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3. Realitätstraum

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„Unsere Realität ist lediglich eine Illusion, wenn auch eine sehr hartnäckige.“

Albert Einstein, Physiker


Philipps Route schlängelte sich durch einen Wald mit Fichten. Im Dunkel zuckten gelbe, blinkende Lichter. Als er näher kam, konnte er eine rotweißgestreifte Fahrbahnsperre erkennen. Die Straße war wegen eines Unfalls gesperrt. Zerstreute Glassplitter und abgebrochene Teile einer Stoßstange lagen noch dort. Ein Polizist stand gelangweilt telefonierend am Straßenrand.

Philipp musste rechts abbiegen und gelangte auf eine noch engere Straße. Die riesigen Fichten standen hier noch dichter. Ihre Kronen, die sich nach dem Licht reckten, würden sich bald über der Straße schließen und den letzten Spalt Licht verdrängen. Schon jetzt war es fast, als führe man durch einen Tunnel mit einer schwachen Deckenbeleuchtung.

An der nächsten Kurve wurde es wieder heller. Am Rand der Straße lagen Baumstämme aufgeschichtet. Wie ein Fremdkörper strahlte die grelle neongrüne Markierung, die auf die Schnittflächen einiger Stämme gesprüht war.

Die Stapel der gefällten Bäume wurden immer dichter. Philipp parkte auf einem kleinen von Tannennadeln übersäten Waldweg, um einen Blick in sein Smartphone zu werfen. Er wollte wissen, ob er noch im Baumarkt, der auf dem Weg lag, ein paar Liguster-Stauden kaufen sollte.

Gil hatte überlegt, sie vor einen unschönen Zaun im hinteren Teil des Gartens zu pflanzen. Sie hatte sich heute Morgen noch nicht entschieden.

So war das mit Gil. Sie legte sich nicht gerne fest, solange noch Zeit für andere Optionen war. Sie lebte gerne in einem „offenen Modus“, wie sie es nannte. Sie malte sich vorher auch selten aus, welche Konsequenzen ihre Entscheidungen haben könnten. Gil traf Entscheidungen am liebsten spontan. Und zwar Entscheidungen jeder Größenordnung. Ganz egal, ob es sich um einen Umzug in ein fremdsprachiges Land handelte oder um den Kauf einer Pflanze. Bei ihr unterlag alles demselben Prinzip.

Für den Entschluss, zu Philipp nach Hamburg zu ziehen, brauchte sie noch nicht einmal zehn Minuten. Philipp würde es nie vergessen.

Sie saßen im Starbucks in Kalifornien, in der Nähe der Universität, als Philipp, dessen Auslandssemester sich dem Ende zuneigte, diese Idee hatte. Gil hatte ihn mit einem schnellen prüfenden Blick betrachtet. Dann bestellte sie sich einen Espresso und einen Muffin. Philipp konnte das leise Knacken der Schokoladenstückchen hören, als Gil kaute.

Gleich nachdem sich die Schokolade mit dem Espresso auf ihrer Zunge gemischt hatte, war ihre Entscheidung gefallen. So sehr Philipp sie dafür bewunderte, so fremd war ihm ein solches Verhalten. Selbst dann, wenn etwas schief ging, war es nicht anders. Vor ein paar Jahren hatte Gil einen großen Ahorn im Garten pflanzen lassen und kurze Zeit später bereute sie es schon, weil er nicht an die ausgesuchte Stelle passte. Die Pflanzaktion kostete ein paar hundert Euro. Ein anderes Mal verlor sie durch ein Börsentief dreißigtausend Euro. Gil ärgerte sich über den Baum.

Philipp plante sein Leben weitsichtig und möglichst bis ins Detail. Er verrechnete schon als Kind Aufwand mit Gewinn. In der Schule lernte er so viel wie möglich, um so wenig wie möglich an Hausaufgaben sitzen zu müssen.

Während sein Bruder einen Schokoriegel, sofort gierig verschlang, brach sich Philipp von seinem nur eine Hälfte ab und aß sie. Philipp ergötzte sich an dem Wissen, dass er später diesen Genuss noch einmal würde haben können und noch einen mehr: Den Anblick seines neidischen Bruders.

„Bringe drei Liguster mit. Topf oder Wurzelstock, egal“, stand in der SMS. Auf dem kleinen Waldweg konnte Philipp nicht wenden. Rückwärts auf die Straße zu rollen in einer Kurve wäre ihm nicht eingefallen. Gil hätte das gemacht. Er fuhr langsam weiter in den holprigen Weg hinein, der breiter und am Ende deutlich heller wurde. Ein schrilles Geräusch von Maschinen war zu hören und er sah die Holzkonstruktion einer kleinen Halle. Da stand ein Sägewerk.

Ein wuchtiger Baumstamm wurde von einer Maschine in Bretter zersägt. Wie ein Schneegestöber wirbelten Späne in die Luft und rieselten zu Boden. Im Hintergrund stand ein Mann, nur unscharf zu sehen, seine Jacke verschwamm im dunklen Tannengrün. Nur seine blaue Mütze war sehr deutlich zu erkennen. Philipp betrachtete lange die blaue Mütze.

Dann spürte er etwas, das sich wie einen Sog, anfühlte, so als ob im Inneren sich etwas langsam drehte und ihn in eine bestimmte Richtung saugte.

Nun begann sich das gewohnte Gefühl von Zeit aufzulösen. Das Fließen, das alle Ereignisse nacheinander aufreiht, wie Perlen auf einer Perlenschnur, war ins Stocken geraten. Zwei Zeitpunkte hatten sich aufeinander zu bewegt, wie ein Magnet, zogen sich zu einem einzigen zusammen.

Für den Bruchteil einer Sekunde waren Traum und Wirklichkeit miteinander verschmolzen, wie eine Mischung aus Zement und Wasser, die zu Beton wird.

UNAUFLÖSLICH.

Philipp versuchte, beides wieder zu trennen. Da war doch sein Traum und da war die Wirklichkeit. Genau jetzt hier. Die Wirklichkeit zeigte ihm seinen Traum. Oder war es umgekehrt?

Was war geschehen?

„Ganz langsam“, sagte er zu sich. Zwei identische Ereignisse hatten sich übereinander geschoben. Doch auch das traf es nicht, es kollidierte mit seinem Gefühl. Es war, als ob seine Gefühle einen Kurzschluss im Verstand auslösten.

Seine schnellen Versuche, im Kopf alles zu ordnen, einzuordnen in das, was er geträumt, und das, was er erlebt hatte, alles zu trennen und zu sortieren, scheiterten.

Philipp senkte irritiert und entmutigt den Kopf. Auf seinen Oberschenkeln lag noch das Smartphone. Es wirkte wie etwas Fremdes. Auf unerklärliche Weise hatte es seine Normalität verloren.

Alles, was er dachte, machte es ihm unmöglich das, was er gesehen hatte, auf sachliche, folgerichtige Weise zu deuten. Das machte die Sache nicht nur kompliziert, es hinterließ auch ein mulmiges Gefühl im Magen. Er nahm das Smartphone und legte es auf den Beifahrersitz, als ihm etwas klar wurde.

Er konnte die Traumsache zwar nicht logisch erklären, aber er wusste etwas. Er wusste etwas, aus sich selbst heraus. Es war kein angelesenes oder angelerntes Wissen. Es war gefühltes Wissen.

Philipp wusste, dass es sich nicht um zwei Ereignisse handelte, sondern um eines. Aber was heißt „wissen“? Er hätte nicht sagen können, woher diese felsenfeste Sicherheit kam. Vielleicht, weil es stimmte?

Weil Traum und Wirklichkeit vollkommen identisch waren?

Der Baum, der zersägt wurde, die Späne, der Mann im Hintergrund, die blaue Mütze. Als hätte der Schlaf einen Vorhang bei Seite gezogen und mit einem Fernglas die Wirklichkeit betrachtet.

Er fühlte sich hellwach wie nach einem Autounfall. Vor gut fünfzehn Jahren war er auf der Autobahn wegen einer Wasserlache ins Schleudern geraten.

Er hatte die Leitplanke gestreift. Sein Auto überschlug sich. Es blieb krachend auf dem Dach liegen.

Er kroch heraus, öffnete den unbeschädigten Kofferraum. Das Warndreieck und die Warnweste, die im Fach für das Ersatzrad lagen, vielen ihm von oben entgegen. Er sicherte den Unfallort wie ein Profi.

Dann zündete er sich eine Zigarette an (damals rauchte er noch). Er setzte sich auf die Leitplanke. Ein leichtes, eher inneres Zittern stellte sich ein.

Als Rettungswagen und Polizei eintrafen, gesellte sich noch Angst dazu. Er hatte nur ein paar Prellungen. Doch allein die Vorstellung, die Vorstellung darüber, was Schwerkraft und Aufprallenergie mit ihm hätten anstellen können, saß ihm noch lange im Nacken.

Jetzt spürte er wieder dieses innere Zittern. Banale Träume waren in seine heile Wirklichkeit gestürzt. Philipp legte vorsichtig den Rückwärtsgang ein, wendete und fuhr weiter. Die Holzhütte auf der Wiese mit den beiden Pferden geisterte nun durch seinen Kopf. Er sah die Szene nun in einem anderen Licht.

Er wischte alles bei Seite und kurvte etwas zu schnell aus dem dunklen Wald heraus.

Die Schatten der Fichten schienen ihn zu verfolgten, wie Zeugen für das Unfassbare. Erst als er wieder freies Feld sah, fühlte er sich wohler.

In einer Ecke der Gartenabteilung des Baumarkts gab es zwar halbvertrocknete Lebensbäume aber keinen Liguster. Er fragte eine Verkäuferin.

„Nein, Liguster haben wir gerade nicht mehr“, sagte sie, während sie ein paar umgewehte Töpfe aufstellte. „Aber gleich ein paar Straßen weiter ist eine Gärtnerei, vielleicht finden sie dort welche.“

Schon von weitem sah er die Glashäuser. Er parkte auf einem geschotterten Parkplatz. Gleich neben dem Gewächshaus konnte er endlich die Stauden finden.

Durch die Abflusslöcher ihrer Plastiktöpfe hatten sie ihre weißen Wurzeln in den Boden gekrallt. Philipp zog daran und riss sie aus dem Boden.

Als er die Töpfe auf die Theke mit der altmodischen Kasse stellte, sah er gerade noch aus dem Augenwinkel, wie er mit dem Ellenbogen etwas streifte, was sich dann bewegte.

Es war ein Winzling.

Ein kleines Pflänzchen.

Es stand am Tischrand in einem hübschen bunten Topf, kaum größer als ein Eierbecher.

Innerhalb von Sekunden bewegten sich ein paar seiner feinen fedrigen Blättchen aufeinander zu, wie ein Buch das sich selbst zuschlägt.

Für vier Euro neunzig kaufte er die Mimose. Als der Gärtner das kleine Ding in ein Stück Zeitungspapier einrollte, klappte es in Windeseile alle Blättchen zusammen. Nun hatte die Mimose dreiviertel ihrer Größe eingebüßt. Sie sah so mager und verdreht aus als wolle sie sich verstecken.

Die drei Ligustertöpfe mit ihren weißen Wurzeln, verteilten im Auto einen erdigen Geruch. Wo sollte er nur die Mimose verstauen?

Er nahm die Wasserflasche aus dem Getränkehalter, warf sie auf den Rücksitz und stellte die Mimose hinein.

Philipp war immer noch aufgewühlt. Aber er hatte schon etwas Distanz zu der Sache. Er überlegte, ob er Gil einweihen sollte.

Einweihen?

Einweihen!

Als handele es sich um ein Geheimnis. Um etwas, was man niemandem oder doch zumindest nicht jedem erzählen sollte. Tatsächlich fühlte sich Philipp, als sei ihm etwas zugestoßen.

Er stellte sich das Gesicht von seinem Freund, dem Statiker vor, sollte er ihm von der Sache erzählen. Zweifellos, daran gab es nichts zu rütteln, würde er ihn bestenfalls für überarbeitet, schlimmstenfalls für übergeschnappt halten. Bei Gil war es schwer zu sagen. Die Sache verwirrte ihn so sehr, dass es ihm sicherer erschien, zu schweigen.

Er hievte die Ligusterpflanzen aus dem Kofferraum. Dann befreite er die Mimose aus dem Getränkehalter, entfernte die Zeitung und hielt sie Gil vor die Nase. Mickrig, fast stachelig sah sie aus mit ihren zusammengeklappten Blättern.

In Philipps Augen konnte das ihrer Persönlichkeit nichts anhaben. Gil dachte zuerst, es sei ein Kaktus.

Sie fand, dass die Mimose genauso aussähe, wie ihre Tante Milla als sie drei war. Brenda hatte nach ihrem Unfall (oder sollte man besser Glücksfall sagen?), jedenfalls nach der Operation in einem Anflug von Sentimentalität alte Fotos hervorgekramt.

Auf einem etwas vergilbten war sie als Fünfjährige mit ihrer kleinen Schwester Milla im Schlepptau zu sehen.

Milla hatte gerade die Masern überstanden und war spindeldürr. Auf dem Foto wirkten ihre knochigen Beine und Arme ungelenk und verdreht wie angehängte Fremdkörper. Bald hatte Milla wieder zugenommen und sich innerhalb kürzester Zeit prächtig erholt.

Philipp stellte Milla auf die Fensterbank in seinem Arbeitszimmer und wusste, dass sie sich prächtig entwickeln würde.

Eines ihrer feinen zusammengepressten Blättchen löste sich gerade vorsichtig wie der Flügel eines Insekts und begann leicht zu vibrieren. Auf dem Schreibtisch am Fenster vor dem graublauen Himmel blinkte es Orange. Der Anrufbeantworter sah aus wie eine ausgefallene Ampel.

Der Statiker hatte eine Frage wegen einer Berechnung. Die Autowerkstatt stellte einen Termin für die Reparatur des Blinkers in Aussicht. Eine Frau Berger, die Philipp nicht kannte, bat um Rückruf.

Dinge mussten erledigt werden. Eines nach dem anderen. Der Reihe nach. Nun drängte die Zeit die Dinge wieder in eine Reihenfolge.

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