pore gekrochen war und der ihm noch fünf Jahre danach in der Nase zu hängen schien. Der Gestank nach Erbrochenem, nach Moder, nach ungewaschenen, ranzigen Körpern und nach Exkrementen. Ein Geruch so penetrant, dass er ihm noch nach so vielen Jahren allgegenwärtig vorkam.

Unwillkürlich musste sich Christian bei seinen Gedanken schütteln.

Als sie nach unendlichen Wochen in ihrem Zielhafen Philadelphia in Amerika angekommen waren, war Christian am Ende seiner Kraft und völlig hoffnungslos gewesen. Er war bis auf die Knochen abgemagert und der ständige Durchfall durch das faulige Trinkwasser an Bord hatte seinen Körper so geschwächt, dass er ohne Zuversicht von Bord ging. Am Anfang der Reise war er zwar voller Furcht vor der ungewissen Zukunft gewesen, aber die Neugierde hatte einen Teil seiner Angst aufgefangen. Nun erst wurde ihm klar, dass ihn hier in diesem fremden Land niemand erwartete und er auch von keiner Person Hilfe oder Unterstützung erhoffen konnte. Immer wieder kam ihm der Gedanke, dass er vor nicht allzu langer Zeit ein Leben geführt hatte, das ihm so viel geboten hatte: Familie, Freunde, eine spannende Arbeit, Sicherheit. Aus diesem Leben fühlte er sich herausgerissen. Hatte er die Möglichkeit gehabt mitzuentscheiden? Immer wieder dachte er daran, auf dem Schiff zu bleiben, so schrecklich die Fahrt auch gewesen war, um möglichst schnell wieder nach Flensburg zu gelangen. Aber er erfuhr schnell, dass der Segler nicht direkt über den Atlantik zurückkehren würde und dass sein restliches Geld auch nicht dazu gereicht hätte.

Sein erster Eindruck von Philadelphia trug nicht dazu bei, seine Stimmung zu verbessern. Flensburgs Hafen, der doch zu den größten Nordeuropas zählte, kam ihm im Vergleich zu dem, was er hier sah, klein und geordnet vor. An den Schiffbrücken und an den Kais in Flensburg war an jedem Tag bis tief in den Abend viel Betrieb. Hier bewegten sich jedoch unüberschaubare Menschenmassen, zerlumpte Gestalten aus aller Herren Länder. Christians Augen, die in den letzten Wochen nur seine wenigen Mitfahrer vor sich gehabt hatten, dazu das eintönige Meer oder das Dämmerlicht im Schiffsrumpf, ertrugen kaum das Gewirr von Menschenleibern, von Tieren und von Fuhrwerken, das scheinbar ohne ein Stück Ordnung um ihn herumströmte.

Menschen unterschiedlichster Rassen, von denen er zwar schon gehört hatte, die ihm damals aber in ihren Beschreibungen wie exotische Tiere vorgekommen waren, liefen neben ihm mit einer Selbstverständlichkeit herum, die ihn völlig irritierte. Ihre Hautfarbe war ihm fremd, ihre Gestalt, ihre Kleidung, ihre Gerüche, alles an ihnen war verwirrend und ungewohnt.

In der Enge des Schiffes gab es kaum Momente der Ruhe, was ihn sehr angestrengt hatte. Und hier herrschte nun ein infernalischer Lärm. Die Menschen brüllten und kreischten in Sprachen, die seinen Ohren wehtaten und von denen er kein Wort verstand. Die Geräusche schlugen wie Hammerschläge in seinen Kopf ein. Wie sollte er sich hier zurechtfinden?

Christian war nahe daran, in Panik zu geraten. Er war kein ängstlicher Mann, aber erschöpft wie er war, empfand er seine Lage als unerträglich und hoffnungslos.

Er wusste nicht wohin und wurde wie willenlos von dem Menschenstrom mitgerissen.

Eine Stimme nicht weit von ihm ließ ihn aufhorchen. Es war nicht der Klang der Stimme. Er hörte Worte in deutscher Sprache, die ihn aus seiner düsteren Stimmung rissen.

Auf dem Schiff hatte er sich oft mit seinen Mitfahrern über die Ankunft in Amerika unterhalten und er hatte erfahren, dass es am Hafen zahlreiche Werber gab, die sich auf die Neuankömmlinge stürzten. Diese würden gegen ein Entgelt dabei behilflich sein, eine gute Arbeitsstelle zu finden. Aber er war gewarnt worden. Es gab unter den Werbern wohl auch Betrüger, die gut bezahlte Arbeitsstellen versprachen, die aber den hilflosen Neuamerikanern nur das Geld aus der Tasche ziehen wollten. Schlimmer noch: Es gab wohl auch Vermittler, die behaupteten für ihre Dienste nichts zu fordern und die von den Fabrikbesitzern eine Entlohnung erhielten. Dafür mussten die Arbeitsuchenden dann oft über Monate ohne Lohn unter härtesten Bedingungen wie Sklaven arbeiten.

Christian war also gewarnt und erhoffte sich, von einem Landsmann uneigennützige Unterstützung zu erfahren. Er drängelte zu der Stelle, wo sich die beiden Männer unterhielten.

Zuerst nahmen sie ihn nicht zur Kenntnis, aber als Christian erklärte, dass er aus Flensburg käme und gerade erst angekommen wäre, wurde er freundlich begrüßt. Er hatte großes Glück. Es war nichts Besonderes, wie er erfuhr, hier in New York auf Deutsche zu treffen. Diese Männer kamen aber beide aus Rendsburg, also ebenfalls aus Südschleswig, wodurch sofort eine Verbundenheit da war. Als er ihnen erklärte, dass er Schmied sei, versprachen sie ihm, bei der Arbeitssuche behilflich zu sein. Sie vereinbarten, sich am nächsten Morgen zu treffen, und ihm wurde eine bezahlbare Unterkunft genannt.

Am nächsten Tag tauchte zu Christians großer Erleichterung tatsächlich einer der beiden Männer wie verabredet auf.

„Wir haben einen Platz für dich gefunden. Du wirst drei Tage mit dem Planwagen nach Westen fahren und dort in Mills Creek, einer kleinen Stadt an einem Fluss, zu einer Fabrik gebracht. Der Vater des Fabrikanten ist vor dreißig Jahren aus Bremen nach Amerika gekommen. Wenn du seinem Sohn diesen Brief gibst, dann sollte er dir eine Anstellung geben.“ Bevor Christian noch irgendwelche Fragen stellen oder sich bedanken konnte, machte ein Fuhrmann auf sich aufmerksam, der ungeduldig auf einen Planwagen wies. Mittags lag Philadelphia hinter ihnen. Christian befand sich erneut auf dem Weg in eine für ihn ungewisse Zukunft, aber er war so zuversichtlich wie schon seit Wochen nicht mehr.


Christian bemerkte eine leichte Ungeduld bei seinen Zuhörern und verzichtete darauf, über seine Eindrücke während der Planwagenfahrt zu berichten. Ihm war klar, dass der Kaufmann und der Gildemeister mehr an seinen Erfahrungen aus der Fabrik interessiert waren. Also fuhr er mit seiner Schilderung fort.


Die Fabrik, die am Abend des dritten Tages vor ihm auftauchte, war eine imposante Halle, an die zweihundert Fuß lang und aus Ziegeln und mächtigen Brettern erbaut. Aus ihrem Dach ragten insgesamt acht mächtige Schornsteine, bei denen Christian sofort ahnte, dass sie zu Schmiedefeuern gehörten. Obwohl es schon später Abend war, herrschte hier zu seinem Erstaunen noch jede Menge Betrieb. Der Kutscher, der die ganze Fahrt über kein Wort gesprochen hatte, erklärte ihm nun lang und breit, wo die Fabrikantenvilla zu finden wäre und wo er sich vorstellen sollte.

Christian brauchte nicht lange zu suchen, denn ihm kam ein Mann mit schwarzem Zylinder und Gehrock entgegen, in dem er den Fabrikbesitzer vermutete. Zu Christians großer Erleichterung sprach der Mann deutsch, wenn auch mit einem eigenartigem Akzent.

Nachdem Christian sich in aller Höflichkeit vorgestellt und dem Mann den Brief gegeben hatte, wurde er unerwartet freundlich begrüßt. Einer Anstellung schien nichts im Wege zu sein. Er wurde von seinem zukünftigen Arbeitgeber persönlich durch die vollkommen verrußte Halle geführt, in der Dutzende von Männern bei der Hitze von drei riesigen Öfen arbeiteten. Die sicherlich 50 Fuß hohe Halle wurde beherrscht durch eine Anlage, die der Fabrikant ihm voller Stolz als Bessemeranlage aus England vorstellte. Dieser Ofen hatte nichts mehr gemein mit dem Schmiedefeuer, an dem Christian noch vor wenigen Wochen gearbeitet hatte. An zwei Seiten standen aus hitzefesten Ziegeln gemauerte, scheunenhohe Hochöfen, zu deren Öffnungen oben Rampen führten. Über diese wurden auf Schienen mit Koks und Holzkohle beladene Loren über ein Seilsystem nach oben gezogen. Zwischen den beiden Hochöfen stand ein drei Mann hohes birnenförmiges Gebilde mit einem schrägen, offenen Hals aus schwarzem genietetem Stahlblech. Dieser Konverter, so teilte ihm der Fabrikbesitzer mit, diente dazu, das flüssige Roheisen direkt aus den Hochöfen aufzunehmen und durch Luftzufuhr in hochwertigen Stahl zu verwandeln. Und Christian erfuhr, wozu der Stahl benötigt wurde: Hier wurden Feuerwaffen auf dem neuesten Stand der Technik gegossen.

Christian war von den Eindrücken überwältigt: der Lärm, die Hitze, die Geschäftigkeit der Arbeiter. Aber zwei Dinge überzeugten ihn, hier am richtigen Ort zu sein. Hier würde er Kenntnisse erwerben, von denen er in Flensburg nicht einmal eine Ahnung gehabt hatte. Zudem war sein zukünftiger Dienstherr ein Mensch, der sich offensichtlich nicht in seiner Villa einschloss, sondern der sich in der Werkshalle zurechtfand und sogar mit den Arbeitern wie mit Seinesgleichen sprach. Hier würde er ein freier Mensch sein, dessen Fähigkeiten ungeachtet seiner Herkunft und Vorgeschichte gewürdigt werden würden.

Die nächsten Tage und Wochen vergingen wie im Fluge. Zwar wurden dem jungen Mann aus Flensburg schwere Tätigkeiten aufgebürdet, wie die Bestückung der Hochöfen mit Eisenerz und Holzkohle, aber Christian hatte sich nie vor mühsamer Arbeit gescheut. Es gab ihm Kraft und erfüllte ihn mit Freude, dass er in dieser Gießerei ganz neue Erkenntnisse über Eisen und seine Verarbeitung gewinnen würde. Ihm wurde erst jetzt bewusst, wie klein und unbedeutend seine Lehrstelle gewesen war, wie unzureichend sein Wissen war und welche Chance ihm diese Arbeitsstelle bot.

Sein Lohn war eher gering. Dafür war ihm zusammen mit drei anderen jungen Männern, darunter einer mit schwarzer Haut, eine gemütliche Unterkunft in einer Holzhütte am Gelände zur freien Verfügung zugewiesen worden. Die Arbeiter wurden mit gutem und nahrhaftem Essen versorgt und Christian war mit einem Satz an Arbeitskleidung aus festem Leder ausgestattet worden. Christian war zufrieden. Sein Heimweh, das er schlimmer als Hunger oder körperliche Schmerzen empfunden hatte, schien durch sein neues Leben geheilt zu sein.

Nicht nur sein unermüdlicher Arbeitseifer, sondern auch seine Neugierde und Wissbegier lenkten die Aufmerksamkeit des Vorarbeiters auf ihn. Dieser junge Deutsche brauchte nicht angetrieben werden. Seine Aufgaben erledigte er zuverlässig und schnell. Und der Junge machte einen intelligenten Eindruck.

Im Bessemerofen musste die Eisenschmelze aus dem Hochofen von 1200 auf 1500 Grad durch Sauerstoffzufuhr erhitzt werden, sodass dem Roheisen Kohlenstoff entzogen wurde und hochwertiger Stahl entstand. Dazu waren um den Boden dieses riesigen Eisenkessels ringförmig Luftkanäle angeordnet. Mit Hilfe handgeführter Klappen wurde die Luftmenge sorgsam reguliert, um einen gleichmäßigen Temperaturanstieg zu gewährleisten. An jeder Klappe hatte ein Mann zu stehen, der mehrmals am Tag auf Zuruf gleichzeitig mit den anderen die Luftklappe anzuheben hatte. Schon beim ersten Mal hatte Christian sich gefragt, warum man nicht durch eine einfache Mechanik aus Eisenstangen und Gelenken, die er in ähnlicher Funktion aus Flensburg als Viergelenkkette kannte, die sechs Blechklappen verband und damit fünf Arbeiter von dieser überflüssigen Aufgabe entlastete.

Er traute sich kaum, seine abends angefertigte Zeichnung dem Vorarbeiter zu zeigen, so banal erschien ihm die Lösung. Jetzt erkannte der Werksleiter, dass ihn sein Eindruck nicht getäuscht hatte: Dieser junge Mann war viel zu schade, um Loren zu füllen oder Kisten zu schleppen.

Er sollte die Gelegenheit bekommen, seine Fertigkeiten im Umgang mit Metallen unter Beweis zu stellen. Dazu wurde ihm ein neuer Arbeitsplatz in einer zweiten kleineren Halle zugewiesen, wo die in Form gegossenen Stähle weiterverarbeitet wurden. Und nicht nur das: Christian wurde einem Ingenieur namens Gatling an die Seite gestellt, der Deutsch sprach und den jungen Deutschen unterweisen sollte.

Schon bei seiner Ankunft in Philadelphia hatte Christian zunächst mit Erschrecken, dann mit Verwunderung festgestellt, dass Waffen zum Alltagsbild in Amerika gehörten. Hier war es anscheinend völlig normal, dass sogar einfache Bürger Pistolen oder Gewehre bei sich trugen, was in Flensburg sofort mit Festungshaft geahndet worden wäre. Auch eine Waffenfabrik, wie die in Mills Creek, in privaten Händen ohne Kontrolle durch den Staat, wäre in Dänemark oder wohl in ganz Europa undenkbar. Das Tragen von Waffen war in Amerika jedermann erlaubt, was zu einer großen Nachfrage geführt hatte, so dass viel Geld durch ihre Produktion verdient wurde. Und es hatte sich die Erkenntnis bei den Fabrikanten durchgesetzt, dass nur eine konsequente Weiterentwicklung der Waffen die Fabriken konkurrenzfähig machte. Gatlings Aufgabe war dabei, wirksamere Gewehre zu entwickeln.

Christian konnte sein Glück kaum fassen. Er, der in der Vergangenheit überwiegend grobe Schiffsnägel geschmiedet hatte, bekam hier in Amerika schon nach wenigen Wochen die Gelegenheit, an technisch anspruchsvollen Aufgaben mitzuarbeiten, wobei er sich schnell auszeichnete. Er entwickelte einen Eifer und eine Geschicklichkeit, die ihm einen deutlich höheren Lohn und Anerkennung einbrachten. Gatling sah in ihm seinen Zögling, für dessen technische Ausbildung er viel Zeit bereitstellte und dessen Fortschritte ihn erfreuten und immer wieder erstaunten.

Im drauffolgenden Frühjahr bot sich Christian die Möglichkeit, einem Verwandten des Fabrikbesitzers, der eine Reise nach Hamburg vorhatte, einen Brief für seine Eltern und für seinen Meister mitzugeben, in dem er seine Begeisterung über Amerika zum Ausdruck brachte und über seine Arbeit in der Waffenschmiede berichtete.


Fritz, der Gildemeister und der Ratsherr hatten wie gebannt den Worten von Fritz Bruder zugehört. Doch jetzt unterbrach ihn der Gildemeister: „Auch ich habe deinen Brief zu lesen bekommen. Wir alle waren hocherfreut zu hören, dass du nicht nur sicher entkommen konntest, sondern dass es dir auch so gut in Amerika ergangen ist. Hast du dein Gesellenwissen bei deiner Arbeit nutzen können?“ Fritz ärgerte sich, dass die Erzählung seines Bruders unterbrochen wurde. Aber ihm stand es wohl kaum zu, um Ruhe zu bitten.

Das Vermächtnis von Holnis

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