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10. April, Faenza

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Angekommen in Faenza, der Stadt an der mittelalterlichen Verbindungsstraße von Nord nach Süd, setze ich mich erst mal in ein Straßencafé auf der Piazza del Popolo, bestelle Cappuccino und eine Brioche, und versuche, das noch junge Licht der Morgensonne und das harmonische Ensemble aus Uhrturm und Loggien zu genießen. Nur, die Ereignisse der letzten Tage stülpen sich mir wie ein zu großer Hut über den Kopf. Ich beruhige mich damit, dass mein Schutzengel mich bisher immer zuverlässig begleitet hat. Wo steckt er eigentlich? Ich könnte gerade einen mitfühlenden Helfer brauchen. Diese italienischen Himmelsboten sind eindeutig anders. Hat er mir seine Kollegen geschickt, weil er irgendwie verhindert oder überfordert ist? Sicher braucht er auch mal Urlaub, so wie ich. Sind Engel nicht frei von jeglichem Stress, von Bedürfnissen und sogar von Leid? Sie stehen auf jeden Fall auf einer höheren Stufe der Evolution als der Mensch. Aber die Evolution ist ja noch in vollem Gange, die himmlische Schöpfung also auch. Mich tröstet die Vorstellung, dass der Automatismus der Evolution in seiner andauernden Kontinuität die Auflösung der Trennung von Welt und Paradies irgendwann herbeiführen könnte. Als Ergebnis wären dann Engel und Mensch vielleicht sogar ein wenig gleichgestellt, als Wesen mit und ohne Flügel. Ich muss zugeben, ein guter Plan!

Beim zweiten Cappuccino denke ich darüber nach, ob mein grundsätzliches Dilemma vielleicht darin bestehen könnte, noch nie den fehlerlosen Partner, die passende Therapie oder den richtigen spirituellen Weg gefunden zu haben. Die Sehnsucht danach stellt mich immer wieder vor komplexe Lebensaufgaben, die noch umfassende Erfolge von mir verlangen. Und dass, obwohl mein Kopf genau weiß, wie unrealistisch diese Wünsche sind. Mein Gott … stopp … manchmal laufen mir meine Gedanken einfach davon!

Ich zahle und gehe erst mal auf die Suche nach einem Café mit saubererem Klo. Genervt haste ich durch die kleine Stadt. Nach dem vierten starken Kaffee bin ich vollkommen gaga. Der Himmel scheint mir zunehmend strahlender. Auf der anderen Straßenseite taucht etwas auf. Ein Leuchten? Ich ermahne mich dazu, Ruhe zu bewahren. Was auch immer, es ist jedenfalls nicht davon abzuhalten, sich mir in den Weg zu stellen. Ich bewege mich offensichtlich bereits wieder in einer anderen Form von Realität. Sich monolithisch vor mir aufbauend ist der Engel von einer fast aggressiven Dominanz. Ich will davon nichts wissen, schließe die Augen, wie ein kleines Kind überzeugt, so weniger sichtbar zu sein. Es hilft nichts. Er hat mich auserwählt, das ist die einzig mögliche Erklärung. Denn jetzt spricht er zu mir und, was er sagt, klingt wie eine Ermahnung:

„Elisa, mach einfach dein Ding. Du musst nicht immer alles analysieren oder verstehen. Liebe es einfach.“

„Was soll das, warum sagst du das zu mir?“, antworte ich mutig. Denn erstaunlicherweise bleibe ich diesmal halbwegs ruhig, und verspüre gleichzeitig den in mir verborgenen Wunsch eines Tages genauso zu leuchten wie er, denn ich befinde mich inzwischen mitten in seinem tiefen, luziden Blau. Diffus verschwommen hinter, vor und neben mir gleißend goldenes Licht. Ich fühle mich wie im Paradies. „Hungrig, Elisa?“, fragt er. „Ein Apfel reicht mir“, antworte ich ohne nachzudenken, in diesem völlig surrealen Geschehen und Dialog. „Verstehe“, sagt er, schon wieder im Vergehen.

Davongekommen! „Mach dein Ding“, hat er gesagt, schon wieder so ein absurder Spruch! Rechnen diese Engel mit mehr Akzeptanz, wenn sie sich möglichst cool geben, oder wollen sie erreichen, dass das Unmögliche durch den vermeintlich vertrauten menschlichen Slang in den Bereich des Möglichen rückt? Falls mir mal einer zuhört, werde ich ihm erklären, dass diese sprachlichen Anbiederungen für einen Engel überaus unpassend sind. Im Augenblick bleibt mir aber nichts anderes übrig, als mich schicksalsergeben damit zu beschäftigen, was „mein Ding“ sein könnte. Der dafür notwendige Fatalismus sorgt zumindest für etwas Abstand zu dem erneuten Mysterium.

Dennoch schleppe ich mich mit deutlich zittrigen Beinen weiter durch die Straßen des Städtchens. Orientierung suchend schaue ich hoch: Via degli Angeli. Wenig später, mein Blick fällt völlig arglos auf ein Plakat … in Großbuchstaben ANGELI. Ein harter Tag, außerordentlich hart sogar! Ist das nicht langsam etwas überzogen, Heilige Jungfrau, wieviel Kraft muss ich eigentlich noch aufbringen? Bisher fühlte ich mich in der Lage, ihr Erscheinen ohne übertriebene Hysterie zu verkraften, und das sogar ohne den Beistand meines Therapeuten. Ich befürchte nur, wenn das mit den Wundern nicht bald aufhört, gehen mir irgendwann die Nerven durch und ich drohe dem Wahnsinn anheimzufallen.

In der nächsten Bar suche ich Zuflucht, setze mich, schlage die Beine übereinander und die Tageszeitung auf. Bald darauf bleibt mein Blick an einem fetten Angelo kleben. Warum tun sie mir das nur an? Ständig will einer von ihnen etwas von mir, fordert Aufmerksamkeit und überstrapaziert meine Nerven. Wo bleibe ich mit meinen eigenen Bedürfnissen? Diese Engel verlangen binnen kurzem schon mehr Aufmerksamkeit von mir als mein Liebster zu Hause!

War ich gestern zum Telefonieren zu feige? Nein. Nicht wirklich! Ich habe nun mal beschlossen, ihn erst mal auf Eis zu legen. Obwohl ich mir inzwischen nicht mehr so ganz sicher bin, ob mein schneller Abgang falsch oder richtig war. Als ich wütend und überstürzt weglief, blickte mein Liebster durch mich hindurch, blieb definitiv ziemlich genervt zurück.

Welches Ziel ich mit meiner demonstrativen Abreise verfolge? Keine Ahnung. Auf jeden Fall loslaufen, das ist so meine Art. Man darf Wege auch gehen wenn der Kurs noch unklar ist. Nein, das ist nicht planvoll, aber auch kein purer Aktionismus, denn mein Bleiben hätte Kapitulation bedeutet. Das hat er nun davon, jetzt braucht er mir gegenüber nicht mehr abweisend zu sein, denn ich bin erst mal länger abwesend.

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