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3 Was bleibt

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Anne hat schlecht geschlafen. Als sie aufwacht, ist sie schweißgebadet, ihr Kopf dröhnt und das unangenehme Ziehen im Unterleib ist auch wieder da.

Der Arzt hatte ihr schon gesagt, dass die Symptomatik ein paar Wochen anhalten werde, dass sie sich aber so elend fühlen würde, hätte Anne nie im Leben gedacht.

Seit den starken Blutungen sind fast drei Wochen vergangen, die Schmerzen kommen fast täglich, ihre Haut im Gesicht gleicht der einer Pubertierenden. Gleichzeitig fühlt sich Anne um Jahre älter und desillusionierter.

Sie geht in die Küche, öffnet den Kühlschrank und spürt nichts als Ekel. Irgendetwas wird sie aber zu sich nehmen müssen. Anne weiß, sie muss einen Weg zurück in die Normalität finden. Sie ganz alleine, denn die Familie und der Kindsvater wissen nichts von ihrem Zustand.

Bei der Familie wird das auch so blieben, dem Kindsvater wird sie reinen Wein einschenken, sobald sie dazu seelisch in der Lage ist.

Sie brüht Filterkaffee auf, eine ganze Kanne, und wirft zwei Scheiben Vollkornbrot in den Toaster, die sie noch warm mit Ghee und Honig bestreicht. Zu mehr kann sie sich nicht durchringen.

Gefrühstückt wird auf dem Sofa, mit Blick in den Garten, in dem erste Vorboten des Frühlings zu sehen sind. Die Schneeglöckchen und Märzenbecher spitzen aus dem Boden, die Vögel picken in der Erde nach Essbarem und die Bäume haben Knospen angesetzt.

Der erste Frühling ohne den Vater.

Kein erster Frühling mit ihrem ungeborenen Kind.

Annes zweifach harte und ernüchternde Realität.

Der Toast schmeckt nicht und der Kaffee hat einen bitteren Abgang. Wie das Leben, denkt Anne und nickt auf dem Sofa nochmals für ein paar Minuten ein. Als sich die Mittagssonne ihren Weg ins Wohnzimmer bahnt, steht sie auf und geht in den Garten. Dort bleibt sie nicht lange, sie erträgt den Geruch und Anblick neuen Lebens nicht.

Es ist besser, den Alltag zu planen. Am Montag wird sie mit der Finanzabteilung abklären, ob nach dem Ableben des Vaters noch Pendenzen anstehen. Am Mittwoch stehen einige Kundenbesuche in der Zentrale an, am Donnerstag ist die Testamentseröffnung. Ein reiner Formalakt, denn das ist ja bereits zu 100% geregelt, denkt Anne.

Für Freitag hat die Mutter zum Essen eingeladen, um die Familie wieder zu einen, hat sie gesagt. Alle werden kommen, obwohl jeder weiß, dass es da nichts zu einen gibt. Aber gut, eben die zweite Formalveranstaltung der Woche.

Als die Sonnenstrahlen immer stärker werden und der Himmel fast wolkenlos ist, entschließt sich Anne spontan für einen Ausflug ans Meer. Jede noch so kleine Abwechslung und Ablenkung ist besser, als zuhause in Gedanken versunken die Stunden zu zählen.

Anne zieht sich schnell strandgeeignet an, packt noch ein paar Jeans und Sweater ein, falls sie bis Sonntag abends bleiben will, wirft die Taschen ins Auto, tankt noch schnell und fährt los.

Es ist immer wieder schön sich aus den Elbvororten in Richtung Stadt und Autobahnanschluss Richtung Norden zu schlängeln, findet Anne. Das ist ihre Stadt, sie war es schon immer, obwohl sie hier nie eine Liebe gefunden hat, die sie an den Ort binden würde. Es sind andere Bande, für die sie keine Erklärung hat.

Als sie im Rückspiegel die letzten Häuser Hamburgs verblassen sieht, atmet Anne erleichtert auf. Nach einer Stunde erreicht sie Timmendorf und parkt gleich am Ortsanfang auf dem Parkplatz am Vogelpark. Von dort ist es nur ein Katzensprung zum Strand, sie will unbedingt zu allererst einen langen Spaziergang am Meer machen, in Gummistiefeln und Wachsjacke, ihrer Lieblingsgarderobe bei steifer Brise.

Der Strand ist menschenleer, die Brandung für Timmendorf stark. Anne bleibt auf mittlerer Strandhöhe und marschiert los. Der Wind peitscht ihr so stark ins Gesicht, dass die Augen tränen, ihre Hände werden immer kälter.

Draußen auf dem Meer sieht sie eine schwarze Wolkenfront in Richtung Land ziehen.

Schön, denkt Anne, richtig schlechtes Wetter, ein heftiger Frühlingssturm, niemand weit und breit und das ganze Wochenende liegt vor ihr.

Sie nimmt sich vor, ungefähr eine Stunde zu gehen und vor dem Rückweg irgendwo eine Tasse Tee zu trinken. Als sie die Uferpromenade betritt, sieht Anne jedoch sofort, dass die meisten Kaffees und Kioske noch geschlossen sind. Sie wird also zurück ins Zentrum gehen. Das Café auf dem zentralen Marktplatz hat sicher geöffnet und auf der beheizten Terrasse lässt es sich gemütlich Tee trinken.

Anne soll recht behalten, das Café hat geöffnet und auf der Terrasse, unter der schützende Überdachung, sind genügend Tische frei. Sie setzt sich neben ein Paar mit Hund, vielleicht gibt es ja eine nette Unterhaltung, die sie belauschen kann, die sie in eine andere, schönere Welt mitnimmt.

Anne bestellt Tee, Rührei mit Krabben und Pumpernickel. Sie muss an den Vater denken. Das wird er wohl auch gegessen haben, wenn er hier oben zu Kur war. Da nur wenige Gäste im Lokal sind, wird recht zügig serviert, fast zu schnell. Anne will doch beobachten, in andere Welten hinein hören, das Leben anderer träumen und ein wenig vergessen, nur für einen Augenblick.

Das Paar nebenan streitet sich, zuerst mit leiser Stimme, dann immer lauter. Der Hund beginnt nervös zu zappeln. Tiere spüren alles, mehr als der Mensch, auch ohne Worte, denkt Anne.

Der Streit dreht sich um Geld, Eifersucht, Betrug, unerfüllte Erwartungen, erfüllte Enttäuschungen und eine Nichtperspektive, die beidseitig zu sein scheint.

Gibt es eigentlich auch irgendwo auf dieser Welt schöne, harmonische und friedliche Beziehungen, fragt sich Anne.

Die lautstarke Unterhaltung am Nebentisch endet abrupt, als der Mann bezahlt, aufsteht und die Frau einfach sitzen lässt, die in ihren Stuhl gedrückt sitzenbleibt und sich eine Zigarette anzündet. Die Glimmstängel und ein Feuerzeug hat sie noch, alles andere und den Hund hat der Mann mitgenommen.

Anne versucht so zu tun, als habe sie nichts mitbekommen.

Die Frau sieht sie an und meint, Anne habe es besser, alleine und selbstbestimmt. Das solle sie nie vergessen.

Wie kommt sie dazu, mir Ratschläge zu erteilen, denkt Anne, lächelt milde und wendet sich ihrem Handy zu. Es ist wohl besser, Geschäftigkeit vorzutäuschen und so eine Unterhaltung mit der Tischnachbarin zu vermeiden.

Nach dem Essen fröstelt es Anne. Sie muss sich wieder bewegen, zahlt und geht zurück an den Strand. Auf dem Weg zum Auto überlegt sie, ob sie eine Nacht bleiben soll. Nach der Begegnung im Restaurant hat sie darauf wenig Lust. Schlechte Stimmung kann sie in ihren eigenen vier Wänden auch selbst produzieren.

Anne fährt zurück nach Hamburg und kommt dort spät nachts an. Der Tag ist geschafft, einer mehr in der Reihe von Tagen, die sich seit den jüngsten Ereignissen alle wie eine Ewigkeit anfühlen.

Die Reise hat sie richtig bettschwer gemacht, zu schwer für belastende Träume hofft sie, duscht heiß und geht sofort zu Bett.

Ihr Wunsch soll nicht in Erfüllung gehen. Es ist die nächste Nacht mit schlimmen Filmen, die durch ihren Kopf brausen, mit Ängsten, die ihr morgens noch in den Gliedern sitzen.

Der Vater, das Kind, beide haben Anne aus einer anderen Welt fest im Griff.

Anne weiß, in so einer Verfassung hilft nur Arbeit, öffnet die großen Flügeltüren zum Garten und geht in das Gartenhäuschen, das als Abstellkammer für ihr Fahrrad und das Gartenwerkzeug dient.

Zuerst wird sie mit dem Rechen den Rasen vom Moos des Winters, den Ästen und dem vermoderten Laub befreien. Danach werden die Blumenbeete gehackt und wenn noch Kraft bleibt, alle Rosen geschnitten.

Nach den ersten Bahnen mit dem Rechen beginnt Anne zu schwitzen. War die Arbeit letztes Jahr auch so anstrengend gewesen? Als sie mit den Rasenflächen fertig ist und allen Unrat im Kompostbehälter verstaut hat, ist auch sie fertig.

Anne geht in die Küche, macht Kaffee und kramt aus einer Lade eine Packung Dinkelbutterkekse, platziert alles auf einem Tablett und geht zurück auf die Terrasse. Der Gartentisch trägt noch das Grau des Winters, der Terrassenboden das Grün des Mooses, das der Hamburger Regen in den Wintermonaten sprießen lässt.

Alles nicht perfekt, aber so nebensächlich. Anne setzt sich an den Tisch, lässt sich die Sonne ins Gesicht scheinen und knabbert ein Keks nach dem anderen zu ihrem geliebten schwarzen Filterkaffee.

Wie einfach es ist, zufrieden zu sein, denkt Anne.

War das immer so gewesen oder macht einen das Leben mit jedem Schicksalsschlag bescheidener?

Oder hat sich ihre Freundin, die Einsamkeit, in der Bescheidenheit und Einfachheit Wegbegleiter gesucht?

Anne kennt keine eindeutigen Antworten auf diese Fragen. Sie stellt lediglich fest, dass sie sich mit der Kombination Einsamkeit, Bescheidenheit und Einfachheit wohl fühlt.

Und Anne stellt fest, dass das in der Gesellschaft von Menschen immer weniger der Fall ist. Immer öfter drückt sie sich um Einladungen, immer häufiger vermeidet sie jede Art von Treffen, die nicht unbedingt notwendig sind, privat und beruflich.

Das ist genug der Selbsterkenntnis bei schwarzem Kaffee und trockenen Keksen, findet Anne, und macht sich an das Hacken der Beete.

Die Erde ist noch nass und an manchen Stellen dick und schwer wie Lehm. Es sind nur zwei halbmondförmige Beete vor der Terrasse, kaum mehr als acht Meter, für die Anne beinahe drei Stunden benötigt.

Und plötzlich wird ihr Schwarz vor den Augen, Anne muss sich setzen. Ein kurzer Gedanke an Frankfurt, dem sie noch immer nicht geschrieben hat, wie es ihr geht. Aber nein, schnell verdrängen.

So war sie schon immer gewesen. Alles ausreizen bis zum geht nicht mehr, stets die eigenen Grenzen ausloten, auch wenn sie das nahe an Abgründe führt, die sie so nicht erwartet hat und vor denen sie gerade noch in letzter Minute halt machen kann, bevor es unwiderruflich bergab und nicht mehr zurück geht.

Genauso heute. Anne weiß, dass sie sich körperlich noch schonen soll. Der Arzt hat ihr eindringlich erklärt, dass in ihr eine offene Wunde klafft, die einige Wochen benötigen wird, um sich zu schließen.

Und was macht sie? Sie trampelt förmlich auf dieser Wunde herum, so als wolle sie verhindern, dass sie jemals verheilen kann.

Anne ist eine unbelehrbare und komplexe Persönlichkeit. Manchmal scheint es ihr, als verstünde sie nur die Sprache des Schmerzes, des physischen und psychischen.

Schmerz ist der einzige Lehrer, den Anne zulässt.

Ihre Krämpfe setzen bei diesem Gedanken, genau in diesem Moment ein. Sie verstaut das Werkzeug wieder im Gartenhaus, räumt den Tisch ab, schließt die Türen zum Garten, duscht und verbringt den Rest des Sonntags auf dem Sofa.

Dann lassen die Schmerzen nach, Anne hat gelernt und schläft erschöpft ein, diesmal zu müde für auch nur irgendeinen Traum.

Als sie erwacht, ist es zwar noch dunkel, aber durch die Baumkronen im Garten kann Anne erkennen, dass es bald dämmern wird. Die Uhr in der Küche bestätigt ihre Einschätzung, es ist kurz nach fünf.

Zu spät, um sich nochmals aufs Sofa zu legen, zu früh, um ins Büro zu fahren. Aber warum stets der Norm entsprechen und alles wie die anderen machen, denkt Anne, geht ins Bad und beginnt sich für die Firma vorzubereiten.

Nach einem kurzen Frühstück im Morgenmantel, zieht sie sich an, schminkt sich fertig und fährt in den Verlag.

Herrlich, denkt Anne schon als sie in die Tiefgarage fährt. Kein Pförtner, der ihre Ankunft registriert, nur die Beleuchtung, die sich automatisch aktiviert, als sich die Schranke zur Garage hebt.

Danach im Lift kein Mensch, kein dummes Geplapper über banale Wochenenderlebnisse, kein Gestank nach viel zu billigem Parfüm. Einfach nur Ruhe und das bis zu ihrem Büro. Anne sperrt die Tür auf, öffnet das Fenster, macht sich einen Espresso und lässt den Duft des Kaffees gemischt mit frischer Morgenluft den Raum erfüllen.

Sie wird ab sofort versuchen, jeden Tag früher ins Büro zu kommen. Das ist entspannter und garantiert ein bis zwei wirklich produktive Stunden, bevor das zeitraubende, tägliche Geplänkel mit Mitarbeitern beginnt.

Als ihre Sekretärin ihren Arbeitsplatz bezieht, hat Anne bereit alle Mails soweit abgearbeitet, dass sie entweder interne Abläufe zu diesen in Gang gebracht oder bereits direkt geantwortet hat.

Ein Blick durch die Glasfront ihres Büros in die Gesichter der Mitarbeiter zeigt, wie befremdend es die meisten wohl empfinden, dass Anne da bereits wie die Mutter der Nation in ihrem Büro sitzt, während sie ihre müden Morgenglieder mühsam zur Arbeit schleppen.

An der Kaffeemaschine in der Mitte der Gemeinschaftszone stecken die Köpfe eng zusammen, Anne kann es förmlich surren hören.

Gut, denkt sie, gleich ein wenig Tratsch und Klatsch am Morgen, dann ist hoffentlich die erste Negativenergie verpufft und konstruktives Arbeiten möglich.

Ihre erste Sitzung ist für neun Uhr angesetzt. Der testamentseröffnende Notar hat um einen Termin mit Ihr und der Finanzabteilung gebeten, es gebe da noch einige Punkte, die im Nachhinein ordentlich abzugrenzen seien, bevor das Testament vollzogen werden könne.

Anne ist ein wenig erstaunt, sie dachte alles sei geregelt, aber gut, sie will die Dinge ordentlich abschließen und geht davon aus, dass der Termin nicht lange dauern wird.

Der Notar ist pünktlich und hat einen ganzen Stoß Akten mitgebracht. Ebenso die Finanzabteilung. So als wollten sich alle hinter ihren Papierbergen verbarrikadieren. Wie lächerlich, denkt Anne.

Nach einer kurzen und freundlichen Begrüßung kommt der Notar zügig zur Sache.

»Ich will mich kurzfassen. Wie sie alle wissen, hat Herr Schneeberg die Dinge großteils vor seinem Ableben gut geregelt. Was den Verlag anbelangt, bleibt alles beim Alten. Bei den privaten Vermögensverhältnissen ergibt sich jedoch eine kleine Änderung, die Herr Schneeberg sozusagen im letzten Moment verfügt hat. Er hat mich dafür ins Sanatorium gerufen. Ich habe alle entsprechenden Unterlagen und Unterschriften mitgebracht.

Das Haus in Hamburg sowie sein Barvermögen auf privaten Konten geht wie geplant an seine Ehefrau.

Das Familienchalet in den französischen Alpen, ursprünglich Bestandteil des Erbschaftsanteils der Ehefrau Schneeberg, wird herausgelöst. Hierzu gibt es eine gültige Testamentsänderung, die neue Erbin sind sie, Frau Anne Schneeberg.

Da sie zugleich Alleinerbin der Firmenanteile Ihres Vaters sind, möchte ich mit ihrer Finanzabteilung gerne die steuerrechtlichen Besonderheiten abstimmen, die es zu berücksichtigen gilt. Auch das ist der ausdrückliche Wunsch ihres Vaters. Ihre Mutter ist noch nicht informiert, ich bitte daher alle Anwesenden um Diskretion«, sagt der Notar.

Anne ist perplex. Insgeheim hat sie bedauert, dass das Chalet der Mutter zufallen würde, die keinerlei Verbindung zum Haus und der Gegend hat.

Österreich ist unverständlicherweise all die Jahre der Goldstandard der Mutter geblieben. Für Frankreich konnte sie sich nie erwärmen.

Der Vater hatte immer gewusst, wie sehr Anne am Haus in den Bergen hängt, und dem hat er in letzter Minute Rechnung getragen. Anne ist gerührt und dreht sich zum Fenster, niemand soll ihre Emotionen sehen.

Nach einer Weile sagt sie:

»Wie man unschwer erkennen kann, ist das für mich ein bewegender Moment. Ich freue mich sehr über den Sachverhalt per se und werde das Testament so selbstredend annehmen. Trotzdem denke ich, es ist besser, ich lasse sie beide nun die restlichen Formalitäten abstimmen. Ich kann dazu fachlich nichts beitragen. Die offizielle Testamentsverkündung wird unter diesen Umständen möglicherweise etwas unangenehmer als erwartet.

Darauf werde ich vorbereitet sein.

Meine Finanzabteilung bitte ich, die steuerrelevanten Anpassungen so zu regeln, dass die Immobilie meinem Privatvermögen zugeordnet wird.

Damit bedanke ich mich für unser Gespräch, ich darf mich verabschieden.«

Anne steht auf, schüttelt dem Notar und dem Leiter der Finanzabteilung die Hand und verlässt den Raum.

Zurück an ihrem Schreibtisch nimmt sie das Bild des Vaters und spricht mit ihm ein ernstes Wort. Er sei wohl auch noch ‚von da oben‘ für Überraschungen gut, ob er denn wisse, welche familiäre Diskussion er damit vom Zaun gebrochen habe.

Aber natürlich wisse er das. Danke, lieber Vater, für dieses unermesslich große Geschenk, denkt Anne, küsst das Bild und stellt den Vater wieder an seinen Platz.

Das Chalet in den Bergen mit all seinen Erinnerungen wird nun also ihr gehören.

Anne hat viele Monate nicht an Jorge gedacht. Aber irgendwie ist er immer da, wie ein Geist, der sie nicht loslässt. Vor allem wenn ihre Gedanken um Frankreich kreisen.

Unlängst abends hat Anne auf Instagram gestöbert, ob sie ihn oder seine Familie irgendwo finden kann.

Und siehe da, er hat einen Account, aber mit nur drei Bilder. Eines vom Haus des Clans an einem See in Patagonien, mit Blick zum Strand, wo ein Boot am Ufer liegt. Wahrscheinlich sein Fischerboot.

Ein anderes mit Blick aufs weite Meer, aufgenommen irgendwo in der Karibik, steht da, vermutlich von einem Hochseeboot.

Und ein drittes von ihm selbst, so wie Anne ihn kennt.

In Jeans, mit dunkelblauer Jacke, die Hände keck in den Taschen, breitbeinig, mit noch breiterem Lächeln. So steht er da im Schnee, vor der Bergkulisse Patagoniens.

Er ist in der kurzen Zeit, die sie sich nicht gesehen haben, älter oder sagen wir reifer geworden, denkt Anne.

Im dunklen Haar zeigen sich erste graue Strähnen, der Dreitagesbart hingegen ist schon deutlicher ergraut.

Aber immer noch dieses unwiderstehliche Lächeln, er wird es wohl auch noch als alter Mann haben.

Das ist alles, was sie von ihm seit ihrer Trennung gesehen hat. Gehört hat sie gar nichts mehr und das soll auch so bleiben.

Denn sie beide würde immer wieder dort anfangen, wo sie aufgehört haben, ohne wirkliche Perspektive auf ein gemeinsames Leben.

Es klopft an der Tür.

Es ist Anaï, die Produktmanagerin, die sie damals nach Madrid begleitet hat.

Sie wolle ihr nur ein kurzes Update zu den Gesprächen mit der spanischen IT Firma geben. Es laufe recht gut, auch wenn sich die Anzeichen für finanzielle Engpässe dort mehren würden. Sie befürchte, dass diese das Projekt ins Stocken bringen könnten und wolle das früh genug sagen, um im Notfall schnell mit Unterstützung rechnen zu können.

Anne versichert ihr, dass dies kein Problem sein werde.

Ja und dann wolle sie noch fragen, wie es Anne denn ginge, nach der schweren Zeit.

Anne fragt sich, ob ihre Schwangerschaft vielleicht doch nicht so unbemerkt geblieben ist wie sie das glaubt.

Anaï spricht weiter, sie meine all den Trubel um den Todesfall herum.

Anne ist erleichtert, ihr großes Geheimnis scheint also weiter das ihre zu sein.

Sie dankt Anaï für die Nachfrage, es gehe ihr wie es einem eben gehen kann, wenn der Vater gegangen ist. Als ihr die Worte über die Lippen kommen, bemerkt Anne, dass ihr Ton die Projektmanagerin von weiteren Fragen abhalten wird.

Man kann so viel ohne Worte sagen, wenn man die Tonlagen einer Sprache feinfühlig einsetzt.

Anne erkundigt sich noch, wann denn die nächsten Zahlen aus Spanien zu erwarten seien. Der Antwort zufolge wohl erst in zwei Monaten, das ist eine lange Zeit ohne Klarheit, wie es um die Zukunft eines potenziellen Partners wirklich bestellt ist. Aber gegen spanische Zeitrechnung ist kein Kraut gewachsen, der Verlag wird geduldig warten müssen.

Die Beiden vereinbaren noch eine nächste interne Besprechung für die Folgewoche, dann wendet sich Anne ihren Emails zu und Anaï verlässt ein wenig enttäuscht das Büro. Sie hatte doch gedacht, dass sie der Chefin in Madrid nähergekommen sei.

Die Unterhaltung von eben hat sich jedoch ganz und gar nicht so angefühlt. Anaï ist verunsichert, sie braucht den Rückhalt der Chefin, denn ihre Kollegen beobachten sie mit Argusaugen, gönnen ihr keinen Erfolg und sabotieren ihre Projekte, wann immer sie können.

Männer gleich wie Frauen.

Frauenloyalität in der Berufswelt gibt es nicht, weder in der Generation vor ihr noch in der ihren, das weiß Anaï. Nun ja, vielleicht sind da einige wenige Frauen, die sehr wohl loyal sein können. Sie selbst hält sich für so eine und dachte, auch die Chefin sei aus diesem Lager.

Anne sieht das anders, viel nüchterner.

Sie war immer um Loyalität bestrebt gewesen, hat versucht, Seilschaften zu knüpfen, aber nach all den Jahren im Geschäft weiß sie, es gibt in einer Laufbahn vielleicht eine oder zwei Frauen, auf die man bauen kann. Das denkt Anne auch noch heute.

Beim Rest schlagen leider an irgendeinem Punkt über zweitausend Jahre lang geprägte Verhaltensmuster durch. Gefalle dem Mann, gib alles dafür, auch wenn es weht tut, und entledige dich deiner Konkurrentinnen mit den verfügbaren Mitteln, auch wenn diese weh tun.

Am Ende des Tages sind da immer noch die alten Rituale im Kampf um den Mann.

Wie langweilig, welch ein Armutszeugnis für ihr Geschlecht, denkt Anne immer wieder.

Daher hält sie es mit den Frauen, wie diese es verdienen. Immer auf Distanz, hoch alert und bei sich abzeichnendem Angriff zuerst zuschlagen.

Der berufliche Alltag hat Anne in diesem Aspekt zur Pragmatikerin gemacht.

Dementsprechend hat sie das Gespräch mit Anaï gestaltet. Distanz, vor allem dann, wenn das Gegenüber glaubt, diese Distanz sei dabei, sich zu verringern.

Die Zeit bis Büroschluss verbringt Anne mit Routinearbeiten, Kundenantworten, ein paar organisatorischen Telefonaten und der Planung der nächsten Tage.

Als sie den Verlag verlässt, ist sie mit der getanen Arbeit zufrieden, auch wenn es ein sehr langer Tag war.

Die Tage bis zum Ende der Woche verlaufen ereignislos, bis auf einen Ausreißer am Mittwoch.

Die Marketingabteilung lässt Anne wissen, dass die Buchungen für die Sonderbeilagen erschreckend niedrig seien. Für die Ausgabe im zweiten Quartal habe man erst dreißig Prozent der Schalt- und Werbeflächen verkauft. Die Folgequartale wolle man jetzt noch nicht kommentieren.

Anne ist erstaunt und besorgt. Die erfolgreiche und vor allem komplette Bebuchung der Sonderbeilagen ist für den Verlag lebenswichtig.

Anne bittet das Team, für die nächste Woche eine Präsentation vorzubereiten. Sie will Umsatzvorschauen für alle Quartale sehen und die Maßnahmen diskutieren, die der Verkauf bei den Schlüsselkunden geplant hat. Sie macht sich Vorwürfe, diese Abstimmungen nicht schon früher eingeplant zu haben. Wie konnte ihr so ein wichtiger Pfeiler des Geschäftes so entgleiten.

Ihre Unzufriedenheit prägt die Stimmung für die gesamte Woche. Und dann ist auch schon Freitag, der eine Freitag, der die Weichen in der Familie neu stellen soll.

Anne wird von früh morgens bis knapp nach Mittag durcharbeiten und dann direkt zum Mittagessen zur Mutter fahren. Es wird ihre erste Zusammenkunft nach dem Begräbnis und der Testamentsverkündung sein, für die sich Anne schriftlich entschuldigt hat, wohlweislich festhaltend, dass sie die Erbschaft in allen Teilen annimmt.

Fünf Minuten vor Ankunft ruft Anne die Mutter an. Sie möge ihr bitte das Tor öffnen. Anne hat keine Schlüssel mehr. Die Mutter hatte eines Tages um den Schlüssel gebeten, der Gärtner habe seinen verloren und komme so oft, dass sie nicht ständig auf ihn warten könne. Kein Problem, dachte Anne damals.

In der Auffahrt zum elterlichen Haus kommt ihr ein dunkelblauer Mercedes mit Lübecker Kennzeichen entgegen. Anne fährt bewusst so straßenfüllend, dass der Wagen langsam an ihr vorbeirollen muss. Durch die geschlossenen Scheiben blickt Anne in die Augen eines gepflegten Herrn, den sie ungefähr auf das Alter der Mutter schätzt.

Er nickt Anne kurz zu, Anne erwidert das Nicken und fährt weiter.

Seltsam, diesen Mann hat sie noch nie gesehen, er kann kein alter Bekannter oder Freund der Familie sein.

Anne geht ins Haus und direkt in die Küche. Die Mutter steht an der Spüle und wäscht Salat.

»Grüß dich, Kind. Gut, dass du dir den Nachmittag freinehmen konntest. Das Essen ist gleich fertig, wir werden alleine sein, dein Bruder kann es heute nicht einrichten. Er ist so beschäftigt, die Frau, die Kinder, die Arbeit, wie das eben so ist, wenn man nicht single, sorgenfrei und ohne jegliche Verpflichtungen durchs Leben wandern kann wie du«, sagt sie, hebt den Blick und lächelt spöttisch.

Anne ahnt nichts Gutes und verzichtet auf eine Reaktion.

Die Mutter stellt das Essen auf den Tisch, beide nehmen Platz und beginnen wortlos zu essen. Nach wenigen Minuten erträgt die Mutter die Stille und die Spannung nicht mehr - das ist noch nie ihre Stärke gewesen - und explodiert in einen wahren Wortschwall.

Es sei ja schon eine dreiste Anmaßung des Vaters gewesen, Anne als Alleinerbin für den Verlag einzusetzen. Nun aber auch noch die Immobilienerbschaft neu zu regeln, das Chalet in Frankreich aus ihrem Erbanteil herauszulösen und Anne zu vermachen, das schlage dem Fass den Boden aus. Wie sie das denn wieder bewerkstelligt habe, sei sie etwa am Sterbebett gesessen und habe es dem Vater diktiert.

Anne bleibt ruhig und blickt der Mutter fest in die Augen. Diese weicht aus, Blickkontakt zählt ebenso wenig zu ihren Stärken.

Ob sie denn nicht irgendetwas sagen wolle, meint die Mutter aufgebracht.

»Nein, Mutter. Es ist alles gesagt. Mein Vater, dein Mann hat seinen letzten Willen geändert, eigenständig und bei vollem Verstand, von niemandem gesteuert. So sehr du dir das in deiner Phantasie auch anders wünschen magst. Ich habe das Erbe angenommen. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen. Lass uns das Thema wechseln«, sagt Anne gefasst.

Die Mutter schäumt und schnaubt wie sie es immer tut, wenn sie etwas erzürnt.

»Wer war denn der Herr, der eben vom Hof gefahren ist, Mutter? Ein Freund aus jungen Jahren oder eine neue Bekanntschaft?«, fragt Anne angriffslustig.

Was es sie angehe, will die Mutter wissen. Sie könne Kontakt pflegen, mit wem sie wolle, sie sei ihr keine Rechenschaft schuldig. Und dem Vater auch nicht mehr, gottlob, all die Jahre seien schlimm genug gewesen. Dieser alte Mann mit seiner dubiosen Vergangenheit und seinen Ängsten, über die er nie gesprochen habe. Diese Kälte, diese Härte. Dann die Familie, immer nur Pflichten, nie Lob. Und jetzt käme sie, Anne, und wolle die Rolle des Vaters übernehmen und sie kontrollieren.

Sie solle sich zum Teufel scheren.

Ja, der Mann ist ein neuer Kontakt. Ja, sie habe ihn noch zu Lebzeiten des Vaters kennengelernt und mit ihm nachgeholt, worauf sie schon seit langem Lust habe.

Scheidung, warum? Ihr stehe das hier alles zu, die Familie könne froh sein, dass sie allen so lange gedient, ja, gedient habe.

»Und bevor du mit weiteren, dummen Frage daherkommst. Ja, ich ficke mit diesem Mann. Nicht seit gestern, nicht seit vorgestern, sondern seit fünf Jahren. Und das gut. Nun iss fertig, sag kein Wort mehr, nimm deine Sachen und verlass mein Haus. Sofort, hörst du!?«, brüllt die Mutter in den Raum. So vulgär hat Anne sie noch nie gesehen.

Sie blickt die Mutter weiter wortlos an. Eigentlich hat sie ihr nun letztendlich den Gefallen getan, auf den sie schon lange wartet. Sie hat ihr wahres Gesicht gezeigt, ihre Primitivität, ihre Verwerflichkeit. Sie hat ihre Untreue dem Vater gegenüber bestätigt.

Die Mutter ist schäbig, Anne hat es immer gewusst, steht auf, geht langsamen Schrittes zur Tür und sagt:

»Danke, Mutter. Ohne Maske bist du noch viel hässlicher als ich das erwartet habe.

Leb wohl und auf Nimmerwiedersehen.

Das meine nun ich so, wie ich es sage. Du wirst keinen Zugang mehr zu mir haben. Nicht für die kleinen alltäglichen Banalitäten, nicht für die großen Katastrophen. Wende dich ab sofort an deine rechte Hand, an deinen Sohn. Und an deine zweite rechte Hand, deinen Bruder. Ich untersage dir jegliche Kontaktaufnahme, privat und im Verlag«, sagt Anne, und verlässt das Haus.

Im Andenken an den Vater knallt sie die Tür lautstark ins Schloss.

Auf dem Weg zum Auto dreht sie sich kein einziges Mal um. Sie hört nur noch wie die Mutter die Haustüre öffnet, dann springt sie schnell ins Auto und verlässt noch schneller das Anwesen.

Diesmal bekommt die Mutter keine zweite Chance, der Vater hat ihr davon bereits viel zu viele gegeben.

Anne ist erleichtert, der Bruch ist klar und endgültig.

Sie hat sich von der Mutter und vom Bruder befreit, endlich.

Kein Zugriff mehr…..nur noch in entfernten Gedanken und die kann man abstellen.

Familie kann Familie sein, muss es aber nicht.

Familienbande kann man kappen. Und im Sinne des eigenen Glücks und Seelenfriedens ist das oft der bessere Weg.

Schwarzer Mohn

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