Читать книгу SterbeMund - Petra Frey - Страница 10

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Wer länger lebt, ist später tot

So auch Frau Reim, selbst ernannte Feng Shui Expertin, mit einer beginnenden Demenz. Die starke Diabetes machte ihr zu schaffen und seit Jahren kämpfte sie mit heftigen Herzproblemen. Ich besuchte sie im Seniorenheim während meiner Ausbildung zur Hospizhelferin.

Ein schrulliges kugelrundes Menschlein mit struppigen roten Haaren, langen schwarzen Wimpern und blitz-blanken Zähnen. Ein süßes unbeholfenes Lächeln empfing mich, wenn ich in ihr Zimmer kam. Schon an der Kleidung konnte man ihre esoterische Art erkennen und jeder Besuch bekam lieb gemeinte Feng Shui Tipps. „Heute sagt mein Mondkalender, dass ich nach Süden schauen soll. Da bekommt man schöne Haut und das tut den Füßen gut. Der Süden. Den Füßen.“

Das Zimmer gemäß dem Mondkalender regelmäßig umzubauen, war ihre große Passion. Und so, wie der Mond wanderte, schob sie ihre Möbel passend durch den Raum. Mal stand der kleine Tisch in der einen Ecke, mal das Bett auf der anderen Seite. „Der Chi-Fluss ist wichtig. Ganz wichtig. Da muss man flexibel sein. Immer in Bewegung“, so ihre fachkundige Begründung. Eine weitere Leidenschaft waren aufdringlich duftende Räucherstäbchen. Unablässig qualmend hüllten sie das Zimmer in einen grauen Schleier und ließen sich nur schwer mit dem sterilen Geruch des Seniorenheims in Harmonie bringen.

„Vorsicht! Nicht in den Bereich vom Drachen setzen, bringt Unglück, wissen Sie. Nicht zum Drachen. Steht hier im Buch, da drinnen.“ Stolz hielt sie mir ihr Feng Shui Buch unter die Nase. Ich respektierte ihren Wunsch, die daoistische Harmonielehre aus China zu beachten und setzte mich auf den Hocker, der in der Nähe des Bettes stand. Windspiele bimmelten aufdringlich am Fenster und unaufhaltsam plätscherte ein Zimmerbrunnen, was zur Folge hatte, dass ich ständig aufs Klo musste. „Wissen Sie, Frau Frey, ich bin schon so lange auf der Welt. So lange. Ich habe den ganzen bösen Krieg noch gesehen. Hab ich gesehen. Aber es ist gut, wenn man so alt wird wie ich. Dann bin ich ja auch später tot“, erklärte Sie mir mit ihrer logischen Selbstverständlichkeit, während sie an den Haaren zupfte und herzhaft, ohne eine Miene zu verziehen, in eine ganze Zitrone biss. Dabei beschwor sie mich: „Sie dürfen nicht alles glauben, was sie denken!“

Sie war eine liebenswerte Person und ab und zu schaute ich auf einen kurzen Plausch bei ihr vorbei. Einmal rief sie mir schon von Weitem entgegen: „Oh, Sie müssen mir helfen! Ich habe sie verloren! Hab sie verloren. Sie sind tatsächlich weg. So ein Ungeschick aber auch.“ „Frau Reim, was haben Sie denn verloren?“ Sie sah mich mit einem Blick an, der eindeutig vermittelte, dass sie meine einfache Frage ganz und gar nicht verstand. „Meine Gedanken. Ich habe meine Gedanken verloren.“ Sie nahm ihre Umgebung in Augenschein und fixierte einen Stuhl in der Ecke des Zimmers. „Aber halt, nein da sind sie ja! Oh, wie schön. Da sind sie ja.“ Trotz ihres hohen Alters tänzelte sie leichtfüßig durch das Zimmer und deutete auf einen Stapel Wäsche. „Hier sind sie ja schon“, kicherte sie, „da lag nur das Handtuch drauf.“

Obwohl die Demenz schon sehr weit fortgeschritten war, hatte sie durchaus klare Momente und wir konnten uns stellenweise gut unterhalten. Bei einem meiner Besuche war sie geistig sehr wach, plauderte aus ihrem früheren Leben und erzählte mir von ihrer großen Liebe. „Wissen Sie, damals im Krieg, ich war noch sehr jung. Da hab ich meinen Heinz kennengelernt. Ein guter Mann und er war immer anständig zu mir. Ein guter Mann. Immer anständig.

Gott hab ihn selig. Ich hab ihn schon gemocht, schon. Weil er so lieb zu mir war. Geliebt habe ich ihn nicht. Ach, der arme Heinz. Gewusst hat das keiner. Es hat keiner gewusst. Meine echte Liebe aber, die war immer ganz in meiner Nähe. Ganz nah.“ Sie begann zu flüstern: „Wir konnten nicht zusammen sein. Das war im Krieg verboten. Ganz verboten. Es war zu gefährlich. Durch den Heinz haben wir uns sehen können. Keiner hat etwas davon gewusst, all die Jahre, ach, all die Jahre… Nur deswegen habe ich den Heinz ja geheiratet. Wegen der Nähe.“ Tränen der Wehmut glitzerten in ihren Augen, als sie fortfuhr: „Er ahnte wohl etwas. Ja, er hat‘s geahnt. Er liebte mich zu sehr, um es auszusprechen. Es war einfach zu gefährlich. Damals. Im Krieg. Der schlimme Krieg.“ Eine dicke Träne lief über ihre blassen Wangen. „Aber ich hätte es sagen sollen. Seine Liebe verleugnet man doch nicht!“

Zuerst verstand ich nicht so recht, dann aber deutete sie auf einen roten Bilderrahmen mit einem alten schwarzweiß Foto. Ich sah das Lächeln, dem einer Mona Lisa gleich. Sorgfältig gekämmtes Haar, in feinem Zwirn gekleidet und stattlich in der Haltung. Ein schwarzes Band zierte das Portrait.

Die heimliche und verstorbene, einzig wahre Liebe. Ihre Schwägerin. Klara Reim.

Und ich begriff, dass es für diese liebe alte Dame von großer Bedeutung war, ihr Geheimnis nach all den Jahren der Verleugnung wenigstens ein einziges Mal offen ohne Angst aussprechen zu können. Sie hatte ihrer heimlichen Liebe einen offiziellen Platz gegeben, konnte sich selbst verzeihen und ihr Leben und Sterben akzeptieren.

Wenn es uns vorbestimmt ist, dass wir einen plötzlichen Tod sterben, dann haben wir auf unser Schicksal keinen Einfluss. Genauso wenig, ob wir uns lange mit dem Sterben plagen müssen. Möglich ist aber, dass wir uns darauf vorbereiten.

Wenn wir rechtzeitig einen Plan aufstellen und vorbehaltlos auf unser Wirken schauen, stehen die Chancen auf einen fairen Abschied schon ganz gut. Das ist ja nicht eben mal eine Spritztour, sondern vergleichbar damit, dass Sie aus dem Haus gehen und für immer in ein anderes Land auswandern. Es gibt definitiv kein Rückfahrticket. Wer begleitet Sie? Wer nimmt Sie an die Hand und zeigt Ihnen den Weg? Weder kennen Sie Ihren Bestimmungsort noch wissen Sie wohin es gehen soll. Bestenfalls haben Sie schon etwas von Ihrem neuen Zuhause gehört oder gelesen, aber konkret weiß niemand genau, wie es aussieht. Geschweige denn, ob Sie jemanden treffen, der Ihnen auf Ihrem Weg behilflich ist. Es gibt keinen Reiseführer, keinen Dolmetscher, das Land ist Ihnen vollkommen fremd.

Der Zeitpunkt? JETZT. Ganz plötzlich, ganz schnell von einer Minute zur anderen. Sorry, aber leider keine Abschiedsparty, keine Umarmungen, keine guten Reisewünsche, kein letztes Treffen mit den Menschen, die Sie ein Leben lang begleitet haben.

Gefällt Ihnen dieser Gedanke? Wie fühlt sich das für Sie an? Möchten Sie wirklich Ihre Lieben so verlassen und sich ganz alleine auf den unbekannten Weg begeben? Sinnvoller wäre es doch, sich beim Kofferpacken helfen zu lassen. Ihre Partner, Kinder, Freunde angemessen zu verabschieden und die Reise ins Unbekannte mit aufgeräumten Gefühlen anzutreten. Vermutlich werden Sie die Zeit dafür bekommen, vorausgesetzt Sie sind nicht bei den fünf Prozent der plötzlich Versterbenden dabei.

Man stirbt, wie man lebte; das Sterben gehört zum Leben, nicht zum Tod.

- Ludwig Marcuse -

Aber wie lebt man denn richtig, damit man richtig stirbt?

Das Zitat von Ludwig Marcuse spaltete schon mehrmals die Geister, denn das würde bedeuten, ein Mensch, der vorbildlich lebt, sittsam und anständig ist, stirbt leichter. Hingegen hätten Verbrecher, Mörder und Vergewaltiger dann einen elenden Leidensweg und schmerzvolles Sterben.

Aus meiner Wahrnehmung heraus kann ich sagen, dass das nicht zuverlässig passiert. Ich denke, wer übermäßig schlecht mit seinem Körper umgeht, viel raucht, trinkt und sich auch sonst einen Dreck darum schert, was ungesund ist, der erliegt meist den Spätfolgen. Das ist dann nicht die erwartete Strafe für Fehlverhalten, sondern die logische Konsequenz eines radikalen Lebensstils. Wer trotz allem 99 Jahre alt wird, der hat einfach Glück gehabt. Umgekehrt ist es natürlich das Gleiche. Eine Garantie für ein langes gesundes Leben bekommt keiner von uns, auch wenn wir uns noch so sehr bemühen und unseren Körper gut pflegen. Die Wahrscheinlichkeit ist jedoch größer, dass ein gesunder Lebensstil auch ein gutes, gesundes Alter nach sich zieht.

Das Zitat ist meiner Meinung nach dann richtig, wenn ich es auf meine Begegnungen mit Schwerstkranken anwende. Im Sterben spiegelt sich oft wieder, wie das Leben genutzt wurde. Wie wurden soziale Kontakte und Freunde gepflegt? Wer ist seit vielen Jahren treuer Weggefährte? Behandle ich mein Umfeld gut? Wenn da nur ein „Herr Purzel“ zur Seite steht, wird es vermutlich eng mit einer guten Sterbebegleitung. Tolle Einträge und Kommentare auf der Facebookseite sind da ebenso wenig hilfreich wie das regelmäßige Posten von Selfies. Voraussichtlich werden keine Daumen–hoch–Freunde an der Krankenhauspforte klingeln, um Sie zu besuchen. Nichts gegen soziale Netzwerke, aber viele vergessen darüber gerne mal das richtige Leben und wundern sich dann, wenn es nur bei den oberflächlichen Whats–App–Genesungswünschen bleibt.

Ein Bekannter von mir hat tatsächlich ein Bild von sich im Klinikbett hochgeladen und im Internet verewigt. Es kamen auch sehr viele und gutgemeinte Wünsche übers Netz. Besucht hat ihn keiner.

Wenn es gelingt, eine positive Grundeinstellung im Leben zu finden und Frieden zu schließen mit den Menschen um uns herum und vor allem mit uns selbst, macht es nicht nur das Leben wertvoller, sondern auch das Sterben. Wer grundsätzlich schwer die Kontrolle abgeben kann oder sich vehement den gegebenen Umständen widersetzt, wird wahrscheinlich nicht friedlich und ohne Gegenwehr bei sanfter Musik dahin dämmern.

Bei manchen wird bis zum bitteren Ende die Krankheit gegoogelt, eigene Befunde erstellt und der Arzt genötigt, das genaue Ablaufdatum zu nennen. Mal sehen, ob das eigene Sterben in den Terminkalender passt. Wie soll sich ein vielbeschäftigtes Alphatierchen zurücklehnen können und die unaufhaltsame Wirklichkeit als gegeben hinnehmen? Menschen, die ihr ganzes Leben knallhart strukturiert und koordiniert sind, übersehen gerne mal die Planung für ihren eigenen Tod. Sie sind komplett fassungslos, wenn ihnen das passiert. Der Körper schaltet auf Pause, der Kopf und der Geist laufen im Schnellmodus weiter. Eine unglückliche Symbiose, die schwer zu ertragen ist. Lebensumstände und unser berufliches Engagement prägen bis an das Lebensende. Wenn jemand seiner Mission mit großer Leidenschaft gefolgt ist und dort bestenfalls die Erfüllung gefunden hat, der wird das vermutlich im Sterbeprozess nicht ablegen können. Im positiven wie im negativen Sinne.

Entspanne dich. Lass das Steuer los. Trudle durch die Welt. Sie ist so schon.

- Kurt Tucholsky -

SterbeMund

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