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Kapitel 1

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Mai 2018

Kathi Sailer kam gerade nach Hause, als ihr Handy klingelte. Heute war Donnerstag und es war wieder mal spät geworden, schon kurz nach 21 Uhr. Aber schließlich war jeder Donnerstag ein langer Arbeitstag. Die 30-jährige Kathi war seit drei Jahren stolze Pächterin der Kantine des Polizeipräsidiums in Lindenburg. Donnerstags, nach der Sperrzeit um 19 Uhr, fand immer die wöchentliche Teamsitzung statt. Dabei besprach sie mit ihren zwei Mitarbeiterinnen vom Service und den beiden Köchen hauptsächlich die Menü- und Einkaufspläne für die kommende Woche.

Hastig warf sie die Eingangstür zu ihrem Appartement hinter sich ins Schloss und kramte das Telefon aus der Handtasche. Abrupt blieb sie stehen. Ein Blick auf das Display verriet ihr, wer die späte Anruferin war.

»Mom?«, fragte sie überrascht und etwas genervt, »ist etwas passiert?«

Es musste schon etwas passiert sein, wenn ihre Mutter anrief. Kathi hatte, seit sie mit 18 Jahren von zu Hause ausgezogen war, kaum noch Kontakt zu ihrer Familie.

»Ja Kathi, es ist etwas passiert, dein Vater ist tot«, sagte Anna Sailer knapp.

»Was … «, flüsterte Kathi. ›Was redest du denn da, wieso sagst du so etwas?‹, wollte sie fragen. Aber sie sagte nur: »Wann? Was ist passiert? Hatte er einen Unfall?«

»Es war das Herz. Herzinfarkt sagte der Arzt. Es ist ganz schnell gegangen. Sie haben ihn gerade abgeholt.« Die Stimme der Mutter klang kühl und gefasst. »Die Beerdigung ist am Montag. Ich sag‘ dir noch Bescheid, wann und wo.«

Was gab es noch zu sagen? Eigentlich nichts, im Moment. So beendete Kathi das Gespräch: »Danke für deinen Anruf, Mom. Gute Nacht.«

»Gute Nacht«, sagte auch die Mutter kurz und legte ohne weiteren Kommentar auf.

Kathi setzte sich langsam auf das Sofa und legte ihr Handy vor sich auf den Tisch. Sie hatte im Zimmer keine Beleuchtung eingeschaltet. Der Mond schien fahl am wolkenlosen Himmel, aber die Dunkelheit war wegen der Sommerzeit noch nicht ganz angekommen. Nachdenklich sah sie aus dem Fenster und versuchte zu ergründen, was sie jetzt fühlte. ›Nichts‹, stellte sie schuldbewusst fest, ›jedenfalls keine große Betroffenheit‹. Nur eine leise Melancholie breitete sich langsam in ihr aus. Und zugleich Verwunderung. Ihr Vater war doch erst 69 Jahre alt und durchaus gesund gewesen. Von einer Herzkrankheit hätte sie doch gewusst? Oder? Aber was wusste sie schon. Die Kommunikation mit ihrer Familie beschränkte sich auf einen Anruf an Weihnachten und kurze Telefonate an den Geburtstagen, nur unverbindliches Gerede ohne tiefere Bedeutung. Das letzte Mal waren sie sich bei Kathis Verlobungsfeier begegnet, und daran erinnerte sie sich nur ungern. Das Verhältnis zu ihrer Familie war nicht gerade herzlich.

Seufzend griff sie erneut nach ihrem Handy und wählte die Nummer ihres Verlobten Max.

»Bürger«, meldete der sich nach dem zweiten Klingelton.

»Hallo Max, ich bin‘s«, Kathi lehnte sich entspannt zurück. Es war gut, seine Stimme zu hören.

»Kathi, mein Herzblatt, schön dass du anrufst. Bist du schon zu Hause? Wollen wir noch ausgehen?«

»Ja, ich bin zu Hause, aber nach Ausgehen ist mir jetzt nicht.«

Sie erzählte ihm von der Unterhaltung mit ihrer Mutter. »Na ja, Unterhaltung ist wohl maßlos übertrieben, du weißt ja wie sie ist. Es war eher ein kurzer Wortwechsel. Wir hatten noch nie lange Gespräche«, fügte sie resigniert hinzu.

»Oh, das ist ja schrecklich«, rief Max aufgeregt, »ich komme sofort zu dir.«

»Nein nein, das ist wirklich nicht nötig. Es geht mir gut, ich wollte nur deine Stimme hören.«

»Du weißt, ich bin immer für dich da.«

»Weiß ich, danke. Komm doch morgen Mittag zum Essen in die Kantine. Ich lad‘ dich ein.«

Max zögerte. »Bist du sicher, dass du morgen arbeiten möchtest? Deine Crew wird auch mal einen Tag ohne dich auskommen.«

»Natürlich würden sie das, aber das ist nicht notwendig. Wozu sollte ich denn zuhause bleiben? Ich könnte natürlich zu meiner Mutter gehen, aber ich glaube, das wäre ihr gar nicht recht.«

»Hm … das glaube ich ehrlich gesagt auch. Zum Trost spenden braucht sie dich sicher nicht.«

»Eben. Auf mich kann sie gerne verzichten. Morgen gibt es dein Lieblingsgericht, Seelachs in Mandelkruste. Ich reserviere dir ein besonders schönes Stück.«

»Na ja, das klingt hervorragend. Und heute kann ich dir wirklich nichts Gutes mehr tun?«

»Das hast du schon mein Schatz«, erwiderte Kathi leise, »Bussi und gute Nacht.«

»Bussi mein Herzblatt, schlaf schön, bis morgen.«

Kathi seufzte wieder, aber diesmal mit einem glücklichen Lächeln in den Augen. Seit sie mit Max zusammen war, und das waren jetzt schon fast zwei Jahre, schien ihr das Leben so leicht. Das Gefühl, einen Menschen von ganzem Herzen zu lieben, und von ihm ebenso geliebt zu werden, war unbeschreiblich. Sie hatte einmal gelesen, wenn jeder Mensch auf der Welt nur einen anderen Menschen glücklich machen würde, wären alle Menschen glücklich. Was für ein wundervoller Gedanke. Kathi hatte in Max den Menschen gefunden, den sie glücklich machen würde. In ihrer Familie war Liebe ein Fremdwort.

Nachdem sie sich ein Glas Rotwein eingeschenkt hatte, stand Kathi am Fenster und versenkte ihren Blick wieder in den tiefblauen Nachthimmel. Die Dunkelheit war mittlerweile unbemerkt über die Dächer der Stadt gekrochen. Ihre Gedanken wanderten wie von selbst zu ihrer Familie. Und diese Gedanken gefielen ihr gar nicht. Sie trank ihr Glas leer, schüttelte das Unbehagen, das sie mit einem Mal überfallen hatte, ab und ging erschöpft zu Bett. Doch der ersehnte Schlaf wollte sich nicht gleich einstellen. ›Nur nicht wieder grübeln‹, dachte sie, ›denk an etwas Schönes‹. Und sie dachte an Max, an ihre harmonische Beziehung und an eine himmlische Zukunft mit ihm. Darüber schlief sie ein.

Nach einer Weile schreckte sie plötzlich hoch und war mit einem Mal wieder hellwach. Sie hatte ihren Vater gesehen. Er stand vor ihrem Bett und schaute sie mit einem traurigen Hundeblick an.

Erschrocken schaltete sie die kleine Tischlampe an, rieb sich mit den Händen über ihre Augen und sah mit flatterndem Herzen umher. Aber da war natürlich niemand, sie hatte nur geträumt.

Irritiert sank sie wieder auf ihr Kissen nieder, doch an Schlaf war jetzt nicht mehr zu denken. Sie konnte die Bilder der Vergangenheit, die wie Libellen in ihrem Kopf herum schwirrten, nicht mehr verscheuchen.

Das ehrbare Haus

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