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annäherungsversuche

Nicole verbrachte immer mehr Zeit mit Julie. Nach der Arbeit rannte ich manchmal den ganzen Weg nach Hause, weil ich es nicht aushielt, auf den Bus zu warten. Nie wäre ich auf die Idee gekommen, mein Verhalten würde Vater auffallen. Aber nicht nur er merkte, dass ich verknallt war, auch Julie entging meine Aufregung nicht.

Als ich an einem besonders lauen Abend in die Wohnung stürzte, roch ich schon im Treppenhaus Paprika. Da Mutter bis halb sieben arbeitete, wusste ich, dass Julie kochte. Und wenn Julie zu Hause war, standen die Chancen gut, dass Nicole da war.

Vorsichtig stiess ich die Küchentür auf. Mein Herz setzte einen Schlag aus, als ich Nicole erblickte.

Sie fragte, ob ich einen Moment Zeit habe. Jetzt streikte auch meine Lunge.

«Für dich immer», zwitscherte Julie.

Ich warf ihr einen warnenden Blick zu, doch sie wandte sich grinsend ab.

Nicole wollte wissen, ob jemand an ihrem Laptop gewesen sei. Das Hintergrundbild zeigte sie auf demselben Segelboot wie das Foto im Internet. Doch auf diesem Bild wurde sie halb von einem alten Typen verdeckt. Ihr Vater? Er hatte die gleichen blauen Augen wie sie und sah ziemlich cool aus. Von grauen Haaren oder einem Bauchansatz war nichts zu sehen.

Um herauszufinden, ob sich jemand an ihrem Laptop zu schaffen gemacht hatte, zählte ich die zuletzt verwendeten Programme auf. Nichts kam Nicole verdächtig vor. Als ich auf eine Kopie der CD stiess, die ich Chris ausgeliehen hatte, staunte ich nicht schlecht.

«Etno Engjujt?», fragte ich. Täuschte ich mich, oder wurde sie tatsächlich rot? Ich kratzte meinen Mut zusammen und fragte, wie ihr die CD gefalle.

«Eigentlich stehe ich nicht so auf Rap, aber die Beats sind nicht schlecht», antwortete sie.

Tollkühn fuhr ich fort: «Wenn du albanische Musik magst, hätte ich dir noch andere Songs. Kennst du Lori? Es gibt ein starkes Lied von ihr mit Sinan Hoxha.»

«Ist das die Musik, die neulich bei dir lief? Mit dem Dudelsack?»

«Das ist kein Dudelsack, sondern ein Kavall.» Und dann passierte es. «Ja, ich glaub, ich liess Hoxha laufen. Er singt super schöne Liebesballaden.» Hatte ich soeben etwas von Liebesballaden gelabert, oder war das nur ein böser Traum?

Diesmal war ich sicher: Sie lief rot an. Stotternd versuchte ich, die Situation zu retten, und machte natürlich alles noch schlimmer. «Ich … ich meinte nicht …»

«Leo, deckst du bitte den Tisch?», rief Julie aus der Küche.

«Gleich», krächzte ich und startete mit zitternden Fingern den Internet Explorer. «Provider?»

«Hotmail.»

«Mit Alt und Pfeil nach unten kannst du nachsehen, welche User-IDs eingegeben wurden. Nennst du dich Nicole?»

«Nein, ich gebe meine Mailadresse ein.»

Ich drehte den Laptop so, dass sie den Bildschirm besser sah. «Der vorletzte Eintrag war ‹Nicole›.»

«Was bedeutet das?»

«Dass jemand versucht hat, deine Mails zu lesen.»

Als sie mich mit einer Mischung aus Bewunderung und Dankbarkeit ansah, fühlte ich mich so mächtig wie Iron Man, wenn er mit seinem Mini-Reaktor die Rebellen in Afghanistan besiegte.

Von diesem Abend an redeten wir ganz normal miteinander, abgesehen davon, dass meine Stimme meistens eine Oktave höher klang als üblich. Ich fragte mich nicht, warum jemand Nicole nachspionierte. Hauptsache, es gab mir einen Grund, sie zu beschützen. Als ich erfuhr, dass sie einen Nebenjob in der Recyclingfirma angenommen hatte, schlug ich freudig gegen die Wand. Jeden Mittwochnachmittag würde sie im Metalllager aushelfen. Wenn ich am Morgen eine halbe Stunde früher mit der Arbeit begann und nur dreissig Minuten Mittag machte, konnte ich um vier losfahren, um sie abzuholen.

Sollte ich sie fragen, ob das okay war? Oder einfach auftauchen? Was, wenn sie mir die Sache mit den Frauenrechten wieder an den Kopf warf? Mädchen waren total unberechenbar.

«Sag mal», fragte ich meine Schwester beiläufig, während sie das Geschirr spülte, «wohnt Nicole schon lange da?»

Julie warf mir ein Geschirrtuch zu. «Du kannst abtrocknen.»

«Das ist deine Aufgabe!», wehrte ich mich.

«Nicole mag keine Machos», flötete Julie.

Brummend gab ich nach. «Und?»

«Und was?»

Ich holte verärgert Luft.

Julie lächelte zuckersüss. «Warum willst du das wissen?»

Ich schwöre, sie genoss es!

«Gjyle!»

«Vier Monate.»

«Und vorher?»

«Vorher was?»

Das reichte. Wütend schleuderte ich das Geschirrtuch auf den Boden und stapfte davon.

«Vorher lebte sie an der Goldküste», rief mir Julie nach. «Ich glaube, in Erlenbach. Sie ging auf ein privates Gymnasium.»

Nicole war nicht nur reich, sondern auch noch intelligent. Aber warum wohnte sie jetzt in dieser Bruchbude? Wohl kaum freiwillig. Und dass sie offenbar vom Gymnasium geflogen war, bedeutete, dass wir uns möglicherweise gar nicht so unterschieden.

Das löste aber mein Problem noch nicht. Sollte ich Nicole fragen, ob ich sie abholen durfte? Oder einfach hingehen? Ich entschied mich, ihr nichts zu sagen. Als ich am nächsten Mittwoch eine halbe Stunde früher aufstand, war Vater im Bad. Ungeduldig wartete ich, bis er sich rasiert hatte. Endlich ging die Tür auf.

«Du bist schon auf?», bemerkte er überrascht.

Ich murmelte etwas Unverständliches und drückte mich an ihm vorbei.

«Leotrim!»

Ich blieb stehen, ohne mich umzudrehen.

«Leotrim», wiederholte Vater.

«Ja?»

«Sieh mich an, wenn ich mit dir spreche.»

Langsam drehte ich mich um. «Ja?»

«Hast du deine Hausaufgaben vergessen?»

«Nein, warum?»

Er sah demonstrativ auf die Uhr. Als ob mich mein Boss früher zur Arbeit bestellte, wenn ich meine Hausaufgaben nicht machte! Vater hatte keine Ahnung. Ich sah, dass er eine Erklärung erwartete. Ich wollte nicht verraten, dass ich Nicole abholte. Möglicherweise ahnte ich die Folgen bereits damals.

Lügen war zu riskant, also entschied ich mich für einen Teil der Wahrheit und erklärte, dass mir mehr Freizeit bleibe, wenn ich früher aufstände. Eine Ewigkeit lang starrte mich Vater nur an, bis meine Nase vom Geruch seines Rasierwassers zu jucken begann. Das brachte mich auf eine Idee.

Als ich endlich die Badezimmertür hinter mir zugezogen hatte, duschte ich kurz und holte anschliessend seinen Rasierer hervor. Es war nicht so, dass ich wirklich eine Rasur brauchte. Die paar Härchen auf meinem Kinn hatte ich letzte Woche schon wegrasiert. Aber Chris behauptete, dass der Bartwuchs kräftiger wurde, wenn man sich häufig rasierte. Ausserdem liebten Frauen Düfte, oder nicht? Also trug ich nach dem Duschen grosszügig Rasierwasser auf. Auch mit dem Deo hielt ich mich nicht zurück.

Ich hätte damit besser bis nach dem Frühstück gewartet. Mutter sah mich verwundert an, und auch Vater hob die Augenbrauen. Rasch erklärte ich, ich hätte keinen Hunger. Aus meinem Versuch, so schnell wie möglich zu verduften, wurde trotzdem nichts.

«Wie riechst du denn?», quietschte Julie hinter mir.

«Keinen Hunger?», stiess Mutter aus. «Ohne Frühstück gehst du mir nicht aus dem Haus!»

Innerlich stöhnend setzte ich mich zu Tisch. Von allen Seiten hagelte es Fragen. Nun war ich Iron Man auf der Pressekonferenz, nachdem mit einer Explosion des Konzernreaktors der Bösewicht ausgeschaltet worden ist und der Held seine wahre Identität verrät. Tapfer kaute ich mein Brot.

«Wirst du krank?», fragte Mutter.

«Eher liebeskrank», kicherte Julie.

Wenn es wirklich einen Gott gibt, wozu hat er kleine Schwestern erfunden? Mit einem «Tz» bedeutete Mutter ihr, still zu sein. Doch ich sah, dass sie schmunzelte. Nur Vater verzog keine Miene.

Der Arbeitstag wollte nicht zu Ende gehen. Kurz vor vier schmierte der Mail-Server ab, und ich fürchtete schon, ich müsse bleiben. Zum Glück hatte niemand Zeit, mir die Ursache des Absturzes zu erklären und schon gar nicht, mich zu instruieren. Mein Boss merkte nicht einmal, dass ich mich davonschlich.

Auf der Toilette zog ich mich hastig um. In den Hemden, die ich zur Arbeit trug, sah ich echt bescheuert aus. So wollte ich Nicole nicht unter die Augen treten. Lange hatte ich überlegt, was ihr wohl am besten gefallen würde. Schliesslich hatte ich das eingepackt, was ich immer trug: Jeans und ein weisses T-Shirt. Nicht besonders originell, ich weiss, aber besser als ein Fehlgriff.

Die Fahrt ins Tösstal kostete ein Vermögen, aber das war es mir wert. Obwohl ich die ganze Zeit aus dem Fenster starrte, nahm ich weder die Landschaft noch die Menschen wahr.

Die meisten Parkplätze der Recyclingfirma waren besetzt, und aus dem Schrottlager hörte ich ein lautes Grollen. Erleichtert, dass ich nicht zu spät war, stellte ich mich in den Schatten eines Baums. Schon kurz darauf verstummte der Lärm. Alle dreissig Sekunden holte ich mein Handy hervor, um auf die Uhr zu schauen. Nur mit Mühe zügelte ich den Drang, auf dem Parkplatz hin- und herzugehen. Ich wollte nicht nervös wirken, doch ich spürte, wie sich der Schweiss unter meinen Achseln sammelte. Unauffällig roch ich an mir. Vom Rasierwasser und dem Deo war nicht mehr viel übrig.

Um mich abzulenken, malte ich mir Nicoles Reaktion aus: Sie schleppt sich mit letzter Kraft aus dem Gebäude, völlig erledigt von der schweren Arbeit (warum hütet sie eigentlich nicht Kinder wie normale Mädchen?). Sie stolpert, aber dann sieht sie mich. Ein letztes Mal richtet sie sich auf, breitet die Arme aus, ruft meinen Namen, bevor sie erschöpft zusammenbricht. Ich bin rechtzeitig zur Stelle und fange sie auf. Dankbar schmiegt sie sich an mich, während ich sie zur Bushaltestelle trage.

Leider glaubte ich nicht, dass ich sie so weit tragen könnte. Sie war zwar lang und schmal, aber nicht so wie diese magersüchtigen Models. An ihr war schon was dran. Muskeln, wenn ich das richtig einschätzte. Ausserdem musste ich zugeben, dass das Ganze eher unrealistisch war.

Der nächste Versuch: Sie schafft es aus eigener Kraft zum Parkplatz. Dann sieht sie mich unter dem Baum, schlägt die Hand vor den Mund und hüpft vor Freude auf und ab. Gemeinsam schlendern wir zur Bushaltestelle.

Das passte wohl eher zu Julie als zu Nicole. Mädchen von der Goldküste scheinen nicht zu hüpfen.

Noch einmal von vorne: Nicole kommt heraus, ziemlich hungrig (Mist, warum habe ich nichts zu essen mitgebracht?). Sie ist müde, denkt an die Hausaufgaben, die sie bis morgen erledigen muss. Dann sieht sie einen bekloppten Shipi mit Schweissflecken unter den Armen. Sie verdreht die Augen, fragt, ob ich mich verirrt hätte und lässt mich wie einen Loser stehen.

Das war schon realistischer. Aber nun schwitzte ich erst recht.

Ich war so mit dieser Horrorvision beschäftigt, dass ich Nicole gar nicht sah, als sie endlich herauskam. Erst als ich Schritte hörte, merkte ich, dass jemand auf mich zu rannte. Ja, rannte! Vorsichtig ging ich ihr entgegen. Auf der Kinoleinwand hätte sie sich mir in die Arme geworfen, aber mir reichte es völlig, dass sie vor mir stehen blieb und freudig fragte, was ich hier mache (nicht, ob ich mich verirrt hätte).

Sie war genau so verschwitzt wie ich, doch im Gegensatz zu mir stank sie nicht. Wie immer trug sie ein enges T-Shirt, unter dem sich alles abzeichnete. So unauffällig wie möglich musterte ich sie aus dem Augenwinkel. Das waren wirklich Muskeln.

«Hast du früher Basketball gespielt?», fragte ich, während wir zur Bushaltestelle schlenderten.

«Nicht in einer Mannschaft. Aber Ballsportarten fand ich schon immer super. Allerdings nicht so toll wie das Tanzen.» Sie erzählte, dass sie elf Jahre ins Ballett gegangen sei.

Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. «Das ist kein Sport!»

Sofort schoss ihr Kinn in die Höhe. «Und ob! Ballett ist anstrengender als Basketball.»

«Auf den Zehenspitzen herumtrippeln soll anstrengend sein?»

«Versuch es doch mal!»

«Ich?» Ich lachte immer lauter.

«Feigling», spottete sie.

Das fand ich nun gar nicht zum Lachen. Mich bezeichnet niemand als Feigling, schon gar kein Mädchen! Ganz die arrogante Zicke baute sie sich vor mir auf. Innerlich begann ich zu kochen. Aber dann kam die Abendsonne hinter einer alten Fabrik hervor und schien direkt auf ihre Haut. Ich stand so nah, dass ich die goldenen Härchen an ihrem Hals sah. Dass ich überhaupt noch denken konnte, grenzte an ein Wunder. Ich konnte jedoch nicht nur denken, ich hatte sogar eine geniale Idee. Ich schlug einen Tausch vor: Wenn sie mir etwas über sich erzählte, würde ich ihr vortanzen. Zu meiner Überraschung stieg sie darauf ein.

Auf der Fahrt nach Zürich schilderte sie ihr Leben an der Goldküste mit Segelboot und allem drum und dran. Sie sei total glücklich gewesen – bis ihr Vater wegen Betrugs verhaftet wurde.

Ich hing an ihren Lippen.

Während sie berichtete, wie die Bullen ihr Haus auf den Kopf gestellt hatten, fuhr sie sich mit dem Handrücken über die Augen. In Gedanken sah ich das Foto auf ihrem Laptop. Ich fragte mich, wie sich das anfühlte, einen Vater zu haben, der zugleich ein Kumpel war. Zwar ehrte ich meinen Vater, aber mit ihm zu quatschen so wie mit Chris, konnte ich mir nicht vorstellen.

«Seitdem lebe ich mit Mam in Zürich», fuhr sie fort. «Aber nicht für lange. Bald kehren wir nach Erlenbach zurück.»

«Wo ist dein Vater jetzt?»

In der für sie typischen Art hob sie das Kinn. «Immer noch im Knast.»

Ich war geschockt, versuchte aber, mir nichts anmerken zu lassen.

«Vor eineinhalb Jahren habe ich das Taxi meines Vaters … ausgeliehen», gestand ich. «Ich wurde dabei erwischt.» Ich weiss nicht, warum ich ihr das erzählte. Irgendwie hatte ich das Gefühl, es würde sie trösten. «Die beiden Polizisten, die mich angehalten hatten, führten mich in Handschellen ab, als wäre ich gemeingefährlich.» Die Erinnerung war mir immer noch peinlich. Das war wieder so eine Situation gewesen, in der ich am liebsten «Escape» gedrückt hätte. Davon gab es einige in meinem Leben.

Inzwischen waren wir in die S-Bahn umgestiegen.

«Warum gehst du nicht mehr aufs Gymnasium?», fragte ich.

Sie lächelte verlegen. «Weil ich Mam eins auswischen wollte. Fürs private Gymnasium reichte das Geld nach Dads Verhaftung nicht mehr. Ich war sauer. Aber jetzt ist mir klar, dass ich das gar nicht will. Aufs Gymnasium gehen, meine ich.» Sie erzählte von ihrem Traum, Balletttänzerin zu werden. «Das wollte ich schon immer. Aber natürlich gingen die Ballettstunden flöten, wie alles andere auch. Ich habe gedacht, mein Traum sei geplatzt, übte gar nicht mehr. Das war ein Riesenfehler. Vor einigen Wochen habe ich Marta Kryslowa kennengelernt. Da wurde mir bewusst, wie weit mich die Pause zurückgeworfen hat.»

Diese Marta war eine Nachbarin, die früher anscheinend eine berühmte Tänzerin gewesen war. Sie hatte Nicole angeboten, sie zu unterrichten. Im Gegenzug putzte Nicole regelmässig die Wohnung der alten Frau und kaufte für sie ein. Bewundernd schüttelte ich den Kopf. Menschen, die sich für ihre Ziele einsetzten, machten mir Eindruck.

Am Hauptbahnhof stiegen wir aus und bahnten uns einen Weg durch die Menschenmassen. Vor der Rolltreppe kratzte ich meinen Mut zusammen und blieb stehen. Jetzt oder nie, dachte ich. Was ich versprach, das hielt ich auch. Nicole hatte es genau so viel Überwindung gekostet, das mit ihrem Vater zu erzählen. Ich holte Luft, streckte beide Hände in die Höhe und versuchte, auf den Zehenspitzen zu balancieren.

«Was machst du?», fragte Nicole.

«Ballett.»

«Hör auf, das ist ja peinlich!» Sie krümmte sich vor Lachen.

Rund um mich sah ich grinsende Gesichter. «Aber nicht anstrengend», gab ich zurück.

«Du machst es falsch.»

«Mach es vor.»

Ich glaube, ihr war es noch peinlicher als mir. Trotzdem warf sie sich in Pose und tanzte mir etwas vor. Es sah verdammt gut aus. Wie ein Affe ahmte ich es nach. Inzwischen hatte sich rund um uns herum ein Kreis Leute gebildet.

«Siehst du, es ist ganz einfach, auf den Zehenspitzen zu stehen», foppte ich.

«Dein Fuss ist nicht gestreckt. Ausserdem geht es beim Ballett nicht nur darum, auf den Zehenspitzen zu tanzen.» Sie verdrehte ihre Beine, bis sie dastand wie Goofy, beide Füsse abgewinkelt, die Fersen aneinander gedrückt.

Ich fürchtete, die Bänder in meinen Knien würden reissen wie alte Keilriemen, versuchte aber, mir nichts anmerken zu lassen. Als sie in dieser Position dann eine Kniebeuge machte, wurde es mir zu viel. Das nannte ich nicht tanzen, sondern Masochismus. Bei ihr sah es ganz einfach aus. Nach der Kniebeuge schwebte sie wieder auf die Zehenspitzen und sprang so mühelos in die Höhe wie Mario auf ein neues Level. Ich kapitulierte. Game over.

Dass ich dann einfach ihre Hand nahm, sagte wohl alles über meinen Zustand aus. Unter normalen Umständen hätte ich mich nie getraut, sie zu berühren. Aber die Blicke der Leute, das Kribbeln in meinem Bauch, das alles war mir zu viel. Ich packte Nicole und rannte einfach drauf los, quer durch die Bahnhofshalle. Statt Dampf abzulassen, heizte mir der Spurt jedoch erst richtig ein. Als ich glaubte, nächstens zu explodieren, zwang ich mich, langsamer zu werden. Keuchend sah ich zu Nicole. Das war ein Fehler. Ihre Augen leuchteten, und sie grinste breit. An ihrem Hals klebte eine Haarsträhne, die ich am liebsten geküsst hätte. Das Kribbeln in meinem Bauch wurde immer stärker. Oh nein, flehte ich stumm, bitte nicht. Ich versuchte, an etwas anderes zu denken. An meine Hausaufgaben. An den verhassten Deutschlehrer. An eine Eisscholle. Es nützte nichts. Mein Puls hämmerte in meinen Ohren, bis ich nichts anderes mehr hörte. Meine Hand war klatschnass und so verkrampft, dass ich meine Finger nur mit Mühe von Nicoles lösen konnte.

Zum Glück stürzte sich Julie zu Hause sofort auf Nicole. Vaters Aufmerksamkeit war jedoch ganz auf mich gerichtet. Er zog die Augenbrauen zusammen, öffnete den Mund, schloss ihn aber gleich wieder.

Ich huschte in mein Zimmer und liess mich bäuchlings aufs Bett fallen.

Escape

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