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1 Hamburg, Mitte Januar 2011
ОглавлениеAnne fühlt sich wie in Trance seitdem der Vater gestorben ist.
Zwei Wochen ist es nun her, dass er gegangen ist, zwei unsagbar lange Wochen, in denen der Vater auf einmal nicht mehr selbstverständlich ist, wie er das immer gewesen war.
Man liest so viel über den Tod und wie es ist, wenn der erste Elternteil geht, dieses Band zerreißt, das doch für immer gemacht war. Alles Gelesene kann das wahre Gefühl nicht beschreiben. Anne weiß nicht einmal, ob es ein Gefühl ist, was sie seit Tagen und Nächten treibt, oder besser gesagt einmal treibt und im nächsten Augenblick wie mit einem Messerstich ins Herz zum Stillstand bringt.
Nachdem die Mutter sie angerufen hatte, wollte Anne den Vater nochmals sehen, aber das Sanatorium erklärte ihr, er sei bereits vom Bestatter abgeholt worden, so hätte es die Mutter veranlasst.
Hatte die Mutter nach dem ersten Schock etwa mehr Zeit gehabt als Anne oder lebte sie in einer anderen Zeitrechnung? Wohl nichts von beidem, sie war lediglich besser vorbereitet auf diesen Todesfall und den Tod an sich, wie es scheint.
Anne rief daraufhin den Bestatter an, demzufolge der Vater nun erst einmal auf seinen letzten Gang vorbereitet werden müsse. Danach könne sie ihn sehen.
Im Fall des Vaters würde dieser letzte Gang eine Aufbahrung in der Leichenhalle sein und dann der Transport zum Krematorium. Eine Einäscherung war sein ausdrücklicher Wunsch gewesen. Er wolle nicht da unten im feuchten Dunkel der klebrigen Erde langsam zerfallen, hat er oft gesagt, erinnert sich Anne.
Die Mutter hat auch bereits die Details der Aufbahrung organisiert, wie Anne feststellen muss.
Nichts Besonderes, schlichter Blumenschmuck, ein paar helle Tücher, eine Kerze, ansonsten nur die Kälte der Betonmauern, die den Raum bilden und von der lebenden Welt abgrenzen.
Anne kommt abends in die Halle, sie will mit dem Vater alleine sein. Dieser Moment braucht weder Zuseher noch Bemitleidende.
Sie öffnet die schwere, hölzerne Flügeltür zur Halle. Der metallene Griff ist eiskalt, wie der Tod.
Dann steht sie im Raum und ganz hinten im Eck, fast wie versteckt, liegt der Vater, in seinem feinsten Anzug, die Hände gefaltet, die Augen geschlossen und den Mund weit geöffnet, als wolle er noch etwas in die Welt hineinschreien.
Anne ist entsetzt. Wer hat den Vater mit diesem Gesichtsausdruck so in den Sarg gelegt? Was soll das?
Sie läuft aus der Halle und ruft die Mutter an. Es dauert eine Weile, bis sie abhebt. Das ist in letzter Zeit öfter der Fall.
»Hallo Anne, bitte fass dich kurz, ich bin in einem wichtigen Termin.« Kurz, bündig und kalt wie immer.
»Mutter, ich fasse mich gerne kurz. Hast du gesehen, wie der Vater aufgebahrt ist, mit weit geöffnetem Mund«, fragt Anne sichtlich aufgebracht.
Warum sie sich denn so aufrege, aber natürlich habe sie das gesehen und es störe sie auch nicht weiter, denn für morgen sei ja schon der Transport zum Krematorium angesetzt. Des Weiteren habe er ja nie viele Freunde gehabt, also werde auch die Zahl der Abschied nehmenden, die in so sehen werden, eine überschaubare sein.
Anne solle sich beruhigen.
»Ist doch egal und ihm schon gleich zweimal«, entfährt es der Mutter noch.
Anne legt auf, es ist die einzig passende Antwort für diese Mutter, und geht zurück zum Vater.
Da liegt er und will noch etwas sagen. Der Welt oder ihr, vielleicht ausnahmsweise einmal nur ihr. Sonst war immer der Bruder an erster Stelle gestanden, oder Vater? Aber wo ist der Bruder denn heute? Wo war er denn im Sanatorium?
Anne zügelt ihre Gedanken, das ist nicht der Moment für Vorwürfe, es ist der Augenblick des Abschiednehmens, für immer.
Sie erinnert sich an die Distanz, die zwischen ihnen zeitlebens bestand, aber auch an die unausgesprochene, unausgelebte Nähe, die sie nie gezeigt hatten. Weil er und sie es nicht konnten.
Aber sie hat immer bestanden. Sie ähnelt dem Vater so viel mehr als ihr Bruder. Das war schon als Kind erkennbar und wird mit jedem Jahr deutlicher.
Ihren Ehrgeiz, ihre aufbrausende Art, ihre Sparsamkeit, ihr Interesse für Literatur und ihre Liebe zur Einsamkeit, das alles hat sie vom Vater und seiner Linie.
Von der Mutter ist da wenig, vielleicht die Augen und der ein oder andere Gesichtszug. Aber selbst die Physis ist vom Vater.
Anne ist zwar groß, hat aber seine kleinen Hände, kleine Füße, seine Haarstruktur und seine Haut.
Das alles lässt er ihr da, nur was sie wirklich wissen wollte, nimmt er mit sich, seine Vergangenheit und die seiner Familie.
»So war das nicht abgemacht, Vater. Nicht dass du gehst, nicht dass du all deine Geheimnisse mit dir nimmst, nicht dass du mich hier mit einer Familie zurücklässt, die keine ist, nie wirklich eine war, auch wenn du das nie gerne gehört hast. Aber es ist, wie es ist.
Du hast dein Bestes gegeben, dafür danke ich dir.
Wir waren beide nie Meister darin, Gefühle zu zeigen. Aber wie heißt es so schön, des Mannes Liebe ist die Tat. Und deine Taten waren gut.
Nicht immer sanft, manchmal fast brutal, aber im Endeffekt gut. Und wohin du auch gehst, ein Teil von dir bleibt hier bei mir.
Nein, der Mutter sagen wir das nicht, wir wollen beide unseren Frieden.
Und nun geh in Ruhe, alles ist gut. Du warst ein guter Vater.«
Anne greift nach der kalten Hand, die noch nicht starr ist, als hätte sie auf sie gewartet.
Sie küsst den Vater zum Abschied auf die Stirn und läuft weinend zur Tür.
Noch ein Blick zurück, ein Bild, das sie nie vergessen wird, das Bild eines Mannes mit offenem Mund, der noch etwas sagen wollte, dem das Leben aber keine Zeit mehr dafür zugestanden hat.
Anne wird dem Vater posthum dabei helfen, das Unausgesprochene zu Papier zu bringen. Das ist ihr letzter Gedanke beim Verlassen der Halle, es ist ein Vorsatz. Sie steigt ins Auto und fährt nach Hause.
Nach Hause? Was und wo ist denn nun ihr zuhause? Eine Frage, auf die es wohl keine richtige Antwort mehr gibt.
Es folgen zermürbende Wochen.
Der Vater wird zwar ins Krematorium überstellt, dort ist die Warteliste aber eine derart lange, dass seine Einäscherung ganze vier Wochen warten muss. Eine unerträglich lange Zeit findet Anne. Sie will nicht, dass der Vater so lange warten muss, in irgendeiner anonymen Box in der Kühlung.
Anne ruft im Krematorium an, um sich zu beschweren, und bekommt eine glatte Abfuhr. Es sei vollkommen egal, wer und was sie sei, der Vater habe eine Position auf der Warteliste und das sei nun einmal so. Keine bevorzugte Behandlung, nicht mehr, für niemanden, meint der Herr am Telefon dann noch zynisch.
Anne ist sprachlos, so viel Hass auf einen Toten, den man nicht gekannt hat, auf eine Tochter, die man ebenso wenig kennt.
Sie kann das widerwärtige Gesicht am anderen Ende der Leitung förmlich sehen. Die Menschheit hat viele hässliche Gesichter und dieses wird nicht das einzige bleiben, auf das Anne im Lauf der nächsten Jahre stoßen wird.
Wie sie die Mutter über die vier Wochen bringen soll, das weiß Anne noch nicht. Immer wenn sie sich sehen, ist die Mutter dem Zusammenbruch nahe. Das Drama ist unbeschreiblich, Anne ist zusehends besorgt.
Bis zu jenem Mittwoch, an dem Anne die Mutter nachmittags besuchen will, ohne vorher angerufen zu haben. Nur da ist niemand, den man besuchen hätte können. Der Eingang ist ungekehrt, der Briefkasten voller Post, ein paar Vorhänge sind zugezogen.
Annes Anruf drückt die Mutter weg. Seltsam.
Also fährt Anne zurück in die Firma und versucht es nach zwei Stunden nochmals.
Was denn die Kontrolle solle, sie sei eben nicht zuhause gewesen und keinerlei Rechenschaft schuldig. Punkt. Und nächstes Mal solle Anne doch bitte einen Tag vorher anrufen, so wie sich das eigentlich gehöre. Man überfällt andere nicht einfach uneingeladen oder ohne vorherige Abstimmung. Ob denn die Erziehung des Vaters gar nichts genützt habe.
Etwas viel Aufregung, wenn der Anrufer noch nicht einmal zu Wort gekommen ist.
Es ist ein kurzes Telefonat, das Anne sehr zu denken gibt. Sie vereinbaren dennoch ein Mittagessen für den nächsten Tag.
Das Elternhaus ist peinlich sauber, in der Küche deutet nichts auf eine Person, die hier ständig wohnt. In der Waschküche ist keine Schmutzwäsche und als Anne im begehbaren Schrank die Seite des Vaters öffnet, ist da nichts mehr, kein einziges Kleidungsstück.
Sie geht zurück in den Salon und sagt:
»Danke für das wie immer gute Mittagessen, Mutter. Du, ich hätte da noch einen Herzenswunsch. Ich möchte gerne Vaters Hemden mitnehmen, zur Erinnerung. Du weißt doch, ich trage gerne Herrenhemden und seine noch viel lieber. Die haben auch immer stets exakt gepasst.«
Anne sieht sofort die Verlegenheit im Gesicht der Mutter. Nun, die Hemden und die gesamte Kleidung des Vaters habe sie bereits vor ein paar Tagen weggegeben. Sie habe nicht wissen können, dass Anne daran interessiert sei. Sonst, ja sonst hätte sie das natürlich nicht getan.
Anne glaubt ihr kein Wort.
An den darauffolgenden Tagen fährt Anne vom Büro stets einen kleinen Umweg am Elternhaus vorbei. Oft ist von der Mutter keine Spur, abends selten Licht und Mitte Februar sieht sie zum ersten Mal ein Auto aus der Ausfahrt biegen, das sie nicht kennt. Am Steuer sitzt ein älterer, etwas rustikal wirkender Herr, daneben ihre Mutter, lächelnd.
Es ist dieses österreichische, dienende und süße Lächeln, das Anne so hasst.
Fahrt nur, fahrt zur Hölle ihr beiden, denkt Anne. Das ist die einzige Fahrtrichtung, die euch so kurz nach dem Tod des Vaters zusteht.
Welch ein jämmerlicher Neuanfang, so kurz nach einem traurigen Ende, dessen Grad der Traurigkeit bei der Mutter wohl ein anderer gewesen sein muss.
Im Verlag sind letzte Formalitäten rund um das endgültige Ausscheiden des Vaters zu erledigen.
Kleinigkeiten, die Rechtsabteilung hat alle Papiere vorbereitet und legt sie Anne nach und nach vor. Es schmerzt, den Namen des Vaters immer wieder auf Papier zu sehen. Ein Dokumentensatz beinhaltet eine Unterschriftsprobe des Vaters und als Anne unterschreibt, sieht sie, wie ähnlich sie sich selbst in ihren Schriftzügen waren.
Ruhe in Frieden, Vater, denkt sie. Ich mache das hier alles in deinem Sinn.
Für Umsatzzahlen und komplizierte Meetings hat sie in diesen Wochen nicht den Kopf. Anne setzt das nächste Treffen der Geschäftsleitung für die zweite Märzwoche an.
Sie vertraut darauf, dass ihre Führungsmannschaft und die Belegschaft den Verlag und das Tagesgeschäft für die kurze Zeit gut steuern.
Sie hat sich die letzten Monate intensiv darum bemüht, Positionen richtig zu besetzen und Mitarbeiter ihren Fähigkeiten entsprechend an die richtige Stelle im Unternehmen zu bringen. Das neue Konstrukt soll sich nun erstmals sozusagen im Alleingang unter Beweis stellen. Nach dem ersten Quartal will Anne dann sehen, ob weitere Anpassungen notwendig sind.
Ja und dann ist da noch ein Bruder, oder? Nur wo?
Aron ist schlichtweg unauffindbar und unerreichbar. Die Schwägerin sagt, er könne mit der Situation nicht umgehen, man müsse das verstehen. Er sei labil, die geringste emotionale Herausforderung sei ein Problem, jedes Gespräch und jede Berührung mit der Außenwelt seien kritisch. Sie wisse auch nicht, ob er in dieser Verfassung zum Begräbnis kommen könne.
All die Gaffer und sensationslüsternen Menschen, das verkrafte er nicht. Aron sei eben nicht so abgebrüht wie sie, Anne.
Ja und das gelte eigentlich auch für die Kinder, vor allem für den Jungen.
Anne solle also bitte ihre Erwartungshaltung dahingehend managen, dass man möglicherweise als Familie dem Begräbnis fernbleiben müsse.
Zu diesem Zeitpunkt denkt Anne noch, das ist der Schock, der sich bis zum Begräbnis wieder legen wird. Sie misst dem Gespräch keine große Bedeutung bei, es erscheint ihr lächerlich, wie so vieles, das vom Bruder und seiner Familie kommt. Nicht überbewerten und abwarten, damit ist sie bisher gut gefahren, so handhabt sie das nun auch.
Die nächsten Wochen sollen sie eines Besseren belehren.
Und letztendlich ist da auch noch sie selbst.
Neben der psychischen Belastung fühlt sich Anne körperlich einfach nicht fit.
Da ist eine dauernde Müdigkeit, das Aufstehen morgens fällt ihr schwer, ihre Laune ist von Tagesanfang entsprechend schlecht, nicht einmal das sonst so heiß geliebte Frühstück will ihr schmecken.
Auf den Spaziergängen an der Elbe werden ihre Beine nach kurzer Zeit schwer wie Beton, die Stufen vom Strand hinauf zum Haus gleichen einer kleinen Bergtour, das Atmen fällt ihr schwer und seit zwei Tagen spürt sie auch so ein seltsames Spannen in der Brust.
Wenn sie ehrlich ist, hat sie sich seit Weihnachten keinen einzigen Tag wirklich gut gefühlt.
Das erinnert Anne an ihren Frauenarzttermin, der nächste Woche ansteht. Das trifft sich gut, denkt sie, von Allgemeinmedizinern hält Anne ohnedies nicht viel, und wenn wirklich zusätzlich Abklärungsbedarf besteht, dann kann das auch ihr Frauenarzt in die Wege leiten und betreuen. Sie wird sich ab sofort etwas genauer beobachten, damit sie dann beim Termin alle Symptome beschreiben kann.
Am nächsten Morgen wacht Anne nicht nur schlapp auf, sondern fühlt sich fiebrig. Nach dem ersten Schluck Kaffee muss sie sich übergeben, dazu kommen starke Krämpfe im Unterleib.
Sie macht sich dennoch für die Firma fertig und schleppt sich mit erheblicher Verspätung ins Büro. Ein Telefonat, eine Sitzung, mehr braucht es nicht, Anne ist erledigt.
So elend hat sie sich noch nie gefühlt. Anne schreibt noch eine Mail an den Bruder. Irgendwann muss er sich Zeit nehmen, um die Bestattungsfeierlichkeiten mit ihr abzustimmen, so kann es nicht weitergehen.
Dann auf einmal ein stechender Schmerz im Unterleib, Schüttelfrost und kalter Schweiß. Anne fühlt, wie es warm wird zwischen ihren Beinen, und geht mit letzter Kraft in die Toilette, die zum Glück gleich neben ihrem Büro liegt.
Das können unmöglich ihre Tage sein, denkt Anne. Sie hat nie Schmerzen oder irgendwelche Anzeichen, wenn sich ihr Körper alle paar Wochen sozusagen selbst reinigt. Außerdem ist der Blutverlust diesmal viel zu hoch, Anne kann den Fluss kaum stoppen. Sie bleibt auf der Toilette, mindestens eine halbe Stunde lang, bis endlich ein wenig Erleichterung eintritt und sie wieder in ihr Büro zurückkehren kann.
Anne ruft umgehend ihren Arzt an, dort läuft aber das Tonband, die Ordination öffnet erst wieder morgen um 8h. Sie hinterlässt eine kurze Nachricht, dass sie ihren Termin dringend vorverlegen müsse und morgen vorbeischaue.
Anne hofft, dass sich ihr Zustand bis dahin nicht verschlechtert, gibt der Sekretärin Bescheid, dass sie den Rest des Tages von zuhause arbeiten werde, und verlässt schnell den Verlag.
Nicht zum ersten Mal in ihrem Leben muss sich Anne insgeheim eingestehen, dass es ein mehr als bescheidenes Gefühl ist, in einer Notsituation niemanden zu haben, der sich wirklich um einen kümmert.
Nach einer ausgiebigen Dusche und einer Doppeldosis Schmerzmittel bezieht Anne das Sofa und schläft sofort ein.
Der Verlag, die Arbeit, die sie mitgenommen hat und erledigen wollte, der Bruder, die Mutter - nichts davon ist mehr wichtig.
Sie will schlafen, danach wird es schon wieder besser gehen.
Um 23 Uhr wird sie aus dem Schlaf gerissen. Anne ist verwirrt, die Schmerzmitteldosis war wohl etwas zu hoch. Zuerst glaubt sie, es hat an der Tür geläutet, will aufstehen, lässt das aber sofort sein. Der Schmerz, der in sie fährt, als sie das erste Bein auf den Boden setzt ist ein klares Zeichen.
Dann sieht sie das Display des Mobiltelefons blinken und da ist es wieder, das schrille Geräusch, das sie zuvor für ein Läuten gehalten hat.
Anne hebt ab. Es ist Frankfurt.
»Ja, sag mal, wo steckst du denn. Ich habe es heute drei Mal im Büro versucht und nachmittags mehrmals auf dem Handy. Willst du nicht mit mir sprechen?«, fragt er mit leicht gedrückter Stimme.
Das wäre eigentlich der Moment, die Karten neu zu mischen, aber Anne hat nicht die Kraft dazu. Nicht jetzt, irgendwie ist nie Jetzt.
Sie schildert ihm kurz ihren Zustand, er solle es bitte nicht persönlich nehmen, man könne ja morgen in aller Ruhe telefonieren, am besten nachmittags, denn sie wolle die Dinge vorher noch ärztlich abklären lassen und wisse nicht, wie lange das dauern werde.
Plausibel, meint Frankfurt, und es tue ihm leid, dass er aus der Ferne nichts für sie tun könne. Ach ja, und er hoffe, dass es nichts Ernstes sei und, Pause, ob sie denn ausschließen könne, schwanger gewesen zu sein. Das wäre nämlich - sollte es wieder eintreten - eine Katastrophe für ihn, wie sie sicher verstehe.
Anne stockt der Atem. Gar nichts kann sie ausschließen. Würde er nun vor ihr stehen, sie könnte sich glatt vergessen. Stattdessen übernimmt in diesem Moment wieder diese liebe, immer wohlgesonnene, rücksichtsvolle und grenzenlos dumme Anne das Kommando und sagt:
»Mach dir keine Sorgen. Alles ist gut, du wirst sehen. Da war und ist nichts, sicher nur eine dumme Laune der weiblichen Natur. Ich bin ja auch schon in den Jahren, in denen Hormone nicht immer den geraden Weg gehen.«
Nein, nicht deine Laune, die einzig Dumme in diesem Augenblick bist du, denkt Anne.
Sie hasst es, sich so devot und beschwichtigend zu sehen. Stets verzichtend und Rücksicht nehmend, anstatt endlich einmal klare Worte zu finden und sich selbst und ihre Ansprüche in diese eigentlich perspektivenlose Beziehung zu reklamieren.
Willkommen im Club der gebildeten, willenlosen und ehrfürchtig ergebenen Karrierefrauen, die bittend der Liebe eines vergebenen Wesens hinterherlaufen.
»Aber das weiß ich doch. Du bist so lieb, Anne. Was habe ich nur für ein Glück mit dir. Ja, lass uns morgen in Ruhe sprechen. Jetzt noch eine gute Nacht und wenn etwas Dringendes ist, dann schreib eine Nachricht. Ich kann ja zumindest antworten oder so….,« meint er gönnerhaft.
Oder so, richtig. Anne legt auf, dreht sich in die Kissen und schläft gerne wieder ein.
Anne findet, der Schlaf ist oft die bessere Welt.
Am nächsten Morgen ist Anne die erste Patientin, die sich in der Frauenarztpraxis einfindet.
Die Arzthelferin kennt sie seit Jahren und erschrickt bei Annes Anblick. Anne ist zwar geschminkt und im Bürooutfit, aber die fiebrigen Augen sind eindeutig und die dunklen Ringe darunter besorgniserregend.
Sie möge noch einen Moment Platz nehmen, der Herr Doktor sei gleich soweit. Anne geht ins Wartezimmer, die Arzthelferin eilt sofort zum Doktor.
Sie glaube, es sei wirklich dringend, sagt sie dem Arzt. Das Fräulein Schneeberg mache ihr keinen guten Eindruck, so als ob sie jeden Moment kollabieren würde.
Der Arzt reagiert umgehend und ruft Anne in den Behandlungsraum. Die Besorgnis der Helferin war berechtigt, wie er sieht, dazu muss er nicht einmal mit der Untersuchung begonnen haben.
Diese fällt trotz Annes Zustand und der Blutungen umfangreich aus und dauert über eine halbe Stunde. Nach dem Ultraschall bittet er Anne, sich wieder anzuziehen. Wenn sie wolle, könne sie sich auch gerne nebenan duschen. Anne findet, das ist in jedem Fall eine gute Idee.
Danach würden sie das Untersuchungsergebnis besprechen, wie immer, am großen Schreibtisch, in einer Art Wohnzimmer, das der Arzt wohl so gestaltet hat, um auch weniger gute Nachrichten gut aussehen zu lassen.
Anne hat schnell geduscht, geht zurück ins Arztzimmer und nimmt Platz.
Er wolle es kurz und direkt machen, sie würden sich ja schon eine Weile kennen und er wisse, dass das auch Annes Stil sei.
»Frau Schneeberg, ich denke, das sind jetzt keine guten Nachrichten, weder aus psychischer noch aus physischer Sicht. Meinen Untersuchungen zufolge waren sie schwanger und müssen das Kind in den letzten 48 Stunden verloren haben. In welcher Schwangerschaftswoche sie bei Abgang waren, kann ich nur schätzen, sie dürften am Ende des zweiten oder in der Mitte des dritten Monates gewesen sein.
Daher auch die starken Blutungen und die Symptome, die sie mir während der Untersuchungen geschildert haben.
Hinzu kommt wahrscheinlich eine Entzündung der Gebärmutter, die das Fieber verursacht.
Wir müssen ihre Symptomatik nun engmaschig kontrollieren und weitere Komplikationen ausschließen.
In den nächsten Wochen sind Schwimmen, Baden, Sport und Geschlechtsverkehr tabu. Es wäre gut, wenn sie sich eine Woche Krankenstand gönnen könnten. Nicht nur wegen der körperlichen Belastungen. Sie müssen in den nächsten Wochen mit Stimmungsschwankungen rechnen, ihr gesamtes Hormonsystem ist in Aufruhr und die Normalisierung wird dauern.
Und dann ist da noch etwas. Ich sehe eine geringfügige Veränderung in ihrer Gebärmutterwand, an zwei Stellen, die ich weiter engmaschig kontrollieren möchte. Nichts dramatisches, aber mit einer neuerlichen Schwangerschaft, falls gewünscht, sollten sie bis zur eindeutigen Abklärung oder operativen Korrektur, falls notwendig, warten.
Das ist meine mehr als dringliche Empfehlung,« sagt der Arzt und versucht dabei Annes Reaktion einzuschätzen.
Aber Anne gibt keine Zeichen, die man einschätzen könnte. Sie blickt ihn aus leeren Augen an, die Hände sind still im Schoß gefaltet, bedankt sich und sagt, sie werde sich dann also Folgetermine für die Kontrolle geben lassen.
Der Arzt lässt es dabei bewenden und stellt ein Rezept für mildere Schmerzmittel aus. Sie solle bei steigendem Fieber sofort anrufen. Dann überreicht er ihr noch die Krankschreibung.
Ein kurzer Handschlag, Termine vereinbaren, Mantel anziehen, ein kaltes Aufwiedersehen und schon sitzt Anne im Auto. Als erstes zerreißt sie die Krankschreibung.
Wer ein Kind verlieren kann, kann auch arbeiten.
Annes Logik, wie immer hart an der Grenze.
Die Schmerzmittel wird sie abends auf dem Heimweg holen. Sie will ins Büro, sich in Arbeit versenken, das Geschehene einfach vergessen.
Annes Fähigkeit zu verdrängen ist gut.
Der Nachmittag verläuft ihren Erwartungen entsprechend, bis zu seinem Anruf.
Anne spricht zwar mit ihm, kann sich jedoch nur schwer beherrschen. In ihr steigt eine Mischung aus Wut und Trauer, Hass und Liebe auf, die sie so noch nie erlebt hat. Sie beschließt, dass er sprechen soll. Frankfurt hat jedoch nicht viel zu sagen. Er sei entsetzt, wie es denn sein könne, sie und schwanger. Habe sie ihm nicht erzählt, eine Schwangerschaft sei bei ihr sehr unwahrscheinlich. Das hätte für sie beide schlimm enden können, sie solle in Zukunft doch bitte etwas sorgsamer sein.
Anne sagt nichts, die Tränen schluckt sie.
Sie lässt ihn noch eine kleine Weile weiter toben. Nun müsse sie wieder, die Arbeit rufe, sagt Anne und legt auf.
Es hätte schlimm enden können? Wenn der Verlust eines Kindes kein schlimmes Ende ist, was dann?
In diesem Moment schreibt Anne sich nun auch selbst krank. Sie will alleine sein. Sie braucht Zeit für und mit sich, um zu verarbeiten.
In ihren eigenen vier Wänden angekommen, wirft Anne die Tür ins Schloss und schreit und weint den Schmerz ins Leere.
Und als da keine Tränen mehr kommen, weil sie alle bereits geweint hat, setzt sich Anne auf die Terrasse in den Regen und lässt den Regen auf ihren Wangen weiter weinen.
Der Vater hat recht gehabt.
Am Ende ist man im Leben immer allein, nicht nur in den schlechten Momenten, auch in den guten, in denen sich da zwar viele Menschen um einen scharen, von denen es aber die wenigsten ehrlich meinen. Man will nur selbst glauben, dass sie einem alle freundschaftlich gesinnt sind.
Dass Frankfurt sie in dieser Lebenssituation aber derart kaltstellen würde, als ginge ihn das alles nichts an, das überrascht selbst Anne.
War da nicht auch ein Teil von ihm gegangen? Ah, Anne vergaß, er hat seine legitimen Teile ja bereits mit einer legitimen Frau in die Welt gesetzt. Mehr Legitimität geht nicht.
Genug der verhärmten Gedanken, denkt Anne.
Das Verlorene, das geopferte Leben wird an ihr haften bleiben.
An einem sonnigen Montag Ende Februar beerdigen sie den Vater.
Es ist eine schlichte Bestattung, so hat er es sich gewünscht. Enge Freunde hatte er in Hamburg nie gehabt. Manchmal machte es den Eindruck, als seien stille Erinnerungen seine einzigen ‚Freunde‘ gewesen. Es gab da nur einen Kriegskameraden aus der alten Heimat, der aber vor dem Vater verstorben war.
Und angesichts seines Alters scheint es so, dass von seiner direkten Verwandtschaft wohl auch nicht mehr viele leben, sonst hätte der Vater doch etwas gesagt. Oder?
Die Urne des Vaters wird klassisch in einer Wand bestattet und dann mit einer Platte abgedeckt. Der Vater beschreitet seinen letzten Weg in den Händen Annes. Am Ende des Lebens trägt sie ihn.
Anne stellt die Urne in der kleinen Kammer in der Wand ab und streicht noch einmal sanft mit der Hand über das Gefäß. Dann muss sie Platz machen für die anderen Trauergäste.
Die Mutter spielt die trauernde Witwe.
Der Bruder und seine Brut sind nicht gekommen.
Anne muss sich noch entscheiden, was und wer von all dem sie mehr anwidert.
Nach einem zwanghaften Leichenschmaus fährt Anne an die Elbe.
In der Einsamkeit lässt es sich gut weinen.