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4 Biala - Das neue Leben der Kinder Schneeberg

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Nach der Bestattung der Eltern pendelt sich im Haus der Schneiderei Schneeberg für alle, die unter diesem Dach leben, ein neues Leben ein.

Die Frau des Geschäftsführers überwindet, sehr zur Überraschung ihres Mannes, ihr anfängliches Entsetzen über die plötzliche Mutterrolle, die ihr testamentarisch verordnet wurde, innerhalb weniger Wochen. Sie sagt es nicht laut, aber jeden Tag gefällt es ihr ein Stück besser, gebraucht zu werden. Jedes kleine Dankeschön der Kinder macht sie glücklich. Sie übernimmt sogar freiwillig einige Arbeiten im Haushalt, die man eigentlich einer Zugehfrau überlassen wollte, wie z.B. das tägliche Kochen, die Überwachung der Hausaufgaben der Jungen und die Betreuung der Mädchen an den beiden Nachmittagen, die sie sich eigentlich freispielen wollte.

So entsteht mit der Zeit eine gewisse Zuneigung zwischen den Mädchen, Franz und ihr. Wenzel hingegen bleibt auf Distanz, höflich aber entschieden.

Eine dieser Frauen, denen man nicht trauen darf, eine mehr, denkt er.

Für den Geschäftsführer bedeuten die geänderten Verhältnisse ein Vielfaches an Arbeit. Er hat zwar in der Schneiderei zusätzliches Personal eingestellt, dennoch laufen alle Entscheidungen und Kontrollen über ihn. Er hätte nie damit gerechnet, dass dies alles derartige Ausmaße annehmen würde. Hatte Jonas Schneeberg denn so viel bewältigt oder war er selbst langsamer und unfähiger, die Dinge zügig abzuwickeln?

Für seine Frau und die sozusagen frische Familie bleibt ihm wenig bis keine Zeit. Er bedauert das, denn eigentlich würde er gerne mehr mit ihnen unternehmen, vor allem mit den Jungen.

Aber der Alltag ist der Alltag und so wachsen Wenzel und Franz weiter vorrangig in weiblicher Umgebung auf. Wenzel hasst es, Franz liebt es, unterschiedlicher als die beiden können Brüder kaum sein.

Schultechnisch hat sich nichts geändert. Franz wurde vom Vater noch in die deutsche Grundschule eingeschult, Wenzel wird dort sein letztes Jahr im Sommer abschließen und auf das deutsche Gymnasium wechseln.

Ihre Schule ist keine Selbstverständlichkeit, das wissen die Brüder. Das Schulgeld ist hoch und nicht jeder in der oberen Mittelschicht kann es sich leisten.

Wenzel ist ein ausgezeichneter Schüler mit vielen Talenten, vor allem musischen. Er liest viel, schreibt kleine Geschichten und hat mit dem Malen begonnen.

Franz interessiert all das weniger. Er will wissen, wie das Leben auf Erden entstanden ist, warum Züge fahren, wieso Pistolen schießen, wie das Licht in die Glühbirne kommt und warum Wasser kocht.

Franz will die Welt erforschen.

Auguste und Antonie haben noch zwei Jahre bis zur Einschulung. Sie spielen sich durch die Tage und wer ihr Spiel beobachtet, sieht auf den ersten Blick, wer der beiden die Stärkere, die Macherin und die Beschützerin ist. Auguste lenkt und führt, mit Bedacht, jedoch bestimmt. Antonie folgt gerne, immer ein wenig scheu und ängstlich, eine Angst, die ihr Auguste nimmt.

Die beiden trainieren für ihr weiteres Leben.

Eine für beide, keine jemals alleine.

Für die Sommerferien der Jungen ist angedacht, dass diese teilweise die Betreuung der Mädchen übernehmen. Nicht jeden Nachmittag, aber doch zwei bis drei Mal die Woche, damit die Frau des Geschäftsführers ihre Kontakte und Damenkränzchen mehr pflegen und wiederauffrischen kann.

Franz übernimmt die Aufgabe gerne, er verbringt gerne Zeit mit den Mädchen.

Wenzel legt sich von Anfang an quer. Er denke nicht daran, auch nur eine Sekunde mit den Schwestern tot zu schlagen.

In seinen Augen ist das verschwendete Zeit, die Mädchen haben schon viel zu viele Jahre wie Kuckucke im Nest gesessen. Es wird Zeit, dass jemand damit beginnt, klare Zeichen zu setzen.

Wenzel fühlt sich darin dem Vater verpflichtet.

Als man ihm den Plan für die Sommermonate unterbreitet, sagt er:

»Kuckuckskinder werden aus dem Nest gestoßen, nicht weiter gefüttert oder gar bemuttert. Sollen sich die Bälger doch selbst beschäftigen, so wie sie das im Leben dann auch einmal tun müssen, denn wenn ich eines Tages Herr in diesem Haus bin, werde ich sie fortschicken. Es wird mir egal sein, wohin sie gehen, was aus ihnen wird. Das sind nicht meine Schwestern.«

Der Geschäftsführer verbietet Wenzel das Wort.

Er habe zu gehorchen und wie Franz auf die Mädchen zu achten. Er werde das nicht diskutieren und in Zukunft möge er seine Ansichten doch bitte für sich behalten.

Wenzel erkennt, dass Widerrede zwecklos ist, jetzt. Aber sobald er etwas zu sagen hat, wird er diesem Geschäftsführer und seiner Frau ebenso die Tür weisen. Er hasst sie beide, noch zwei Kuckucke, die sich ins gemachte Nest des Vaters gesetzt haben. Alles Schmarotzer und Taugenichtse.

Zu Franz hat er sich noch keine endgültige Meinung gebildet. Der Bruder ist schwach, es muss das Alter sein, er will ihm noch ein paar Jahre geben.

Dann wird Wenzel auch seinen Fall entscheiden.

Denn wer nicht entscheidet, hat nicht das Sagen. So wie der Vater mit der Mutter nie das Sagen hatte. Er hat immer sie den Ton angeben lassen, war stets nur reaktiv nie bestimmend.

Dieser Fehler wird Wenzel nicht unterlaufen.

Er wird entscheiden, immer, über alles und über jeden.

Das zumindest glaubt der knapp elfjährige Wenzel an diesem Tag.

Aktuell bleibt ihm nur, die Entscheidung des Geschäftsführers zu akzeptieren und im Sommer an manchen Tagen auf die Mädchen aufzupassen. Noch nie hat er den letzten Schultag so wenig herbeigesehnt wie dieses Jahr.

Die Frau des Geschäftsführers hat eine Art Plan gezeichnet, mit allen Wochen und Tagen bis zum Schulbeginn. Wenzel und Franz sollen an den Montagen, Mittwochen und freitags den Schwesterdienst antreten. An allen anderen Tagen übernimmt die Frau des Geschäftsführers. Die Wochenenden gehören der künstlichen Familie.

Am ersten Ferienmontag täuscht Wenzel nach dem Mittagessen Magenschmerzen vor und bittet Franz, doppelt gut auf Auguste und Antonie zu achten.

Franz sieht es dem Bruder an, es fehlt ihm rein gar nichts, er will nur seine Ruhe und die soll er haben. Es ist ohnedies viel entspannter ohne Wenzel, eigentlich ist das auch nie anders gewesen, vor allem wenn es um die Mädchen ging.

Franz hat sich für den Nachmittag ein paar lustige Spiele im Park ausgedacht. Zum Abschluss soll es zum Fische fangen an den Bach gehen, der im Sommer immer randvoll mit Babyfischen ist, die sich besonders gut mit den Händen fangen lassen.

Wenzel steht am Fenster seines Zimmers und sieht zu, wie Franz und die Mädchen ausgelassen über die Parkwiesen toben. Er sieht auch, dass Auguste und Antonie immer hübscher werden und viel mehr Blicke auf sich ziehen als die blonden, helläugigen Brüder. Seltsam, denkt Wenzel, sehen sie doch aus wie dahergelaufene Zigeunerinnen.

Für Mittwoch wird er sich eine andere Entschuldigung ausdenken müssen, er will nicht mit der Schwesternbrut gesehen werden, nicht solange es sich vermeiden lässt.

Abends fragt er Franz, wie es denn so gelaufen sei. Der strahlt übers ganze Gesicht. Die Schwestern seien solch ein Sonnenschein und lustig und gescheit. Wenzel wisse gar nicht, was ihm entgehe. Kaum hat er die Worte gesagt, bereut Franz sie auch schon wieder.

Vor ihm steht ein wutentbrannter Bruder, der seine Arme hinter dem Körper krampfhaft verschränkt, damit ihm die Hand nicht entgleitet. Franz weiß, dass diese Körperhaltung nur eine Stufe vor Angriff steht, lächelt den Bruder entschuldigend an, dreht sich vorsichtig ab und lässt Wenzel stehen.

Nächstes Mal wird er seine Zunge hüten, der Mädchen und sich selber willen, das schwört sich Franz.

Zwei Tage später will Wenzel kein plausibler Grund einfallen, der es ihm erlaubt, sich ein weiteres Mal zu drücken. Das ganze Mittagessen hindurch stochert er in den Fleischknödeln auf der Suche nach einer Idee, vergebens. Nach dem Abräumen des Tisches eilen die Mädchen in Vorfreude auf einen Ausflug mit Franz in den Flur, ziehen sich die Schuhe und ihre Jacken an und warten auf den Bruder.

Und der Bruder kommt, nur der andere.

Wenzel bäumt sich vor ihnen auf und blickt ihnen bestimmt in die Augen. Heute werde gemacht, worauf er Lust habe, ob sie das verstehen würden.

Franz hört den Ton des Bruders und ahnt nichts Gutes. Die Mädchen stehen nur stumm und eingeschüchtert da.

Die Kinder verlassen die Wohnung, vorne Wenzel, die anderen hinter ihm, in absoluter Stille. Sie schlagen nicht den Weg zum Park ein, sondern gehen in Richtung Kirche.

Was der Bruder dort wohl will, fragt sich Franz. Um die Kirche herum gibt es keine Spielplätze, es ist eine triste, graue Gegend, in die niemand freiwillig geht, auch um die Ruhe der Toten nicht zu stören.

Bei der Kirche angelangt, biegt Wenzel nach links in Richtung Friedhofstor ab.

Die Geschwister bleiben zögerlich stehen, ein Blick von Wenzel gibt ihnen jedoch klar zu verstehen, dass weitermarschiert wird.

Wenzel öffnet das Tor zum Friedhof und schubst ein Geschwister nach dem anderen auf den Friedhof. Das Tor fällt mit einem gruseligen Geräusch ins Schloss.

»Was tun wir denn hier?«, fragt Franz, erhält jedoch keine Antwort.

Wenzel stapft weiter zur Lichtung im hinteren Teil des Friedhofes, wo die alten Kiefern stehen und die Eltern begraben liegen.

Am Grab der Mutter und des Vaters angelangt, sagt Wenzel:

»Heute spielen wir ein ganz neues Spiel. Wir spielen sterben, so wie es die Eltern gespielt haben. Franz, du bist der Vater, Auguste, du die Mutter. Ja und ich und Antonie wir sind die Kinder oder besser gesagt das Publikum.«

Franz und Auguste sehen einander erschrocken an. Wie sollen sie denn bitte sterben spielen, noch dazu wie der Vater und die Mutter. Sie wollten das alles doch so rasch wie möglich vergessen. Außerdem weiß keiner der beiden, wie die Eltern exakt aus dem Leben geschieden sind. Franz hat nur ein paar Gerüchte gehört, Auguste glaubt nach wie vor, dass der liebe Gott die beiden aus dem Schlaf zu sich geholt hat.

Also sagt Franz;

»Sei mir nicht böse, Wenzel, aber wir können und wollen dieses Spiel nicht spielen. Es macht uns traurig, es macht uns Angst. Es ist kein Spiel, es ist grausam. Wie konntest du dir nur so etwas ausdenken?«

Franz nimmt seine Schwestern bei der Hand und läuft mit ihnen vom Friedhof, so schnell er nur kann.

Zurück bleibt ein zufrieden lächelnder Wenzel. Er hat den Geschwistern gezeigt, wer das Sagen hat. Er hat ihnen gezeigt, dass er keine Skrupel hat, kein Pardon und auch kein Vergessen kennt. Er hat ihnen gezeigt, dass sie ihm blind überall hin folgen würden. Nächstes Mal noch einen Schritt weiter.

Dem Vater hat er gezeigt, dass er geradlinig und furchteinflößend sein kann, ein Macher, ein Schneeberg eben.

Ja und der Mutter hat er gezeigt, dass er zeitlebens das Licht der Schande auf sie leuchten lassen wird. Heute ist den Geschwistern die volle Wahrheit erspart geblieben, aber bald, ja bald und immer wieder, wird er ihnen erzählen, was sich wie zugetragen hat.

Dann wird die Mutter ein zweites Mal sterben. Sie hat es verdient.

Wenzel ist kälter als Eis und härter als Stein. So wollte er immer sein. Der Vater wäre stolz auf ihn.

Den Rest des Sommers versuchen nun Franz und die Mädchen eine Entschuldigung dafür zu finden, mit Wenzel nichts unternehmen zu können. Zu dritt ist das nicht so schwierig, irgend jemand hat immer etwas vorzubringen.

Im September wird Wenzel ins Gymnasium eingeschult. Er darf wählen, welchen Zweig er besuchen will, und entscheidet sich für den humanistischen, denn unter der harten Schale des Jungen schlummert ein künstlerisch und musisch begabtes Wesen.

Zuhause zeigt er diese Facette nicht, aber die Lehrer haben dem Geschäftsführer berichtet, dass sie den Jungen für außergewöhnlich intelligent und künstlerisch begabt halten. Laut Testament hätte Wenzel eigentlich nach den Pflichtschuljahren in der Schneiderei eine Lehre antreten sollen. Die Lehrer erwirken jedoch die Fortsetzung der schulischen Ausbildung, sehr zu Freude Wenzels.

Er hat nie Schneider werden wollen. Ein Leben lang vermessen, entwerfen, zuschneiden, auffädeln und nähen. Nein, das ist nichts für ihn. Er ist zu höherem berufen, er will mit seinem Kopf, seinen Gedanken und seinen Ideen arbeiten.

Er will etwas dazu beitragen, dass die Welt eine klügere und bessere wird, in der Männer, wie er einer sein wird, das Sagen haben.

Wenzel hat seinen Weg genau vor Augen und wird in der Schule alles geben. Sein Traum ist es, anschließend das evangelische Lehrerseminar in Bielitz zu besuchen, von dem der Vater einst gesagt hatte, dass dieses nichts für seine Söhne sei.

Doch Vater, ist es, und ich werde es dir beweisen, sagt sich Wenzel jeden Tag.

Sein ganzer Fleiß, seine ganze Energie gehen in schulische Belange. Es ist als sehe er links und rechts nichts anderes mehr. Nach kurzer Zeit wird er in den Chor aufgenommen, ist der beste Schüler in seinen Lieblingsfächern Deutsch und Malerei, führt anspruchsvolle Dialoge mit dem Geschichtslehrer und liebt es, sich tagelang in der Bibliothek der Schule für die unterschiedlichsten Nachforschungen zu verschanzen.

Der Geschäftsführer fragt Wenzel mehrmals, ob er denn denke, dass dies alles nicht ein wenig zu viel des Aufwandes sei, und was er denn einmal werden wolle.

Die Antwort ist vom ersten Tag an dieselbe.

Er werde der beste und disziplinierteste Grundschullehrer Schlesiens werden. Sein Name solle einmal weit über die Grenzen des Landes hinaus bekannt sein. Er werde ganze Generationen von Kindern die Werte mitgeben, die sie brauchen, um ein ehrenhaftes und wohlhabendes Leben zu leben.

Ja und er, Wenzel selbst, werde dadurch zu einem reichen und angesehenen Mann werden, eine Familie gründen, sie glücklich machen und dafür sorgen, dass seine Kinder in einem Elternhaus aufwachsen, das makellos und ohne Schande ist.

Dafür lerne er Tag und Nacht und man solle ihn dabei nicht behindern, denn er habe ein Ziel und werde dafür jedes Opfer bringen, JEDES.

Wie grausam das Leben Kinder aus ihrer Kindheit reißen kann, denkt der Geschäftsführer. Noch nie hat er aus dem Mund eines Kindes - denn das ist Wenzel mit fast zwölf Jahren noch - so entschlossene und unerbittliche Worte gehört. Die versteinerte Miene des Jungen verrät keinerlei Gefühlsregung.

Wie denn auch, Wenzel hat kaum Gefühle.

Alle Familienmitglieder erkennen sehr schnell, wie ernst es Wenzel mit alldem ist, und lassen ihnen ungestört schalten und walten.

Franz hütet sich, den Bruder beim Studium zu unterbrechen. Die Mädchen gehen nachmittags auf Zehenspitzen durch die Wohnung, um Wenzel nicht zu erzürnen.

So wächst Wenzel zum Schrecken der Familie heran. Alle fürchten ihn, kaum einer liebt ihn, nur Franz fühlt sich ihm noch ein wenig verbunden.

Es ist doch sein Bruder, sagt er sich immer wieder.

Die Monate und Jahre ziehen ins Land.

Die Mädchen werden eingeschult, dem Wunsch des Vaters entsprechend in eine Schule, in der kein Schulgeld zu berappen ist.

Franz folgt Wenzel aufs Gymnasium, konzentriert sich jedoch im Gegensatz zum Bruder auf die naturwissenschaftlichen und technischen Fächer.

Und Wenzel besteht die höhere Reife im Alter von nur siebzehn Jahren mit ausgezeichnetem Erfolg. Noch am Tag der Zeugnisverleihung bewirbt sich Wenzel in der evangelischen Lehrerbildungsanstalt in Bielitz, ohne vorige Rücksprache mit dem Geschäftsführer, den er beim Abendessen vor vollendete Tatsachen stellt.

Es werde drei bis vier Wochen dauern, bis er wisse, ob er einen Studienplatz bekomme. Bis dahin wolle er gerne im Laden aushelfen, gegen Bezahlung versteht sich, denn als Student werde er mehr Geld brauchen und das wolle er sich so gut wie möglich selbst verdienen, womit er nicht meine, dass er damit die Reserven aus dem Erbe des Vaters zur Gänze entlasten werden.

In diesem Moment wissen alle am Tisch, was bei Wenzel ab sofort Sache ist.

Der Geschäftsführer teilt ihm eine Stelle im Verkauf zu, um zu sehen, wie sich der Junge anstellt. Wenzel erstaunt alle, er ist der Ausbund an zuvorkommender Höflichkeit, gepaart mit einem Charme, der die Kundenherzen sofort gewinnt und sich in Biala schnell herumspricht.

Äußerlich hat sich der Junge zu einem attraktiven Jüngling gewandelt, mit erster Wirkung auf die Damenwelt. Auch Wenzel hat das bemerkt und damit begonnen, seine Möglichkeiten zumindest theoretisch auszuloten. Das Praktikum im Sommer bestärkt ihn darin, dass er jede Frau haben kann, wann und wo und wie oft er will.

Nur bis jetzt war da noch keine, die er gewollt hätte.

Im Oktober des Jahres 1901 wird Wenzel in das evangelische Lehrerseminar aufgenommen.

Für ihn ist es der wichtigste Tag in seinem Leben, wichtiger als alles bis dato Dagewesene, den Tod der Eltern eingeschlossen.

Ab heute beginnen seine eigene Zeitrechnung, sein Lebensplan und seine Zukunft.

Ja, der Vater hat ihn testamentarisch dahingehend abgesichert, dass er sich um die Kosten der Ausbildung keine Sorgen machen muss, aber das ist auch schon alles, was ihm die Eltern noch mitgeben können.

Wenzel beschließt auch im Lehrerseminar zu einer Richtgröße zu werden. Er wird nicht nur brav dem Lehrstoff und den Ideen des Lehrkörpers folgen, er wird die Dinge hinterfragen. Er wird Dialoge anzetteln, er wird Denkweisen herausfordern und er wird Lehrer an ihre Grenzen führen.

Denn ihre Grenzen werden sein Anfang sein.

Wenzel hat sich über sich selbst erhoben. Sein Schicksal und der Schmerz des Lebens haben ihn dorthin gebracht.

Wenzel beginnt, sich selbst zu überschätzen.

Seine Geschwister und das Geschäftsführerehepaar beobachten diese Entwicklung mit großer Sorge.

Schwarzer Mohn

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