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midnight basketball

Als Coach gehörten auch die Vorbereitungen fürs Midnight Basketball zu meinen Aufgaben. Jeden Samstagabend schloss ich die Turnhalle im Sihlfeld auf, setzte mit den andern Leitern die Musikanlage in Betrieb, reihte Bänke auf und holte Bälle aus dem Geräteraum. Die Arbeit machte mir Spass. Meist konnten wir nicht widerstehen und warfen bereits einige Körbe, bevor es losging. Die leere Turnhalle war wie ein Versprechen. Die Basketbälle lagen erwartungsvoll an der Seitenlinie, der Geruch nach abgestandenem Schweiss erinnerte an hitzige Zweikämpfe.

An diesem Abend nahm ich keinen Ball in die Hand. Ich machte mir auch keine Gedanken darüber, wie ich die Teams einteilen würde, obwohl mich das noch vor Kurzem ziemlich beschäftigt hatte. Einige Typen hatten Sheila beleidigt, ein Mädchen aus der neunten Klasse. Daraufhin schwor ihr Bruder Rache. Zwar kam er nie ins Midnight, aber sein bester Freund Darko machte regelmässig mit. Bei jeder Gelegenheit provozierte er Jamal und Steve. Aber die hatten natürlich auch ihre Freunde. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die ganze Sache hochging. Deshalb war es wichtig, wer mit wem zusammen spielte.

Coach zu sein war nicht einfach. Aber daran dachte ich jetzt nicht.

Denn Julie hatte Nicole mitgebracht.

Sie trug nicht nur ein enges T-Shirt, sondern erst noch eines ohne Ärmel. Ich begann schon zu schwitzen, bevor ich mich überhaupt bewegte. Auch die andern Coaches starrten immer in ihre Richtung. Nur Chris, der die Musikanlage untersuchte, liess sie kalt. Zumindest tat er so.

Ich fragte mich, warum Nicole Trainerhosen trug. Hatte sie etwa vor mitzuspielen? Obwohl im Midnight eigentlich der Sport im Mittelpunkt stand, schauten die meisten Mädchen nur zu, vermutlich, um ihre Fingernägel zu schonen. Manchmal ging mir das Gekicher an der Seitenlinie ganz schön auf die Nerven.

Um halb elf war die Halle voll. Ich teilte Darko und Jamal ins gleiche Team ein und hoffte, dass ihnen ein gutes Zusammenspiel wichtiger sei, als sich gegenseitig die Köpfe einzuschlagen. Chris drehte die Lautstärke auf, bis der Beat die Aufschläge der Bälle übertönte. Der Sound war so geil, dass ich Nicole für kurze Zeit vergass.

Bis ich sie spielen sah.

Sie glitt zwischen den Jungs hindurch wie ein Raubtier. Ein Jaguar eben. Den Ball führte sie eng am Körper, damit ihn ihr niemand wegschnappen konnte. Ihr Ballgefühl war so gut, dass sie nicht einmal nach unten zu sehen brauchte. Vor dem Korb gab sie Gas und sprang in die Höhe, als hätte jemand an einem Controller «jump» gedrückt. Offenbar traf sie auch, denn ich hörte begeisterte Rufe. Ich sah den Wurf nicht, denn als sie sich streckte, rutschte ihr T-Shirt nach oben.

Neben mir hörte ich einen leisen Pfiff. Steve grinste wie eine betrunkene Comicfigur. Die Wut, die in mir hochkam, überraschte mich selbst. Hätte sich Darko nicht genau in diesem Moment bedrohlich vor Jamal aufgebaut, hätte ich Steve gepackt, Coach hin oder her.

Ich stürzte mich zwischen Jamal und Darko, der mehr als einen Kopf grösser ist als ich. Beruhigend redete ich auf die beiden ein. Die Worte galten eher mir selbst, doch

Darko liess seine Faust sinken. Er folgte mir in die Garderobe, wo ich versuchte, zwischen ihm und Jamal zu vermitteln. Wir einigten uns darauf, dass in der Turnhalle Waffenstillstand herrschte.

Als ich in die Halle zurückkehrte, war Nicole vom Spielfeld verschwunden. Ich entdeckte sie neben einem Kaminfegerlehrling, mit dem sie sich bestens zu unterhalten schien.

Willst du einen Motor lahmlegen, so mischst du dem Benzin am besten Zucker bei. Der Motor wird zu stottern beginnen und dann widerstandslos verstummen. Das Auto wird garantiert nirgendwohin mehr fahren.

Genau das passierte mir.

Ich kannte den Kaminfeger nur flüchtig. Er war 1.90 Meter gross und besass einen Führerschein. Seine Wohnung musste er vermutlich seitwärts betreten, weil seine Schultern so breit waren. Zum Vergleich: Ich messe gerade mal 1.74 Meter und könnte mich durch einen Auspuff hindurchquetschen, wenn es nötig wäre. Ich bin zwar sportlich; aber egal, wie hart ich trainiere, breiter werde ich nicht.

Nicoles Gesicht glühte. Hoffentlich vom Basketball und nicht wegen des Kaminfegers, obwohl mir das eigentlich egal sein konnte. War es aber nicht. Genauso wenig wie die Tatsache, dass sie ganz normal mit dem Kaminfeger sprach. Mit normal meine ich, dass sie dabei nicht das Kinn in die Höhe reckte wie eine arrogante Zicke. Mit mir sprach sie nie so.

«Ich will nach Hause», sagte Julie neben mir.

«Nach Hause?» Ich sah auf die Uhr. «Es ist erst halb zwölf.»

«Darf ich alleine gehen?»

Ich schüttelte den Kopf.

«Bitte.» Julies Unterlippe begann zu zittern.

«Julie? Was hast du denn?» Auf dem Weg in die Turnhalle war sie fast hüpfend neben mir hergegangen. Pausenlos

hatte sie alles Mögliche geplappert. Traurig erlebte ich sie so selten, dass es mir jetzt richtig einfuhr.

«Nichts, ich will einfach gehen.»

«Ich muss bis Mitternacht bleiben, das weisst du.»

«Kannst du nicht eine Ausnahme machen?»

Könnte ich schon, aber dann sähe es aus, als würde ich mich vor dem Aufräumen drücken. Bevor ich sie fragen konnte, ob ihr jemand etwas angetan hatte, rannte sie davon. Zum Glück wusste ich, dass sie keinen Blödsinn machen würde, wie etwa alleine nach Hause zu gehen. Auf Julie konnte man sich verlassen. Ob ich Nicole bitten sollte, nach ihr zu sehen?

Sie quatschte immer noch mit dem Kaminfeger. Ich knallte einen Ball gegen die Wand.

Die letzte halbe Stunde kroch im ersten Gang vorbei. Als Chris endlich die Musik ausschaltete, fegte ich die verbliebenen Spieler vom Spielfeld. Julie tauchte wieder auf und begann, Bälle einzusammeln. Auch Nicole half mit, doch meine Schwester wich ihr aus.

Vor der Halle verabschiedete ich mich von den anderen Coaches.

«Also, dann mach ich mich auch auf den Weg», sagte Nicole.

«Alleine?» Wo war der Kaminfeger, wenn man ihn brauchte?

«Klar.»

«Ich begleite dich.»

Der erwartete Protest blieb aus. Nicole interessierte sich mehr für Julie. Offensichtlich wusste sie auch nicht, was mit meiner Schwester los war. Ob sie überhaupt noch Freundinnen waren? Manchmal änderte sich das über Nacht. Aus Mädchen wurde ich einfach nicht schlau.

Ich hatte keine Ahnung, wo Nicole wohnte. Eigentlich wäre es logischer, zuerst Julie nach Hause zu bringen, aber ich brachte den Mund nicht auf.

Zu meiner Überraschung ging Nicole in Richtung

Hardbrücke. Als sie zehn Minuten später vor einer Bruchbude stehen blieb, glaubte ich, sie wolle mich verarschen. Aber sie schloss die Tür auf, murmelte etwas, das wie «Tschüss» klang, und verschwand im Haus.

Zu Hause schloss sich Julie sofort in ihrem Zimmer ein. Ich ging in die Küche. Mutter stellte Samstagnacht immer eine Mahlzeit bereit, weil ich vor dem Basketball nur wenig ass. Ich häufte Frikadellen und Kartoffeln auf meinen Teller und verschlang sie stehend.

Der Spalt unter Julies Tür war dunkel. Es sah nicht aus, als käme sie noch einmal heraus. Ich ass ihre Portion ebenfalls auf. Während ich mir die Zähne putzte, zappte ich durch das TV-Programm.

Normalerweise bin ich nach dem Basketball erledigt. Ich lösche das Licht und schlafe sofort ein. In jener Nacht lief ein ganz anderer Film ab, als ich im Bett war. Kaum schloss ich die Augen, sah ich Nicole: beim Dribbeln, beim Werfen, beim Rennen, beim Passen. Mein Herz schlug immer schneller. Ich sagte mir, dass das nichts mit Nicole zu tun habe. Ich hätte auf jedes Mädchen im engen Turnleibchen so reagiert. Nur stimmte das nicht. Nicht jedes Mädchen bewegte sich so sicher wie ein Junge und sah dabei so … so kurvig aus. Bei der Vorstellung wurde mir fast ein wenig schwindlig. Zum Glück lag ich schon.

Am nächsten Tag kündigte Mutter Besuch von meinem Onkel und seiner Familie an. Julie musste in der Küche helfen, ihre Laune war noch genau so mies wie am Vorabend. Ich verbrachte den ganzen Nachmittag im Internet, obwohl ich eigentlich einen Aufsatz hätte schreiben müssen. Mir kam einfach nichts zum Thema «Gesundheit am Arbeitsplatz» in den Sinn. Ich wollte mich im Netz inspirieren lassen, aber meine Finger tippten automatisch «Nicole Ritzi» ein.

Ich fand mehrere Fotos von ihr. Jedenfalls hatte das

Mädchen auf den Bildern das gleiche Gesicht. Aber sonst stimmte nichts. Diese Nicole wohnte in einem schicken Haus mit Seesicht. Sie sass auf einem Ledersofa, total gestylt. Auf einem anderen Bild war sie in einem Segelboot, klatschnass und braungebrannt. Ich kopierte das Foto mit schweissnassen Händen.

Unter dem Vorwand, hungrig zu sein, betrat ich die Küche. Julie schnitt Zwiebeln. Hatte sie deshalb Tränen in den Augen?

Während ich nach einem Teller Kekse griff, fragte ich beiläufig: «Sag mal, ist Nicole schon lange in deiner Klasse?»

Mutter stellte die Kekse weg.

«Julie?», bohrte ich.

Sie sah nicht auf. «Nein.»

Unglaublich, da hat man das grösste Plappermaul als Schwester, und will man einmal etwas wissen, macht sie ein Geheimnis draus.

«Sondern?», fragte ich.

«Sondern was?»

«Seit wann geht sie mit dir zur Schule?»

«Ist doch egal!»

«Nun sag schon!»

«Seit August, zufrieden?»

«Und vorher?»

«War sie auf dem Gymnasium.» Julie liess das Messer fallen und rannte aus der Küche.

Verdattert sah ich ihr nach. Mutter hob das Messer auf und drückte es mir in die Hand. Was sollte ich damit? Sie zeigte auf die Zwiebeln. Erwartete sie etwa, dass ich weitermachte? Was war heute nur mit allen los?

«Warum fragst du nach Nicole?», wollte Mutter wissen.

Ich zuckte mit den Schultern.

«Deine Mutter hat dich etwas gefragt!», sagte Vater plötzlich in der Tür.

«Ich bin nur neugierig», antwortete ich rasch.

Vater hatte wieder seinen Blick drauf. Genau wie ich war er nicht besonders gross. Über seiner Hose zeichnete sich sein Bauch immer deutlicher ab. Aber wenn er so dastand, ganz ruhig, und mich mit seinen Augen fixierte, fühlte ich mich wie festgenagelt.

Er befahl mir, Getränke aus dem Keller zu holen. Erleichtert legte ich das Messer hin und verschwand aus der Küche. Ich warf einen Blick zu Julies Tür. Sie war zu.

Ich blieb länger als nötig im Keller. Die Luft war angenehm kühl, und als ich die Flaschen bereitstellte, dachte ich daran, wie ich als Kind Fussballbilder hinter den Harassen versteckt hatte. Wie alle Jungs meiner Klasse hatte mich während der Weltmeisterschaft das Fussballfieber gepackt. Auf dem Pausenplatz wurden Paninibilder getauscht; wer keine hatte, war ein Niemand. Doch so sehr ich darum bettelte, Vater kaufte mir keine. Er war enttäuscht über meine schlechten Schulnoten und hielt eine Belohnung für unangemessen.

Eines Morgens wickelte ich mein Pausenbrot aus und entdeckte drei Panini-Päckchen. Mutter hat nie ein Wort darüber verloren, aber jedes Mal, wenn Fussballbilder erwähnt wurden, wandte sie sich ab.

Stimmen erfüllten das Treppenhaus, und ich packte rasch die Flaschen. Zwei Stufen aufs Mal nehmend erreichte ich unsere Wohnung gleichzeitig mit meinem Onkel und seiner Familie. Julie stand wieder in der Küche, im Wohnzimmer hatte Vater den Tisch ausgezogen, damit er Platz für zehn Personen bot. Während ich Stühle holte, wurde über die Wahlen zu Hause diskutiert.

Ich hörte nur halb zu. Zwar nickte ich an den richtigen Stellen, doch in Gedanken durchlebte ich den gestrigen Abend. Als es an der Tür klingelte, war ich gerade bei Nicoles Treffer angekommen.

«Nicole?», stiess Julie aus.

Ich reagierte wie ein Autofahrer, der das Gaspedal mit der Bremse verwechselt. Zuerst raste mein Herz einfach los, dann hörte es auf zu schlagen, dann donnerte es wieder davon.

«Entschuldige, ich wollte nicht stören», sagte Nicole. «Ich gehe gleich wieder. Ich wollte nur etwas vorbeibringen.»

Da ich angestrengt aus dem Fenster starrte, sah ich nicht, was sie in den Händen hielt. Tuschelnd verschwanden Julie und Nicole im Zimmer.

Das Gespräch über die Wahlen war verstummt. Vater betrachtete mich schweigend.

«Leotrim! Darf ich eine Runde Autorennen fahren?», fragte mein achtjähriger Cousin.

«Klar!», antwortete ich befreit. Zusammen gingen wir in mein Zimmer.

Viel zu schnell stand das Essen auf dem Tisch. Julie kam Arm in Arm mit Nicole aus dem Zimmer, als wären sie immer beste Freundinnen gewesen. Unvorstellbar, dass meine Schwester noch vor einer halben Stunde dreingeschaut hatte, als passten ihr ihre Lieblingsklamotten nicht mehr.

Natürlich war auch für Nicole gedeckt. Diesmal protestierte sie nicht. Sie wirkte entspannter als beim letzten Essen. Ihr blondes Haar trug sie offen, so dass es ihre Schultern berührte. Was hätte ich dafür gegeben, mit einer dieser Haarsträhnen zu tauschen! Das Bild von ihr auf dem Segelboot tauchte vor mir auf: ihre gebräunte Haut, die in der Sonne trocknete, ihr flacher Bauch, auf dem ihre Hand lag. Ein Bein hatte sie angewinkelt, das andere ausgestreckt. Ich schob einen Berg Kartoffelstock in den Mund, um nicht laut zu stöhnen.

«Ich zweifle nicht daran, dass Gjyle die Prüfung bestehen wird», sagte Vater. «Sie ist eine hervorragende Schülerin.»

«Leotrim, machst du die Prüfung ein drittes Mal?», fragte mein Onkel.

Es passierte wieder: Zucker im Benzin. Bei jedem Familientreffen war die Aufnahmeprüfung ans Gymnasium

Thema. Der Kartoffelstock schmeckte auf einmal wie Pappe. Ich schüttelte den Kopf.

«Warum nicht? Willst du nicht, dass aus dir etwas wird?»

«Leotrim macht eine Lehre, das ist gut», sagte Mutter auf Deutsch.

Ich wünschte mir nichts sehnlicher, als einfach «Escape» zu drücken und das Programm vorzeitig zu beenden.

«Das Gymnasium ist besser», beharrte mein Onkel.

Na toll. Aber als sein Skype keinen Ton von sich gab, wer hat ihm die Audiotreiber aktualisiert? Und wer half ihm, als er vom Explorer auf Firefox umstieg und auf dem Desktop keine Verknüpfung mit der Website herstellen konnte? Sogar seine Software-Altlasten hatte ich ihm von der Festplatte geschafft.

«Hauptsache, er macht keine Dummheiten», sagte Vater bedeutungsvoll.

Bitte nicht, flehte ich innerlich. Nicht jetzt, nicht vor Nicole.

Als ich zum zweiten Mal durch die Aufnahmeprüfung ans Gymnasium gefallen war, fühlte ich mich so Scheisse, dass ich Vaters Taxi klaute. Ich weiss nicht, was ich mir dabei dachte. In mir kochte es, ich wollte einfach weg. Ich hatte genug vom ganzen Terror. Monatelang hatte ich gebüffelt, nur um durchzurasseln. Dass es knapp gewesen war, konnte mir egal sein. Entweder man war drin oder eben nicht.

Meine Spritztour endete auf dem Polizeiposten.

«Informatiker-Lehrstellen sind total begehrt», wehrte sich Julie für mich. «Und Leo hatte es viel schwerer als ein Schweizer, eine zu finden. Obwohl er beim Test als Zweitbester abschnitt!»

Ich wagte es, den Kopf zu heben und sah, dass Nicoles Blick auf mich gerichtet war. Bevor jemand Julie widersprechen konnte, zeigte Nicole auf die Teigtaschen.

«Was ist das?», fragte sie.

«Wir nennen sie Manti», erklärte Mutter. «Sie sind mit Hackfleisch gefüllt. Gjyle hat sie gemacht. Schmecken sie Ihnen?»

In meinem Kopf herrschte Chaos. Hatte Nicole mich absichtlich gerettet? Oder fragte sie zufällig gerade in diesem Moment nach den Manti?

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