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4. Zeitlosengewächse

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„Eines Tages wird man offiziell zugeben müssen, dass das, was wir Wirklichkeit getauft haben, eine noch größere Illusion ist als die Welt des Traumes.“

Salvador Dali, Maler


Philipp erlebte noch immer, wie schon als Junge, Brüche in seiner Realität. Momente hereinbrechender Reflexion.

Sekunden überdeutlicher Klarheit. Ein Teil seines Bewusstseins schien sich dann von ihm abzulösen. Schwirrte hinaus in den Kosmos. Sammelte wie ein Satellit Daten über ihn. Sendete sie in ein Rechenzentrum. Mittlerweile schätzte er diesen Zustand. Gleisendes Licht leuchtete dann sein Leben aus, ließ keinen Winkel im Dunkeln.

Mitten im Treiben konnte er so — wenn notwendig — den Kurs ändern. Es war eine Art Freiheit. Philipp war immer schon frei, innerlich frei. Eine Freiheit, die das Glück des Losgelöstseins bedeutete.

Die Sache mit dem Traum, schien aber etwas ganz anderes zu sein. Ein harter Brocken.

Philipp ging nach draußen, um die Stauden in den Garten zu bringen. Dort entdeckte er inmitten von trockenen Gräsern eine zartviolette Herbstzeitlose. Gil hatte im letzten Frühjahr einige Zwiebeln dort in den Boden gesteckt.

Der Blütenkelch war ein wenig zur Seite gekippt. Ihr Stängel war sehr lang und dünn. Der viele Regen der letzten Wochen hatte ihr zugesetzt. Trotzdem schien sie inmitten der Brauntöne von vertrockneten Blättern und Blüten mit ihrem Violett fast zu leuchten, obwohl es langsam Dunkel wurde.

Eine HERBSTZEITLOSE, Philipp war stolz. Stolz, darauf dass er sich den Namen dieses Gewächses merken konnte. Er interessierte sich eigentlich nicht für Pflanzen. Er sah sie gerne an, mehr aber auch nicht. Er musste nicht ihren Namen kennen, nur weil er sie schön fand.

Bei Gil war das anders. In ihrer übersprudelnden Freude zeigte sie im oft, was sie wohin gepflanzt hatte. Erstaunlicher Weise konnte er sich dann meistens die Namen merken. Bei den Herbstzeitlosen war es besonders leicht. Herbstzeitlose, ein Name der ausgefallen war. Noch verrückter fand es Philipp, dass die Herbstzeitlose zur Familie der ZEITLOSENGEWÄCHSE gehörte.

Zeitlosengewächse hießen ein paar hundert Arten, die zu ungewöhnlichen Zeiten blühten. Zum Beispiel Ende Oktober, wie das kleine zarte Pflänzchen da draußen, das seinen Kopf an die Gräser schmiegte.

Philipp kam in die Küche, wo sich Gil am Kühlschrank zu schaffen machte. Sie versuchte ihre Marmeladengläser zu ordnen. Gil hatte einen Marmeladentick. Zitrone, Erdbeere, Waldfrucht, Quitte, Orange mit Zimt, egal was es im Supermarkt an neuen Marmeladen gab. Gil musste sie haben und gleich probieren. Beim Frühstück konnte sie sich dann manchmal kaum entscheiden. Der mittlere Glasboden des Kühlschranks war zum Marmeladenfach geworden. Philipp hatte schon oft über fünfzehn Gläser gezählt.

Woche um Woche zog dahin. Milla stand stolz und grün auf der Fensterbank. Hin und wieder warf sie eines ihrer winzigen gefiederten Blättchen ab. Sie wuchs schnell, wurde dabei instabil und lehnte sich an die Fensterscheibe.

Philipp besorgte ein dünnes Bambusstäbchen. Schon, als er es vorsichtig in die Erde steckte, zitterte sie. Als er dann ihren feinen Stil packte und mit einer Schnur an den Staab wickelte, gab es kein Halten mehr. Ihre Blätter zuckten. Im nächsten Augenblick waren sie alle zugeklappt. Genau wie abends, wenn es dunkel wurde.

Philipps Traum, oder war es seine Wirklichkeit, wie auch immer, war präsent wie am ersten Tag. Jederzeit konnte er jedes Detail abrufen. Mit jedem Tag, der verging, drängte sich die Sache noch mehr in den Vordergrund.

Das Gefühl als sich die Zeit wie eine Falttür zusammenzog, war so seltsam, dass es unter all seinen Gefühlen eine Sonderstellung beanspruchte.

Es war Sonntagmorgen, als Gil gerade die Orangenmarmelade mit Zimt auf den Tisch gestellt hatte und Philip noch etwas verschlafen in die Küche kam. Er steckte gerade zwei Brotscheiben in den Toaster, als er die Maske im Kopf wahrnahm. Wie ein Film spulte sich alles ab.

Er hatte von einem Einbruch geträumt. Von zwei Männern, die Frau Bertrams Schränke durchwühlt hatten.

Frau Bertram war eine Witwe, die drei Häuser weiter wohnte. Ihr Mann war vor einigen Jahren gestorben. Philipp und Gil hatten sie ein paar Mal besucht.

Sie saßen dann auf einem Sofa mit riesigen hellvioletten Rosenblüten und rosa Ranken auf cremeweißem Stoff. Sie tranken starken schwarzen Kaffee aus dünnen altmodischen Sammeltassen mit Goldrand.

Gil, die sich hauptsächlich mit Innenarchitektur beschäftigte, fand fremde Wohnungen spannend. Frau Bertrams Wohnzimmer war voll von afrikanischem Kunsthandwerk.

Ihr Mann war lange als Entwicklungshelfer in Afrika gewesen. Teile des Raumes sahen aus wie ein Museum. Vor allem eine große Maske aus bunt bemaltem Holz an der Wand fiel sofort ins Auge.

Man musste den Kopf ein wenig in den Nacken legen, um sie zu sehen. Sie hing zu hoch. Weil man sich sofort beobachtet fühlte, wenn man den Raum betrat, schaute jeder automatisch dorthin.

Wie Fransen, die an einen Teppich geknüpft waren, hingen am Rand der Maske dünne geflochtene Zöpfe aus hennagefärbten, strohigen Haaren herunter. Sie wirkten echt, und wer weiß, vielleicht waren sie es auch.

Die Augen der Maske waren schmal geschlitzt und die Augenlieder sahen aus wie Kaffeebohnen. Ein beinahe schwarzes Gesicht, rotbraun bemalt mit zotteligen Haaren.

Je nachdem, von welcher Seite man das Gesicht betrachtete, schien es entweder ins Leere zu starren, oder aber es observierte den ganzen Raum.

Darunter auf einer dunklen Kommode im Kolonialstil mit vielen winzigen Schubladen, an denen Ringe als Griff angebracht waren, schlurfte eine Elefantenherde aus Holz friedlich vor sich hin.

Das alles kannte er von den Besuchen bei Frau Bertram. Heute Nacht im Traum wurden diese Erinnerungen anscheinend wieder aufgefrischt. Übertrieben sorgfältig strich sich Philipp ein dickes Stück Butter auf sein Brot, während er auf etwas wartete.

Es war ihm nicht klar, dass er auf die Fortsetzung des Traums wartete.

Zwei stämmige Männer in Jeans, einer mit kurzem braunen Haar, der zweite mit Glatze, standen im Wohnzimmer. Sie öffneten geschickt und schnell die Türen der Wohnzimmerschrankwand.

Sie warfen Tischdecken heraus. Die Balkontür stand offen. Ein Windstoß spielte mit den Haaren der afrikanischen Maske als müssten sie getrocknet werden. Dann Dunkelheit. Schnitt. Ende.

Philipp versuchte sich an die Perspektive zu erinnern.

Wo stand er im Traum?

Aus welcher Richtung hatte er alles gesehen?

Je mehr er seine Position eingrenzen könnte, desto besser, desto sicherer.

Wie eine Wasserwaage, die man hin und her bewegen muss, bevor sie eine Waagrechte anzeigt, balancierte Philipp seinen Kopf. Nun schob sich die Luftblase exakt zwischen die beiden Markierungsstriche.

Da er die Maske gesehen hatte, die links an der Wand hing, aber auch die Balkontür, schräg gegenüber und den Wandschrank mit den Einbrechern, musste er in etwa in der Wohnzimmertür gestanden haben.

Allerdings sah er die Maske auf Augenhöhe. Das bedeutete, dass er alles aus einer höheren Perspektive gesehen hatte.

So wie eine Überwachungskamera, die fast schon an der Decke des Raumes angebracht war. Es war wie ein Blick auf eine Bühne aus dem obersten Rang. Sogar die Größe des Zimmers stimmte mit der Realität überein. Das gab ihm Sicherheit. Ein warmes Gefühl von Freude durchflutete ihn. Philipp spürte, wie sich langsam Ruhe und Gelassenheit in ihm ausdehnten.

Es war beruhigend, den Traum zu vermessen wie ein Grundstück. Am liebsten hätte er den roten Lichtstrahl seines Lasermessgerätes hinaus in die Dimensionen des Traumes geschickt.

Mit einem Gefühl von Erleichterung steuerte Philipp auf die Espressomaschine zu. Er schob eine dicke weiße Tasse unter den Auslauf, tippte auf die Stelle mit dem Symbol für zwei Tassen. Mit einem Ruck sprang das Mahlwerk an. Er wunderte sich darüber, dass ihm nie aufgefallen war, wie laut der Kaffeeautomat war.

Gil hatte dem Kater Trockenfutter in einen Napf geschüttet, was er gierig verschlungen hatte. Nun saß er im Flur und starrte auf die Stelle der Haustür, von der er sich wünschte, dass sie sich öffnen solle.

Gil machte es sich neben Philipp am Küchentisch bequem. Nach einigen trüben verregneten Tagen strahlten draußen die Farben. Sogar die grauen Pflastersteine schimmerten fröhlich. Das längst abgemähte Feld, das man vom Küchenfester aus sehen konnte, war näher als sonst. Seine Konturen schienen heute besonders scharf. Überdeutlich klar, wie unter einem Vergrößerungsglas.

„Lass uns etwas rausgehen“, meinte Gil. Sie überlegten gerade, wo genau sie spazieren gehen wollten, da klingelte es an der Tür.

Gil drehte den Schlüssel im Schloss. Man brauchte etwas Kraft musste sie ein wenig zu sich heran ziehen, denn die schwere Holztür öffnete sich nur ungern. Sie war alt und träge, aber sie war ein Schmuckstück. Eine Kassettentür, deren Front aus drei rechteckigen Flächen, Kassettenfächern bestand. Im mittleren Fach war die Holzfüllung wie eine sehr flache Pyramide gestaltet. Die Spitze zeigte auf die Besucher. Hier hatte die Tür Risse und Furchen.

Das Holz dehnte sich aus, saugte die feuchte Luft auf. Bei trockener Hitze verdampfte das Wasser in den Poren, dann zog sie sich wieder zusammen.

Der Kater schob sofort seinen Kopf zwischen den Türspalt, dann flitzte er weg. Zwei Polizisten betrachteten Gil betont freundlich.

Es war klar, dass ihr Besuch nichts Schlimmes zu bedeuten hatte. „Haben sie heute Nacht etwas Auffälliges gesehen oder gehört?“, fragte der jüngere der beiden Männer. Und ohne abzuwarten, schob er nach: „Bei einer Nachbarin, mit der Hausnummer achtunddreißig ist heute Nacht eingebrochen worden.“

Ob es um das Haus von Frau Bertram ging, fragte Gil. Einer der beiden Männer nickte. Es sei außer einem Sachschaden nichts weiter passiert.

„Frau Bertram ist für ein paar Tage weg gewesen und hat heute Morgen das Haus zerwühlt und mit geöffneter Balkontür vorgefunden“, sagte der Mann.

Gil hielt inne, überlegte kurz, aber mehr aus Höflichkeit.

Nein, sagte sie. „Ich habe weder etwas gehört noch gesehen.“

Dann überlegte sie kurz, ob sie die beiden herein bitten solle, entschied sich aber dagegen. Philipp hörte alles mit. Er kam zur Tür. Nein, er habe nichts gesehen, wollte er gerade sagen. Aber seine Stimme versagte, denn es stimmte ja nicht.

In dem kurzen Moment zwischen Denken und Sprechen wandelte er „gesehen“ in „gehört“ um. Bloß nichts falsch machen, dachte er. „Ich habe nichts Besonderes gehört“, sagte er leise. Das entsprach immerhin der Wahrheit.

„Gibt es denn schon Anhaltspunkte über die Einbrecher?“ und „Geht es um eine Einbrecher-Bande?“, wollte er wissen.

Das sei noch nicht klar, meinte der Ältere von beiden, aber das wäre gut möglich. Im Garten habe man Fußspuren von zwei Personen gefunden. „Aber das muss noch alles überprüft werden.“

Philipp hatte ihre Gesichter noch klar vor Augen. Der mit der Glatze hatte auffallend geschwungene Augenbrauen, fast wie eine Frau und ein kleines fliehendes Kinn.

Der Jüngere mit kurzen braunen Haaren war weniger markant, er hatte eines dieser Gesichter, die man leicht vergisst. Am liebsten hätte er das zu Protokoll gegeben. Sogar wie groß die Einbrecher waren und was sie anhatten, hätte er sagen können.

Es wäre eine sehr genaue Beschreibung geworden. Bis hin zu Muster und Farbe eines Hemdes.

Wie gerne hätte er sich von diesem Traumwissen befreit. Den ganzen Vorgang in eine Akte pressen lassen. Ordnungsgemäß als Wirklichkeit abgestempelt und polizeilich dokumentiert. Abgespeichert neben anderen Wirklichkeiten.

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