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2. Zwei Welten
Оглавление„Man kann sich auf zwei Arten irren. Man kann glauben, was nicht wahr ist, oder man kann sich weigern zu glauben was wahr ist.“
Søren Kirkegaard, Philosoph
Philipp überholte den Chrysler. Er musste den Hebel für den Blinker per Hand zurückstellen, der Rückholmechanismus war defekt. Als das klickende Geräusch stoppte und er an einem Birkenwäldchen vorbeirauschte, fiel ihm auf, dass er lange nicht darüber nachgedacht hatte, wie gut es ihm mit Gil ging.
Ja, er war sich genau genommen noch nicht einmal sicher, ob ihm das jemals bewusst war. Warum auch?
Wer fragt sich schon, wenn hohes Fieber überstanden ist, nach dem Grund der Genesung? So sehr uns auch das Schlechte mitnimmt, so flüchtig nehmen wir das Gute entgegen. Da war Philipp nicht anders als jeder x-beliebige.
Philipp hätte es nicht sagen können, warum das Leben mit Gil so gut funktionierte, obwohl ihm das vorher mit keiner anderen geglückt war. Aber, wie gesagt, er hatte auch nicht ernsthaft darüber nachgedacht, was wohl kein Fehler war. Hätte er es getan, dann, ja dann, wäre er vielleicht auf den Grund dafür gestoßen. Aber wäre das gut gewesen? Eher nicht.
Auch, wenn Philipp das Ideal einer romantischen Liebe zuweilen bis ins Lächerliche übertrieben schien, hätte es sein können, dass der Grund für sein geglücktes Zusammenleben ihm dann doch zu banal erschienen wäre.
Es lag nämlich nicht an Gils Person, wie er immer vermutete, oder doch zumindest nicht direkt.
Was sich für viele andere Paare eher zu einem Hindernis entwickelte, entpuppte sich bei diesem Paar zum fulminanten Vorteil. Zwei Menschen mit unterschiedlicher Muttersprache. Hier war es ein echter Segen. Wenn Philipp und Gil über ihre Liebe zu Bäumen sprachen, dann schwebten Gil die uralten, riesigen Mammutbäume vor, während Philipp an Pappelreihen oder Buchenwälder dachte.
Man kann sich denken, was passierte, wenn beide über Gefühle sprachen.
Gils Deutsch war mittlerweile hervorragend, Philipps Englisch war besser geworden.
Das tat der ganzen Sache allerdings keinen Abbruch. Jeder hatte seine eigene Vorstellung, sein eigenes inneres Bild von diesem oder jenen. Unschärfe, Mehrdeutigkeit und der letzte Rest von Diffusem, die einer Fremdensprache immer anhaften, bewahrten Philipps empfindlichen Kern vor Zudringlichkeiten, ohne dass er davon wusste.
„Nehmen sie die Ausfahrt“, tönte die Stimme aus dem Navigationsgerät. Nach ein paar Kilometern Landstraße, war er angekommen. Er fuhr durch knisternden Kies und parkte auf einem kleinen Vorplatz direkt vor einem Bauernhaus aus alten roten Ziegelsteinen, die Philipp so sehr mochte.
Dezente Farbunterschiede der schmalen Ziegel gaben der Wand Struktur, ließen sie lebendig erscheinen. Manche Steine hatten einen Stich ins Orangefarbene, bei anderen tendierte der Grundton ins Bräunliche.
Insgesamt aber hätte man die komplette Hauswand als rot bezeichnet.
An die matte Oberfläche der Steinwand hatte sich eine wilde Rose gelehnt, die offenbar provozieren wollte. An ihrem letzten Blütenkelch waren Blätter in kräftigem Pink.
Irgendetwas leuchtete noch am Armaturenbrett. Philipp stellte den Blinker zurück. Er war ein wenig zu früh angekommen, was oft der Fall war, denn er hasste es, zu spät zu sein. Wer zu spät kam, der verfügte über die Zeit der anderen, dachte er sich nämlich immer.
Er lehnte sich im Auto etwas zurück, betrachtete noch einmal die Rose vor den alten Klinkersteinen, entdeckte nun auch knallrote pralle Hagebutten und dachte über sein Leben und die Herausforderungen seines Berufes im Besonderen nach.
Je nach Persönlichkeitsstruktur der Bauherren mutierte die Planung eines Hauses zu einer Traumfabrik. Das wusste jeder erfahrene Architekt. Aus den tiefsten Schichten des Selbst meldeten sich unerwartet Wünsche zu Wort, die hin und wieder weder umsetzbar noch alltagstauglich waren.
Von Euphorie bis Größenwahn. Das war die Phase eins.
Ein guter Architekt, das wusste Philipp, versuchte diese Ideen seiner Kunden zurechtzustutzen und mit den Bedürfnissen in ihrem Alltag in Einklang zu bringen.
Ein guter Architekt wurde zum Therapeuten.
Dass wusste Philipp von seinem großen Vorbild. Richard Neutra ließ seine Kunden ausführliche Dokumentationen ihres Tagesablaufes schreiben. Dann entwarf er dazu das passende Haus, die passende architektonische Lösung. Neutra, das wurde ihm plötzlich klar, tastete die Gedankengebäude seiner Kunden ab, wie der Einsiedlerkrebs die neuen Schneckenhäuser.
Filigrane Bungalows, lichtdurchflutet und übernatürlich schwebend sollten wie eine zweite Haut das Leben ihrer Bewohner umhüllen. Neutra schlich auf Grundstücken umher wie ein Schmetterlingsfänger.
Er setzte sich ins Gras, beobachtete genau den Sonnenverlauf. Er betrachtete die Umgebung, die Bäume, andere Häuser. Notierte alles. Beschnupperte das Gelände wie ein Spürhund. Fühlte und übersetzte Gefühle in Gebäude, so intensiv, dass man sich nur wundern konnte.
Philipp hatte noch die Bausünden im Kopf, die an der kleinen Dorfstraße lagen. Einige standen wie schrullige, klobige Überbleibsel einer anderen Zeit in den Gärten. Vor ihren winzigen Fenstern waren selbst im zweiten Stockwerk mit Blick über Felder geraffte Vorhänge angebracht, wie um die Außenwelt in Schach zu halten.
Ja, es gab — so viel war klar — unterschiedliche Bedürfnisse, sogar sehr unterschiedliche. Je länger Philipp mit Menschen zu tun hatte, desto deutlicher verdichtete sich dieses banale Wissen.
Kleine Fenster, größere Fenster, riesige Fenster, Wände aus Glas: Licht, Licht, Licht. Aber halt! Jedes Fenster bietet zwei Perspektiven. Eine richtet sich in die Außenwelt, die andere nach innen in den Raum. Es gibt Bauherren (und Architekten!), die das vergessen. Und das nicht zu selten.
Beim abendlichen Spaziergang schlenderten Philipp und Gil oft einen Feldweg entlang, der unmittelbar am Rande eines Bebauungsgebietes lag. Dort hatte vor kurzem jemand ein einstöckiges, konventionelles Haus gebaut.
Die Süd-West-Seite zeigte auf das freie Feld und war komplett bis in den Giebel verglast. Als die Familie dann eingezogen war, hatte sie zwar einen Blick auf das freie Feld, aber jeder, der dort auf dem Feldweg herumspazierte, hatte auch einen freien Blick auf ihr Wohnzimmer.
Vor kurzem waren dort alle Fenster mit Jalousien verbarrikadiert worden, die von unten nach oben bis auf Personenhöhe geschlossen wurden. Nur ein schmaler Spalt warmen gelben Lichtes floss nun noch in die Nacht. Eine beleuchtete Theaterbühne kurz vor einem Auftritt, der nicht stattfinden würde.
Philipp stieg aus, um seine Gummistiefel anzuziehen.
Jetzt kam ein junger Mann in brauner Jacke und Boots mit großen Schritten, auf das Auto zugesteuert. Er wirkte optimistisch und offen, streckte die Hand aus.
Dann trat der junge Landwirt nah an Philipp heran, zu nah. So nah, dass Philipp die winzige Narbe neben seiner Augenbraue erkennen konnte. Sie war schmal und länglich, in der Mitte etwas dicker und ein klein wenig heller, als die restliche Haut.
Dem ersten Reflex nachzugeben und einen Schritt zurückzuweichen, erschien Philipp unhöflich. Er blieb einfach stehen. Ein neugieriges Augenpaar taxierte sein Gegenüber.
Philipp hörte sich plötzlich selbst reden. Er erkundigte sich, welche Art von Haus sein Beobachter gerne hätte, welche Fläche zur Verfügung stünde und welche Art der Beheizung favorisiert werde.
Er machte Vorschläge, erwog Vor- und Nachteile dieser oder jener Bauart. Es wäre egal gewesen, was er in diesem Moment gesagt hätte. Sein Beobachter schien mit ihm, diesem Fremden, völlig absorbiert.
Nach gut zehn Minuten trat der neue Bauherr einen Schritt zurück und sie plauderten so, als würden sie sich schon lange kennen. Die beiden Männer stapften durch matschiges Gras um das alte Bauernhaus herum bis zur Wiese, wo das neue Haus entstehen sollte. Nach einer knappen Stunde waren die ersten grundlegenden Fragen geklärt.
Es würde ein unkomplizierter Bau werden, dachte Philipp, während er geschickt einigen Schlaglöchern auf der schmalen Dorfstraße auswich. Immer seltener standen Häuser an der Straße. Erste Felder dehnten sich aus. Von weitem schimmerten sie samtig dunkelbraun und wässrig schwer. Aus der Nähe erinnerte der umgebrochene Boden mit seinen groben aufgerissenen Schollen an alte Ölgemälde, die die aufgerissenen Wellen eines dunklen stürmischen Meeres zeigten.
In einer engen Kurve fuhr Philipp langsam auf eine Wiese zu. Er konnte eine Holzhütte erkennen und als er näher kam, fiel ein Sonnenstrahl in einen alten Blechkübel, der daneben stand. Dann schlurfte ein braunes Pferd durch das Gras hinter der Hütte her und gleich darauf ein schwarz-weiß geschecktes Pony. Er stutzte kurz.
Merkwürdig …, ging es ihm durch den Kopf, als jemand hinter ihm ein paar Mal aufblendete. Im Rückspiegel konnte er sehen, wie ein Autofahrer mit dem Zeigefinger auf sein linkes Rücklicht deutete. Ja, er hatte mal wieder den Blinkhebel vergessen.
„Was für ein Zufall“, dachte Philipp. „Wie komisch ist das doch, von einer Wiese mit Pferden zu träumen“, sagte er sich. Dabei bemerkte er nicht, dass er sich gegen etwas sperrte. Erst einige Momente später gelang es ihm, zuzulassen, was er sofort wusste.
„Es war nicht einfach eine Wiese mit Pferden. Nein! Es war ganz genau die Wiese aus meinem Traum, mit genau denselben Pferden und dem Blechkübel und der Hütte“, dachte er etwas verunsichert.
Draußen zog offenes Gelände vorbei, ein paar weiße Wolken standen still und durchsichtig am Himmel. Zerzauste Bäume grenzten Wiesen von Feldern ab. Ein Fußweg schlängelte sich dazwischen und verlor sich im Nichts. Die Welt der Zufälle konnte schon kurios sein, das wusste Philipp nur zu gut.
Gils Mutter Brenda hatte im letzten Jahr einen Autounfall. Die ganze Geschichte spulte sich nun in Philipps Geist wieder ab.
Es war ihr nichts Dramatisches passiert. Prellungen vermutete sie selbst, aber sie wollte es vorsichtshalber abklären lassen. Weil sie leichte Schmerzen im Brustkorb hatte, bewegte ihre Ärztin den Schallkopf des Ultraschallgeräts über Brustkorb und Bauch. Auf dem Monitor dehnte sich ein kleiner dunkler Punkt aus. Kaum war er sichtbar, sprang dieses Dunkle über das Gesicht der Ärztin.
Wie sich später herausstellte, war es ein bösartiger Tumor. Glücklicherweise war er in einem Stadium, in dem er noch sehr gut entfernt werden könnte, meinte die Ärztin aufmunternd. Daran konnte sich Philipp noch gut erinnern. Mit dem, was im Inneren von Brenda passierte, hatten Philipps Erinnerungen wenig zu tun.
Brenda war überfordert. Sie war also gerettet? Vom Zufall gerettet! Bis vor kurzem wusste sie noch nicht einmal, dass ihr Leben bedroht war.
Sie atmete zu schnell, dann zu langsam, sie brauchte einige Zeit, bis das Atmen wieder zur Nebensache wurde. In ihrem Kopf begannen einzelne Gehirnregionen unabhängig voneinander Fragen zu formulieren, die wieder in sich zusammenfielen.
Es war, als ob sich gegensätzliche Gefühle bekämpften. Angst und Freude flossen ineinander, hoben sich gegenseitig auf und ließen eine Masse aus Neutralität zurück. Nach der geglückten Operation geschah etwas Merkwürdiges.
Brenda wehrte sich plötzlich mit aller Macht dagegen, dass ihr Unfall ein Zufall sei.
„Ich bin an diesem Tag, wie immer donnerstags zum Einkaufen in den Supermarkt gefahren. Aus heiterem Himmel habe ich während der Fahrt beschlossen diesmal eine andere Strecke zu nehmen. Einfach aus einer Laune heraus“, sagte sie.
Besonders absurd kam es Philipp vor, dass sich Brenda bei dem erstaunten jungen Mann, der ihr die Vorfahrt genommen hatte, später auch noch per Händedruck bedankte. Als habe der Verkehrssünder, ganz wie ein Notarzt einzig und allein das Ziel verfolgt, ihr Leben zu retten.
Der junge Mann wirkte zwar etwas verunsichert, Philipp bemerkte aber, wie sich sein Körper straffte und er einige Zentimeter an Größe gewann, als Brenda ihm ihre Hand aufdrängte. Es war offensichtlich. Brenda konnte es nicht ertragen, dass etwas so Zufälliges wie ein Tumor oder ein Autounfall ihr Leben in diese oder jene Richtung schleudern konnte.
Aber genauso ist es doch, dachte Philipp damals und er dachte es immer noch, während er über die schlecht geteerte Landstraße ohne Mittelstreifen fuhr.
Ist das Leben nicht wie eine dieser leidigen Wahrscheinlichkeitsrechnungen, die Philipp bei seinen Bauprojekten immer an einen Statiker abschob? Mittlerweile war er sogar mit ihm befreundet.
Der Statiker hantierte mit Formeln, um die Zufälle ihrer Zufälligkeit zu entreißen. Bei seinen Berechnungen floss das Eigengewicht der Konstruktion, z.B. eines Daches mit ein. Dann noch die Schneelast und alles, was üblicherweise von außen auf Gebäude einwirkt.
Wind, Hitze oder Kälte, die sich am Material zu schaffen machen und nicht zu vergessen die Wahrscheinlichkeit für Erdbeben, Schlammlawinen, Vulkanausbrüche und anderes Außergewöhnliches.
Eine Mixtur aus physikalischen Prinzipien, Naturgesetzen und Katastrophen. Aber was sind Katastrophen anderes als Naturgesetze?
Für die Natur ist ein Erdbeben, bei dem Häuser einstürzen und ganze Städte zu einem riesigen Haufen (unsortiertem) Bauschutt werden keine Katastrophe, warum auch? Genaugenommen sind Katastrophen einfach nur für den Menschen unerfreuliche Naturgesetze.
Und wie war das nun mit Brenda?
Brenda wurde zum Zentrum eines seltenen Zufalls. Etwa Gutes war Konsequenz des Schlechten. Manche nennen es Glück im Unglück, wie auch immer.
Dieser vergleichsweise harmlose Zusammenstoß hatte nicht nur einen Blechschaden für ein Auto zur Folge, er veränderte vor allem das Weltbild einer Frau. Genau das konnte Philipp nicht verstehen.
Und was noch schlimmer war: Je länger sich Brenda mit diesem Thema befasste, desto deutlicher drängte sich ihr das Gefühl auf, dass dieser Zufall nichts weniger als eine Bestimmung sein musste.
Dieser Gedanke, der sich anfangs wie eine fixe Idee anfühlte, schien Brenda mittlerweile im Griff zu haben, so nahm es Philipp jedenfalls wahr. Philipp hatte seine Schwiegermutter seit deren Unfall zwei oder drei Mal besucht, immer, wenn er und Gil ihren Urlaub in Kalifornien verbrachten.
Brenda hatte sich verändert. Sie schaute jetzt hin und wieder mit einem offenen aber fremden Blick ins Weite als suche sie nach etwas.