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REISENDE NACHBARN

VOM »TINKER« ZUM TRAVELLER

Jo schreibt:

Hinter unserem WG-Haus liegt ein großes Stück Brachland. Hat mir immer gut gefallen, ein Stückchen Natur in der Stadt und zumindest aus dem Küchenfenster ein Blick ins, nun ja, Grüne. Vor drei Tagen parkte dort ein einsamer Wohnwagen und zwar direkt hinter unserem Haus. Auf dem Brachland graste ein Pony, Wäsche war auf den Büschen zum Trocknen ausgebreitet. Ich ging raus, um zu gucken, was sich dort abspielte, und winkte der jungen Frau mit den gelbblonden aufgetürmten Haaren, die im Freien einen Teppich ausklopfte, freundlich zu. Sie zog ihr enges T-Shirt über die Röllchen über den Jeans, blickte kurz und ziemlich gleichgültig in meine Richtung und stapfte zurück in den Wohnwagen. Ein kleiner Junge mit raspelkurzen Haaren kickte enthusiastisch einen Fußball vor sich her. Hoffentlich landet der Ball nicht in einem unserer Fenster, dachte ich. Er strahlte übers ganze Gesicht, als er mich sah, und kickte begeistert weiter.

Abends erzählte ich den anderen, die erstaunlicherweise einmal voll versammelt waren, von unseren neuen Nachbarn. Ob das wohl Touristen seien, die das Brachland zum Übernachten nutzten?

Aisling bekam fast einen Schreikrampf. »Wir müssen die Polizei rufen! Mann, wenn das hier losgeht, ist keiner mehr sicher!«

Der sonst so lässige Conor wurde ebenfalls grimmig. »Packt alles ins Haus, was nicht niet- und nagelfest ist, schließt die Fenster unten und die Hintertür zur Küche immer ab, hängt keine Wäsche draußen auf! Die klauen alles. Und lasst die nie und nimmer ins Haus, wenn sie an die Tür klopfen und euch anbieten, die Auffahrt zu asphaltieren oder die Küche neu zu streichen. Oder was auch immer. Bloody tinkers!«

Micha und ich blickten uns ratlos an, Gianna zuckte mit den Schultern.

»Wieso?«, fragte ich schließlich. »Das ist doch nur eine kleine Familie. Was sollen die uns schon tun. Vielleicht sind die ja ganz nett, wenn wir sie einfach mal zum Kaffee einladen.«

»Einladen? Bist du des Wahnsinns?« Conor sah fassungslos aus.

»Jetzt pass mal auf«, meinte Aisling ungewohnt eindringlich. »Es geht nicht nur um diese Familie. Kommt eine, kommt der ganze Clan. Und weißt du, wie groß so ein Clan ist? Und wenn die nicht sofort vertrieben werden, kommt nicht nur ein Clan, sondern auch der nächste, dann streiten die sich und es kommt zu Messerstechereien und Faustkämpfen. Und dann sind auch wir nicht mehr sicher. Die kennen da nichts!«

»Und wartet mal ab, bis die ihren Müll über unseren Gartenzaun werfen. Da könnt ihr eure ganze Putzplan-Ideologie begraben.« Conor konnte sich die kleine Spitze nicht verkneifen.

»Und wie die mit ihren Tieren umgehen!«, setzte Aisling noch einen drauf. »Hast du schon mal in deren Camps die halb verhungerten Ponys gesehen oder die armen Hunde, die verprügelt werden?«

Gianna äußerte sich auch: »Sind das, äh, Zigeuner?«

Aisling und Conor schüttelten gleichzeitig den Kopf, Conor lachte hässlich. »Keine Zigeuner, jedenfalls nicht im Sinne von Sinti und Roma. Ganz ordinäre irische Asoziale. Basta!«

Micha zuckte merklich zusammen. »Zigeuner ist ja nicht gerade politisch korrekt, in welchem Zusammenhang auch immer. Und wieso Asoziale? Nur weil sie im Wohnwagen leben?«

»Ach, wieder mal typisch deutsch.« Conors Augen huschten zum Küchenfenster. »Immer schön PC (politically correct). Okay, dann sind das eben Travellers. Reisende, dass ich nicht lache. Troublemakers würde ich sie nennen. Die müssen weg. Ich ruf jetzt die Polizei.«

»Wollen wir nicht erst mal abwarten?«, fragte ich schon etwas zaghaft.

»Abwarten?«, kreischten Aisling und Conor unisono. »Wir dürfen keine Minute verlieren!«

Und ich dachte, die Iren wären so locker und tolerant ...

Kommentar von: Tina

Es ist einerseits schon traurig, dass sich die Travellers und die sesshaften Iren nicht verstehen und es wohl auch nie ein gegenseitiges Verständnis geben wird. Beide Gruppen sind einfach zu sturköpfig. Andererseits haben Aisling und Conor recht: Wenn erst einmal ein Wohnwagen auftaucht, folgt oft eine ganze Flotte. Und wenn irgendwo ein ganzer Clan zusammenkommt, ist in der Tat kein Ende abzusehen. Da hat dann auch die Polizei keine Macht mehr, die haben selbst viel zu große Angst vor der lauernden Gewalt. Und gewalttätig können diese Leute wirklich werden. Glaubt mir. Nicht alle, aber doch genug, um berechtigte Bedenken zu haben.

Travellers leben übrigens nicht immer in Wohnwagen. Der Staat sorgt für sie und lässt sie in besonderen Siedlungen leben, oder sie mieten sich selbst in irgendwelchen Häusern ein, meist in den billigeren Gegenden, wo der Vermieter keine Fragen stellt oder es ihm egal ist, wer in seiner Bruchbude haust.

Damals in Limerick habe ich mich, weil ich es nicht besser wusste, in einer Gegend eingemietet, die etwas heruntergekommen war. Meine unmittelbaren Nachbarn waren ein einziges Ärgernis. Nicht nur der Müll, den sie sich nicht bequemten fortzuschaffen, sondern auch die Kinderschar hat mich zur Weißglut gebracht. Dauernd tobten sie rum, bis spät in die Nacht, schmissen »zum Spaß« irgendwelches Zeug an meine Tür, die Männer parkten vor meiner Auffahrt und warfen Kippen über den Gartenzaun, und wenn ich mich bei den Frauen, die den ganzen Tag nur herumzuhocken schienen, beschwerte, wurde ich auch noch angemotzt. Kein Wunder, dass ich da bald weggezogen bin.

Kommentar von: Shane

Ich stimme Tina zu, bin aber erstaunt, dass eine Deutsche so unverblümt über Minderheiten reden kann, ohne den inneren erhobenen Zeigefinger der politischen Korrektheit zu beachten. Aber wer jemals in bestimmten Vierteln von Limerick oder Dublin oder manch anderen Städten gewohnt hat, wächst vermutlich über jeden Zeigefinger hinaus.

Jo, es gibt in Irland genauso wie in Deutschland und vermutlich überall die Haltung not in my backyard, also »nicht vor meiner Haustür«. Die Travellers mögen mit ihrer »zigeunerhaften« Lebensweise bei Ahnungslosen das Bild von Romantik hervorrufen: ein fahrendes Volk, das sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser hält, einen starken Familiensinn hat und eine Tradition pflegt, die sehr an kitschige Darstellungen in Film und Literatur erinnert. Pustekuchen. Travellers sind keine Romantiker, ganz im Gegenteil.

Es gibt einen guten Grund, warum viele Hotels, Restaurants und Pubs Travellers den Zugang verweigern: Es kommt häufig zu gewalttätigen Ausschreitungen, wenn verfeindete Familien aufeinandertreffen, besonders nach reichlich Alkoholgenuss. Da kommt es durchaus vor, dass Außenstehende und das Mobiliar zum Kollateralschaden werden.

Schon mal beobachtet, wenn eine Hochzeit oder Beerdigung der Travellers stattfindet? Die ganze Stadt steht dann still, und die Polizei hat Großeinsatz, als handele es sich um eine Demo. Was es im Grunde auch ist, nämlich die Demo einer Kultur, die auf der Macht des Stärkeren und auf der Angst der anderen vor Diskriminierungsvorwürfen beruht.

Blutrache? Klar, gehört zur Tradition. Frauen? Sind Eigentum. Kinder? Sterben oder überleben. Tiere? Sind Sachen. Andere Menschen? Gehören nicht zu uns und sind zum Ausbeuten da. Hört sich nicht nett an, oder? Tja, willkommen in der irischen sozialen Realität.

GYPSY, KNACKER, PAVEE, TINKER, TRAVELLER

Wie viele Touristen träumen nicht von einer Irlandreise mit einem der romantischen, bunt bemalten Pferdewagen? Es gibt diese sogenannten Zigeunerwagen durchaus zu mieten, auch wenn nur noch wirklich unverbesserliche Romantiker diese Art des Reisens wählen. Komfort und Wellness hat das Leben auf der Straße nämlich nicht zu bieten.

Das fahrende Volk Irlands, einst als tinkers (Kesselflicker), knackers (Rossschlächter), gypsies (Zigeuner) und heute politisch korrekt als Travellers (Reisende) bezeichnet, hat noch nie Romantik erlebt und schon gar kein romantisches Dasein.

In der Republik Irland leben geschätzte 31.000 Travellers, in Nordirland rund 2.000, etwa ein Drittel davon in Wohnwagen an Straßenrändern oder wo auch immer sie einen Halt finden. Der Rest lebt in Sozialwohnungen oder -häusern, ist aber deswegen noch lange nicht in die sesshafte Kultur integriert. Sie leben ihre eigene Kultur, was immer das bedeutet, meist jedoch nach archaischen Gesetzen, die jegliche staatliche oder soziale Autorität ignoriert, wenn auch zu ihrem Vorteil ausnutzt, was zwangsläufig zu Reibungen mit der »normalen« Bevölkerung führt. 2017 wurde ihnen von der irischen Regierung schließlich nach langem Drängen auch offiziell der Status einer ethnischen Minderheit zugesprochen, was nicht ohne Kontroverse blieb.

Der Überlieferung zufolge sind Travellers die Nachfahren enteigneter keltisch-irischer Landbesitzer. Erstmals wurden sie 1275 urkundlich erwähnt, zu einer Zeit, als die Anglonormannen Irland in Besitz nahmen, was aber nicht bedeutet, dass das fahrende Volk nicht schon vorher existierte. Fakt ist, dass sie zur Bevölkerungsgruppe Irlands gehören, die mit den größten Entbehrungen leben muss: Sie hausen, wenn noch im Wohnwagen, unter höchst unhygienischen Bedingungen, haben die geringste Bildung, sind am häufigsten krank und sterben früher als der Durchschnitt.

Es gibt jedoch durchaus Bemühungen der Travellers, ihre eigene soziale Situation, ihren Status und ihr Selbstbewusstsein zu verbessern. Offiziell nennen sie sich Pavee und bilden Interessengruppen, um ihre eigenständige Kultur der sesshaften Bevölkerung verständlich zu machen. Der Ausdruck »pavee« entstammt der Shelta-Sprache, die sich in der relativ abgeschlossenen Kultur der Travellers entwickelt hat. Es ist eine Art Kreolensprache aus Hiberno-Englisch, irischem Gälisch und Slang. Pavee bedeutet im Prinzip das Gleiche wie Traveller: Reisende.

Die Integration in die Mehrheitsgesellschaft klappt jedoch nur selten. Zu tief ist der Graben zwischen zwei irischen Bevölkerungsgruppen, die eigentlich aufgrund ihrer kolonialen Erfahrung zusammenhalten sollten. Auch Haben und Nichthaben greift hier nicht, denn arm sind nicht alle Travellers. Es ist eine tief greifende Abneigung, die von beiden Seiten aus Tradition geschürt wird.

BARRIEREN UND FELSBROCKEN

Oft sind vor Parkplätzen von Supermärkten, Parks oder anderen öffentlichen Plätzen hohe Querbalken angebracht, die nur für Pkw passierbar sind. Häufig sind auch auf dem Land vor freien Plätzen dicke Felsbrocken zu sehen, was ahnungslose Autofahrer auf engen Straßen oft wundern lässt, warum jegliche Ausweichmöglichkeiten versperrt sind. Das alles sind Vorsichtsmaßnahmen, um Travellers von der Niederlassung abzuhalten, da ihre Wohnwagen weder unter den Barrieren hindurchpassen, noch die Felsbrocken weit genug voneinander entfernt platziert sind, um ein Fahrzeug hindurchzulassen.

Fettnäpfchenführer Irland

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