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Kapitel 2

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Anna und Wilfried

Anna Poltz und Wilfried Sailer heirateten im Frühjahr 1971. Anna war gerade 21 Jahre alt und schwanger.

Sie war die einzige Tochter von Josef und Klara Poltz und wuchs praktisch im Geschäft der Eltern auf. Der Laden, die schönen Stoffe und die elegante Damenmode faszinierten sie schon als Kind und es war ihr größtes Vergnügen, im Verkauf helfen zu dürfen. Mit 14 Jahren erlernte sie bereits das Schneiderhandwerk von ihrem Vater, absolvierte dann noch eine Ausbildung zur Fachverkäuferin, lernte in Abendkursen Buchführung und besuchte nebenher noch ein Geschäftsführer-Seminar. Die Mutter war stolz darauf, dass sich ihre Tochter so gründlich auf die spätere Übernahme des Geschäftes vorbereitete.

Mit 18 Jahren lernte sie Wilfried Sailer kennen. Er war Außendienstmitarbeiter einer Großweberei, kam regelmäßig mit Stoffmustern in den Laden und lieferte Klara Poltz dann die bestellte Ware frei Haus.

Anna freute sich immer, ihn zu sehen. Seine große, sportliche Erscheinung, der klare Blick seiner blauen Augen und die Geste, wie er mit den Fingern seine halblangen, blonde Haare zurück strich, die dann wieder locker in sein Gesicht zurückfielen, hatten es ihr angetan. Für Wilfried war es Liebe auf den ersten Blick. Anna, groß und schlank, mit langen, brünetten Haaren, war genau sein Typ. Wenn sie ihn mit ihren grau-blauen Augen anlächelte, setzte für einen Moment sein Herzschlag aus. Doch er war kein Draufgänger. In seiner eher zurückhaltenden Art warf er seiner Angebeteten nur schüchterne Seitenblicke zu, wenn er mit Klara Poltz verhandelte. Annas Mutter bemerkte natürlich seine Verliebtheit und ermunterte ihn:

»Warum gehen Sie nicht einmal mit Anna aus? Sie ist so fleißig bei der Arbeit, aber sie braucht auch hin und wieder eine Abwechslung.«

Das ließ sich Wilfried nicht zweimal sagen. Mit dem Segen der Mutter wurde er wagemutig und lud Anna schon am nächsten Tag ins Kino ein. Und seither trafen sich die beiden immer öfter. Wilfried holte Anna mit dem Auto ab, sie gingen zum Tanzen in die Disco, oder auf eine Pizza zum Italiener, sie spielten mit Freunden Bowling, besuchten Konzerte und liebten es, an den Wochenenden mit der Clique Ausflüge an den See, oder in die Berge zu machen. Mit der Zeit wurde Wilfried immer drängender. Wiederholt schlug er Anna vor, gemeinsam in den Urlaub zu fahren. Doch das lehnte sie konsequent ab.

Ihr gefiel das Leben, wie es jetzt war. Sie sah ihre Beziehung nicht so eng und fürchtete, wenn sie mit ihm schlafen würde, käme das schon einem Eheversprechen gleich. Doch sie dachte noch nicht daran zu heiraten und damit ihre Unabhängigkeit aufzugeben. Deshalb hatte sie Wilfried, selbst nach dem die beiden schon zwei Jahren miteinander ›gingen‹, nicht mehr erlaubt als Händchen halten und schmusen.

Jedenfalls bis zur letzten Silvesternacht. Die beiden zogen mit der Clique durch die Kneipen der Stadt. Um Mitternacht köpften sie einige Flaschen Sekt, die Stimmung wurde immer ausgelassener und schließlich endete die lange Nacht in Wilfrieds Bett.

Vier Wochen nach der Party stellte Anna fest, dass sie schwanger war.

»Ein uneheliches Kind?« Die Mutter war entrüstet gewesen. »Das geht nicht. Wie konnte das passieren?«

»Mach mir jetzt bloß keine Vorwürfe. Ich kann nichts dafür! So ein Mist«, jammerte Anna, »ich will noch kein Kind. Was mach‘ ich denn jetzt?«

»Keine Frage, es wird geheiratet und zwar so schnell wie möglich. Das fehlte noch, dass wir mit deinem dicken Bauch ins Gerede kommen. Ich mach dir keinen Vorwurf, aber das Kind muss ehelich geboren werden.«

»Ich will aber noch nicht heiraten!«

»Tja, ich könnte jetzt sagen, das hättest du dir vorher überlegen müssen. Aber es ist nun mal wie es ist. Du liebst doch deinen Wilfried, oder?«

»Ja, ich denke schon, aber ich fühl mich noch zu jung, um eine Familie zu gründen.«

»Da mach dir mal keine Sorgen, ich bin ja auch noch da.«

Nach einer Woche waren Anna und Wilfried verheiratet und acht Monate später kam die kleine Ruth zur Welt.

Wilfried hatte als Junggeselle in einem möblierten Zimmer zur Untermiete gewohnt. Das war billiger als eine Mietwohnung gewesen, und ihm hatte es gereicht. Aber in dieser Unterkunft konnte er natürlich nicht mit Frau und Kind wohnen. Als er auf der Hochzeit mit seinem Schwiegervater an der Bar des Gasthauses, wo ungefähr 30 Gäste mit ihnen feierten, ein Schnäpschen trank, sprach er mit ihm über seine Pläne.

»Klara meinte ja, wir sollten bei euch wohnen, aber ich weiß nicht … das wird doch zu eng. Ich werde uns lieber eine eigene Wohnung suchen. Vielleicht finden wir etwas in eurer Nähe … «

»Was höre ich da?«, Klara Poltz gesellte sich gut gelaunt zu den Beiden, »das kommt ja gar nicht in Frage, mein Lieber. Ich hab mit Anna schon alles besprochen. Ihr wohnt natürlich bei uns, wenigstens bis das Kind da ist. Dann sehen wir weiter.«

Wilfried presste seine schmalen Lippen zusammen und sah den Schwiegervater inständig an, doch dieser meinte nur: »Lass gut sein Junge, gegen die zwei kommen wir nicht an. Es wird sich schon alles finden.«

Da Wilfried keine wirklichen Argumente gegen diese Wohngemeinschaft fand, arrangierte er sich. Aber nach der Geburt des Babys drängte er Anna wieder:

»Wir müssen uns jetzt eigene vier Wände suchen. Es wird zu eng hier.«

Im Grunde genommen war genug Platz in der großen Wohnung, aber Wilfried war das Zusammenleben mit den Schwiegereltern leid. Während der letzten Monate drehte sich alles nur um die Schwangerschaft, Anna steckte ständig mit ihrer Mutter zusammen und was die Mutter sagte, war Gesetz. Ein Privatleben mit seiner Frau fand praktisch nicht mehr statt und Wilfried fühlte sich ausgegrenzt. So hatte er sich die Ehe nicht vorgestellt.

»Das geht nicht«, widersprach Anna vehement, »wie stellst du dir das vor? Ich arbeite jetzt wieder und du bist den ganzen Tag unterwegs oder im Büro. Wer soll sich dann um das Kind kümmern? Mutter und ich haben schon alles besprochen. Ich übernehme ab sofort mehr Verantwortung im Geschäft und sie nimmt mir dafür die Kleine ab.«

»Das ist nicht dein Ernst«, versuchte Wilfried zaghaft einzuwenden, doch ihr Blick sagte ihm, es wäre besser, wieder mal den Mund zu halten.

Wilfried zog sich schmollend zurück, doch dann überlegte er: ›Vielleicht ist es gar nicht so verkehrt. Mit Klara als Babysitter wären wir wieder frei. Wir könnten abends ausgehen, uns mit der Clique treffen, unser altes Leben wieder aufnehmen‹. Diese Gedanken versöhnten ihn ein weiteres Mal mit seiner Wohngemeinschaft.

Die Großmutter hielt ihr Versprechen. Sie zog sich mehr und mehr aus dem Geschäft zurück und kümmerte sich um die kleine Ruth als wäre sie ihr eigenes Kind. Die Kleine nannte sie Momi, was zugleich Mami und Omi bedeutete. Das gefiel Klara. Sie wollte der Enkelin die Mutter sein, die sie bei ihrer eigenen Tochter nicht sein konnte, weil sie wegen der Arbeit im Geschäft keine Zeit gehabt hatte. Sie wollte mit ihr all die Dinge erleben, die sie mit Anna versäumt hatte. Und die kleine Ruth liebte ihre Großmutter abgöttisch. Die Momi war immer für sie da, erfüllte ihr jeden Wunsch und gab ihr das Gefühl, etwas ganz Besonderes zu sein. Wilfried und Anna erfreuten sich indessen ihrer wiedergewonnenen Unabhängigkeit und alles lief wunderbar.

Bis Anna zwei Jahre später wieder ein Kind erwartete. Wilfried war nicht sehr begeistert, aber Anna meinte, die Schwangerschaft geht auch vorüber und Momi würde sich dem zweiten Kind ebenso hingebungsvoll widmen wie der kleinen Ruth. Aber ihnen war auch klar, dass die elterliche Wohnung in Zukunft nun doch für die ganze Familie zu klein sein würde. Momi Klara musste dem widerwillig zustimmen. Doch sie wollte die Kinder nicht fortziehen lassen und entschied deshalb, dass die Mieter in der zweiten Etage zugunsten der wachsenden Familie ihrer Tochter ausziehen müssten. Bei der Gelegenheit, meinte sie praktischer Weise, könnte man gleich das ganze Haus renovieren. Daher mussten auch die Mieter in der dritten Etage ihre Wohnung räumen. Nach so einer Modernisierung konnte man schließlich einen höheren Mietzins verlangen.

»Wir statten jede Wohnung mit Zentralheizung, Parkettfußböden, neuen Bädern, modernen Küchen und energiesparenden Thermofenstern aus«, plante Klara Poltz großzügig, »auch unsere.« Dabei sah sie ihren Mann Josef an, der nur zustimmend nickte.

Die aufwändigen Umbauarbeiten zogen sich hin. Als im Sommer 1973 Annas zweite Tochter Walburga geboren wurde, war endlich alles fertig und die letzten Handwerker rückten ab. Die junge Familie bereitete ihren Umzug in die eigene Wohnung vor und die Großeltern freuten sich nach den Strapazen der Bauarbeiten auf einen unbeschwerten Urlaub. Wie jedes Jahr fuhren Josef und Klara Poltz mit ihrem Auto nach Italien.

»Wir sind ja bald wieder da und bringen dir auch etwas Schönes mit«, versprach die Momi feierlich, als Ruth beim Abschied bittere Tränen vergoss. Am liebsten hätte Klara ihre Enkelin mitgenommen, aber Anna meinte, das Kind sei noch zu klein für so eine lange Autofahrt.

Ruth fragte jeden Tag, wo denn die Momi bleibt. Und sie bekam immer die Antwort: »Die Momi kommt bald wieder.« Doch sie kam nie wieder.

Bei der Rückfahrt aus Italien geschah das tragische Unglück. Auf der Autobahn ereignete sich eine fürchterliche Massenkarambolage. Der Wagen der Poltz‘ fing Feuer, da kam jede Hilfe zu spät. Josef und Klara waren sofort tot.

Als die schockierende Nachricht kam, wussten Anna und Wilfried nicht, wie sie es dem Kind sagen sollten. Die Kleine verstand es ja noch nicht. Man müsste abwarten, würde es ihr später erklären. Aber Ruth fragte immer weiter und da erzählte Anna die übliche Geschichte: »Die Momi und der Opi sind jetzt bei den Engeln im Himmel. Irgendwann wirst du sie wieder sehen, aber das dauert noch sehr, sehr lang. Jetzt bin ich deine Momi.« Ruth sah ihre Mutter nur mit großen Augen an und nickte unsicher. Seitdem nannte sie ihre Mutter Momi und hing wie eine Klette an ihr.

Von ihrem geplanten Umzug in die zweite Etage war jetzt nicht mehr die Rede, Ruth richtete sich mit ihrer Familie in der neu renovierten, elterlichen Wohnung ein.

Zu der unermesslichen Trauer mischten sich in diesen Tagen aber auch noch finanzielle Sorgen. Anna hatte außer dem Haus auch noch jede Menge Schulden geerbt. Der Umbau war teurer gewesen, als vom Architekten veranschlagt und auf dem Haus lag eine hohe Hypothek.

Das Familienunternehmen war zum Glück gut etabliert und die Stammkunden hielten ihr die Treue, doch der Vater fehlte in der Schneiderei, die Mutter bei der Kinderbetreuung, und die Last, den hohen Kredit abzutragen, lag allein auf Annas Schultern. Wie sollte sie mit all dem allein zurecht kommen? Ihr Mann Wilfried konnte sie finanziell nicht unterstützen. Sein Gehalt und ihre Erlöse aus dem Geschäft reichten zwar zum leben, doch für die Rückzahlung des Kredits brauchten sie zusätzliche Einnahmen. Und die waren nur mit den Wohnungen zu erzielen. Anna steigerte die Mieteinnahmen indem sie die Zimmer einzeln an Studentinnen vermietete.

Dann galt es, Betrieb und Familie neu zu organisieren. In die Schneiderwerkstatt, die den hinteren Teil des Geschäftes einnahm, stellte sie einen Stubenwagen für Walli und einen Laufstall für Ruth. Dann stellte sie Frau Kruse ein, eine Schneiderin die schon für ihren Vater in Heimarbeit genäht hatte.

Nun begann sie, das Geschäft umzugestalten. Die Stoff- und Kurzwarenabteilung musste verkleinert werden, denn die Aufträge für Neuanfertigungen waren zurückgegangen. Eine Bluse, ein Rock, ab und zu mal ein Kleid oder ein Anzug, sonst hauptsächlich Änderungen. Die Wäscheabteilung hingegen vergrößerte sie, denn die Nachfrage nach aufreizenden Dessous und zarten Negligees war gestiegen. Bei der Damenmode blieb sie der exklusiven Linie treu. Einige ihrer Kundinnen kamen aus den sogenannten besseren Kreisen, das heißt sie hatten Geld zur Genüge, reichlich Zeit und einen extravaganten Geschmack. Diesen noblen Kundenkreis galt es zu vergrößern. Nicht zuletzt änderte sie deshalb auch noch den Namen ihres Ladens in ›Noble Fashion Store‹.

Anna hatte letztendlich auch von ihrer Mutter gelernt, mit Geld umzugehen. So gelang es ihr, mit steigenden Umsätzen, einfallsreicher Buchführung, den höheren Mieteinnahmen und geschickter Umschichtung der Gelder, die Hypothek schon nach drei Jahren vorzeitig zu tilgen.

Nach weiteren drei Jahren stellte Anna Frau Mündel, eine junge Verkäuferin, ein.

Die Kinder gingen mittlerweile beide zur Schule und langweilten sich nachmittags im Laden, weil niemand sich mit ihnen beschäftigte. Die kleine Walli war aufsässig und hörte nicht auf die große Schwester, sie riss die Ware aus den Regalen und Ruth musste alles wieder aufräumen. Ruth beschwerte sich dauernd bei der Mutter über sie, und Anna war von der ständigen Unordnung und den Streitereien der beiden genervt. Die Kinder allein in der Wohnung zu lassen, war aber auch keine gute Idee, da kamen sie erst recht auf dumme Gedanken.

Frau Mündel war zwar für den Verkauf eingestellt, sie sollte aber gleichzeitig Walli im Auge behalten und sie davon abhalten, Unfug zu treiben. Und das klappte auch. Die junge Verkäuferin fand Walli ›unheimlich süß‹, die beiden spielten die meiste Zeit miteinander und Anna konnte sich wieder voll und ganz ihrer Arbeit widmen. Ruth war froh, ihre lästige Schwester los zu sein und die Mutter endlich wieder für sich allein zu haben. Sie hing ständig an Mutters Rockzipfel, was Anna aber nicht weiter störte, denn Ruth bemühte sich eifrig zu helfen, wo sie nur konnte. Sie sollte eines Tages das Geschäft übernehmen.

Eines Abends, Anna, Wilfried und die Mädchen saßen gerade gemeinsam beim Abendessen, eröffnete Anna ihrer Familie:

»Ich habe beschlossen, dass wir heuer alle zusammen in den Urlaub fahren.«

Ruth und Walli sprangen übermütig von ihren Stühlen und riefen durcheinander:

»Oh, toll. Wo fahren wir denn hin?«

»Darf ich meine Spielsachen mitnehmen?«

»Wann fahren wir los? Wie lang bleiben wir?«

»Fährt Frau Mündel auch mit?«

Anna lächelte die beiden an und sagte: »Wir fahren in den Sommerferien für zwei Wochen ans Meer und natürlich dürft ihr etwas zum Spielen mitnehmen. Aber Walli, Frau Mündel kann nicht mitfahren, sie muss auf den Laden aufpassen.« Dann klatschte Anna zweimal in die Hände und fügte munter hinzu: »Und jetzt ist Schluss mit dem rumgehopse. Ab ins Bett.«

Als die Mädchen sich aufgeregt tuschelnd davon gemacht hatten, sah Wilfried seine Frau fragend an.

»Du überrascht mich immer wieder«, sagte er, »bis jetzt hattest du ständig irgendwelche Einwände, wenn ich eine Urlaubsreise vorgeschlagen habe.«

»Ja, das stimmt«, sagte Anna abwägend, »aber ich musste mich ja schließlich in erster Linie um das Geschäft kümmern und Geld verdienen. Ein Urlaub mit zwei Kindern ist teuer. Außerdem waren sie noch zu klein. Jetzt sind sie acht und zehn Jahre alt, da geht das schon.« Sie sah Wilfried offen an. »Und jetzt stehen wir auch finanziell gut da. Das Konto mit den Mieteinnahmen ist ab sofort unsere Urlaubskasse.«

Wilfried hatte keine Ahnung, wie hoch die Summe auf diesem Konto war, die finanziellen Angelegenheiten regelte schon immer seine Frau. Wie damals seine Schwiegermutter. So lächelte er nur ergeben und vermutete:

»Du meinst also, jetzt sind wir reich genug?«

»Jedenfalls reichen die Einnahmen für unsere Urlaubsreisen. Und die Kinder sind alt genug.«

Die erste Reise ging nach Italien, nach Rimini, wo Annas Eltern immer ihren Urlaub verbracht hatten.

Der Strand war zwar jeden Tag überfüllt, doch die Kinder waren begeistert. Sie planschten übermütig im Wasser, bauten Sandburgen und sammelten Muscheln, während Anna und Wilfried die Tage faulenzend in ihren gemieteten Liegestühlen verbrachten und die lauen Sommerabende bei Spaziergängen im Mondschein genossen. Der Urlaub ging für alle viel zu schnell vorbei.

Als sie wieder zu Hause waren, überraschte Anna ihre Familie aufs Neue:

»So ein Faulenzer-Urlaub ist ja ganz schön, aber ich habe mir überlegt, dass wir auch mal aktiv werden sollten. Im Winter werden wir Skiurlaub machen.«

»Aber von uns kann keiner Skifahren«, wandte Wilfried entgeistert ein.

»Dann lernen wir‘s eben.«

Damit war es beschlossene Sache. Von nun an machte die Familie jedes Jahr zweimal Urlaub. Im Sommer fuhren sie nach Italien ans Meer und im Winter nach Tirol zum Ski laufen.

Das alles lief jedenfalls so, bis Kathi im Frühsommer 1988 zur Welt kam. Von da an wurde alles anders.

Eines Tages sagte Anna zu ihren Töchtern:

»Wir fahren heuer erst im Oktober in den Urlaub.«

»Aber da kann ich nicht. Ich fange doch im September bei Kreitmeiers an«, wandte Ruth energisch ein. Kreitmeiers war das größte Kaufhaus in Lindenburg und Ruth sollte dort eine dreijährige Lehre zur Verkäuferin absolvieren.

»Ja richtig. Ich habe schon mit Herrn Kreitmeier gesprochen. Du wirst im Oktober zwei Wochen freigestellt, damit du dich um unser Geschäft kümmern kannst. Ich kann die Kruse und die Mündel nicht immer allein lassen. Da habe ich jedes Mal ein ungutes Gefühl. Du weißt ja, dass sie überall herumschnüffeln und im Lagerkeller haben sie nichts zu suchen. Ich vertraue dir und es ist eine gute Übung für dich. Haben wir uns verstanden?«

Ruth fiel aus allen Wolken, doch sie wusste, dass jeder Widerspruch zwecklos war, deshalb schwieg sie verbissen.

Walli sah ihre Mutter ebenso erstaunt an. »Und ich? Im Oktober sind keine Ferien!«

»Du musst auf das Baby aufpassen. Wir können nicht mit einem Säugling verreisen. Während du in der Schule bist, lässt du das Kind im Stubenwagen bei Frau Kruse.«

»Da ist nicht dein Ernst, ich soll Babysitter spielen?«

»Und du wirst dich um den Haushalt kümmern. Du bist alt genug dafür. Das ist auch für dich eine gute Übung.«

»Ach ja? Und was ist im nächsten Jahr? Fahren wir dann wieder alle zusammen?«

Anna sah sie achselzuckend an und sagte trocken: »Natürlich nicht. Ich hab doch gesagt, mit dem Baby fahren wir nicht in den Urlaub. Vater und ich verreisen in Zukunft alleine.«

»Was?«, rief Walli aufgebracht, »wegen der blöden Göre muss ich jetzt immer zu Hause bleiben? Das ist gemein!«

»Jetzt krieg dich wieder ein! In eurem Alter fährt man nicht mehr mit den Eltern in den Urlaub. In zwei Jahren bist du mit der Schule fertig und machst deine Schneider-Ausbildung. Wenn du erst mal im Geschäft mitarbeitest, können wir einteilen, wer wann Urlaub macht. Dann könnt ihr auch allein verreisen.«

Als Oberhaupt der Familie hatte Anna Sailer die berufliche Laufbahn ihrer beiden großen Töchter schon frühzeitig bis ins kleinste Detail geplant. Ruth sollte nach dem Willen der Chefin den Verkauf und die Buchhaltung übernehmen, Walli die Schneiderei. Nach einigen Jahren würde die Seniorin dann ihren Töchtern das Geschäft ganz übergeben und sich ruhigen Gewissens zur Ruhe setzen können.

»Es gibt kein größeres Glück, als ein florierendes Familiengeschäft zu übernehmen und damit einer gesicherten Zukunft entgegen zu sehen«, hatte sie ihren Töchtern stets eingeschärft, »andere müssen sich ein eigenes Geschäft hart erarbeiten und ihr bekommt praktisch alles in den Schoß gelegt. Dafür müsst ihr dankbar sein und eure Kinder werden es euch eines Tages auch danken.« Und um dem ganzen Nachdruck zu verleihen fügte sie immer hinzu: »Schließlich ist es euer Erbe und wir haben eine Familientradition zu wahren.«

Ruth hatte sich bereits dem Willen der Mutter untergeordnet und die Lehrstelle als Verkäuferin angenommen, aber Walli dachte gar nicht daran sich zu fügen. Sie stellte sich ihr Leben anders vor. Doch wie genau, wusste sie selbst noch nicht, deshalb hielt sie sich erst einmal bedeckt.

Anna und Wilfried verreisten also von nun an allein, und sie änderten auch ihre eingefahrenen Reiserouten. Statt überfülltem Kieselstrand in Italien waren nun menschenleere Sandstrände auf den Seychellen, Kulturreisen nach Mexiko oder Shoppingurlaub in Thailand angesagt, statt kleiner Pension in Tirol mietete man sich zum Skifahren in einem Chalet-Hotel in Sankt Moritz ein.

Die Töchter sahen den Planungen der Luxusreisen ihrer Eltern neidisch zu und hatten einen Grund mehr, ihre kleine Schwester zu hassen.

Das früher meist harmonische Familienleben der Sailers war seit diesem Sommer irgendwie abhanden gekommen. Die Töchter keiften sich gegenseitig an, stritten wegen jeder Kleinigkeit mit der Mutter und redeten kaum noch mit dem Vater. Die Eltern lebten lustlos und schweigsam nebeneinander her, ihre einzige Verbundenheit waren noch die gemeinsamen Reisen. Wilfried hielt sich aus allem heraus. Gegen seinen Weiberhaushalt kam er sowieso nicht an. Seine Frau hatte sich zu einer zweiten Klara entwickelt. Sie bestimmte, wo es lang geht, hatte immer recht und ließ sich von ihm nichts mehr sagen, sie hatte eindeutig die Hosen an. Ein einziges Mal hatte er versucht, sich einzumischen, da waren alle drei über ihn hergefallen. Deshalb zog er sich mehr und mehr zurück und interessierte sich fortan kaum noch für die Belange der Familie. Abends kam er oft spät von der Arbeit nach Hause um dann gleich im Schlafzimmer zu verschwinden, oder er hielt sich stundenlang in seinen Hobbykeller auf, wo er mit großer Hingabe an alten Radios oder seiner elektrischen Eisenbahn bastelte.

Das ehrbare Haus

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