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Initiation

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Schlafend liegt das Land, bedeckt von dunkler Stille. Nur die Tiere der Nacht streifen umher, und so sind sie es, die den leisen Hauch vernehmen: „Brüder und Schwestern, ihr, freut euch und tanzt mit mir, nun endlich bin ich wieder hier.“

Und wie aus dem Nichts erhebt sich der Südwind. Er streift durch Gräser schwer von Reif, kreist um Borke glatt von Eis, küsst jede Knospe, zarte Blüte und schwingt sich weiter, höher, schneller über Wipfel, Berge, Klippen. Er hascht nach den Wellen und wirbelt zurück in die Auen, in die Wälder, ja, sogar in die Träume der Schlafenden.

Laut zerreißt ein Schrei die Stille, markerschütternd, gellend, wild; es ist nichts Menschliches, das kreischt:

„Wacht auf, ihr Schläfer! Hurtig, erwacht! Finsternis weicht, hebt ihre Decke aus tiefer Nacht! Dämmerung ahnt, wer hinsieht und wacht! Dunkel, Hell zu gleichen Teilen, den Anbruch heut besonders macht! Schaut gen Osten, staunt, gebt acht, Ostara, die Göttliche, erwacht! Einmalig jeder Augenblick und Herrlichkeit in reinster Pracht! Wacht auf, ihr Schläfer, und ehrt diesen Tag, Ostara gedacht!“

„Beim Geweih von Cernunnos, ich dreh dem Gallus den Hals um!“ Merdin ballte die Fäuste.

„Hm? Runter von meinem Haar, sonst hast du gleich einen verdrehten Hals.“ Viviane spähte durch die einen Spaltbreit geöffneten Lider. Um sie herum war alles finster, ihr Haar schien befreit, sofort kniff sie die Augen wieder zu. „Noch Zeit.“ Wohlig seufzend kuschelte sie sich tiefer in die weichen Bärenfelle.

„Ja, noch Zeit. Schlaf weiter, Vivian“, murmelte Merdin so leise wie möglich. „Und vergib mir, ich hab dein Haar unter meinem Arm nicht bemerkt.“ Doch seine weit aufgerissenen Augen sagten etwas vollkommen anderes als diese beruhigenden Worte.

Entsetzt starrte er auf Viviane hinab. Sehen konnte er sie nicht – es war noch zu dunkel im Raum – aber er wusste, sie lag genau unter ihm. Unter ihm! Wie war das passiert? Er konnte ihren warmen Atem an seinem Mund spüren. Und was noch schlimmer war: Er konnte auch ihre Arme und Beine fühlen, ihren Bauch und ihre weichen … bei allen Göttern, ihre Haut war so heiß! Sie glühte – nein, das war er, er brannte! Keine Panik.

Keine Panik.

Vorsichtig, ganz vorsichtig stemmte er sich auf die Zehen, auf die Fingerspitzen, spannte sämtliche Muskeln an … sachte, sehr sachte hievte er sich hoch, höher, weg von ihr. Oh nein, ihre Haut haftete an seiner, klebte fest, wollte einfach nicht abgehen. Lag das am Nussöl, mit dem sie sich gestern eingerieben hatten? So eine starke Haftung? Vielleicht in Kombination mit Schweiß? Nein, da klemmte irgendwas, fragte sich bloß … Oh, er steckte wirklich fest, genauer: Er steckte in der Klemme.

Diese Hitze an dieser Stelle, beim Geweih von Cernunnos, wieso merkte er das jetzt erst? Egal. Stillhalten. Nachdenken. Keine falsche Bewegung.

Wie war sie unter ihn gekommen? Nein, wie war er in sie gekommen? Schwachsinn. Er war nicht direkt in ihr. Jedenfalls nicht so tief. Das waren hoffentlich bloß ihre warmen, eingeölten Oberschenkel, die ihn festklemmten und ihm dieses Gefühl vermittelten. Eng und rutschig, so gut, so wunderbar. Nein, halt, das war gar nicht wunderbar, das war fatal. Er musste schleunigst nachdenken. Wie sollte er von ihr loskommen? Er hatte schließlich nicht um Erlaubnis gefragt und jetzt war eine ganz schlechte Zeit, um das nachzuholen. Wer wusste, wie Viviane reagieren würde, sie hatte viel Stolz in dieser Hinsicht. Obwohl, im Augenblick schien sie sehr zufrieden, geradezu glücklich. Er konnte es genau an ihrem Gesichtsausdruck sehen, langsam dämmerte es nämlich.

Oh weh. Er sollte sich in Sicherheit bringen …

Überaus sanft begann er, sich von Viviane zu lösen, den Blick fest auf ihre gesenkten Lider geheftet. Was würde sie von ihm denken, wenn sie jetzt die Augen aufschlüge? Er – einen Fingerbreit über ihr, lang ausgestreckt, mit gierigem Blick und dem mächtigen Drang, sich abwärts zu bewegen, statt aufwärts. Obwohl, aufwärts war auch nicht schlecht. Ihre Schenkel waren so schön glitschig. Also. Was machte er sich für Sorgen? Viviane schlief längst wieder tief und fest, sie stand eindeutig noch unter Drogen. Sie befand sich in der Trance, die in dieser besonderen Nacht herbeigeführt worden war – in voller Absicht, genau wie für ihn selbst. Kein Wunder, wenn er nicht gemerkt hatte, wie er auf sie gekommen war, und sie würde genauso wenig merken … Er könnte noch mal abwärts.

Nein.

Mit einem Ruck stand Merdin auf den Füßen und drehte sich weg. Sie sollte ihn nicht in dieser Verfassung zu Gesicht bekommen. Er wollte keine Fragen hören. Er wollte seine Stirn an die glatte Lehmwand drücken und tief durchatmen. Er wollte sich entspannen, überall.

„Beim Geweih von Cernunnos“, murmelte Viviane wenig später. „Ich rubble und rubble und bekomm die Augen einfach nicht auf.“ Schnaubend verschränkte sie die Arme unter der Brust und grummelte weiter: „Hm, was fühlt sich da so feucht … Iiiih, ist das schmierig! Wieso klebt das so? Muss an der Wärme hier drin liegen, oder an meinem Traum, oder an beidem. Ich bin mit einem Hirsch um die Wette gerannt, konnte prima mithalten und sogar überholen. Ich bin auch auf ihm geritten! Das scheint zwar überhaupt nicht logisch, aber was solls - echt beeindruckend, so eine Wanderung zwischen den Welten. Unglaubliche Reise. Bergkristalle als Tautropfen, bunte Edelsteine als Regenbogen, der Hirsch und ich vor dem Sonnengott höchstpersönlich; er hatte sogar ein Geschenk für uns. Weiter können die Sinne wohl nicht über sich hinauswachsen. Ah, jetzt endlich …“

Viviane riss die Augen auf. „Oh weh, vorher war es besser, mir schwirrt der Kopf.“ Träge, sehr träge schaute sie sich um.

Alles war wie am Abend zuvor, als sie mit geschlossenen Augen von ihrem Meister Akanthus in diese karge Hütte geführt worden war: Kein Licht, nur Finsternis mit einem Hauch von Violett, aber das reichte für ihre an die Dunkelheit gewöhnten Augen. Es gab ein winziges Fenster gen Westen, eines gen Süden, eines gen Osten und eine hüfthohe Tür gen Norden. Ansonsten nichts außer vielen weichen Bärenfellen auf dem Fußboden und an der Decke eine Öllampe.

„Ach.“ Viviane blinzelte. Merdin war ja auch noch da. Gestern, bei Tag betrachtet, hatte er allerdings besser ausgesehen. Mit dem Geradestehen hatte er noch keine Probleme gehabt. Oder?

„Tut dir was weh?“ Viviane legte sachte ihren Kopf schief, damit sie einen anderen Blickwinkel bekam. „Ich meine, ich sehe dich zwar nicht ausreichend, ist noch recht düster, aber hast du dir gestern im Kampf was gezerrt oder geprellt? Oder hast du dir gar was gebrochen?! Kriegst du gut Luft? Fühlt sich irgendetwas steif an?! Wird was dick?“ „Kaum der Rede wert.“ Merdin grinste die braune Lehmwand an und presste sich die Hände auf den Rücken. „Sind bloß Prellungen. Hab ein paar tiefe Faustschläge einstecken müssen. Unterer Rippenbogen hinten rechts. Genau hier.“ Er schob seine fünf langen Zöpfe zur Seite und deutete auf besagte Stelle.

„Wenn’s weiter nichts ist, ich guck mal nach. Dein Hals ist ja nicht lang genug.“ Schwerfällig rollte sich Viviane auf den Bauch.

Sie wollte gerade die Arme aufstützen, da machte Merdin eine wegwerfende Handbewegung und gluckste: „Du wälzt dich auch nicht gerade behände herum. Also lass sein, Vivian, und ruh dich aus. Ich kann warten, bis es richtig hell ist. Im Moment haben Veilchen Tarnfarbe und wir sollten lieber diese wunderbare Fußbodenheizung genießen. Vielleicht ist nachher alles wieder gut.“

„Mir recht.“ Schwer sackte Viviane in die Felle zurück und schaute mit verdrehtem Kopf zu, wie Merdin seine Muskeln bewegte. „Scheint alles heil geblieben, von meiner Warte aus“, rief sie ihm zu. „Ein paar Schwitzbäder und du fühlst dich bald wieder wohl. Prüfung bestanden. Deine Torques stehen dir gut zu Gesicht. Herzlichen Glückwunsch. Selbst deine Frisur sitzt immer noch perfekt. Weck mich, wenn die Hühnerbrühe fertig ist.“ Seufzend schloss Viviane die Augen und streckte alle Glieder von sich.

„Du hast übrigens recht“, murmelte sie nunmehr mit schwerer Zunge. „Diese Feuerstätte unter dem Boden ist dermaßen praktisch…“ Sie gähnte, bevor sie weitersprach: „Vom Prinzip her ist dieses mickrige Grubenhäuschen wie ein Backofen. Erst von außen anfeuern, dann die Ahnungslosen rein, Tür zu und warten, bis der Inhalt fertig ist. Eine Druiden-Krieger-Backwerkstatt sozusagen.“ Sie seufzte tief und ihre nächsten Worte wurden immer leiser: „Das Backwerk vorher natürlich gut durchkneten, damit … ein ordentlicher … Drachenkrieger draus …“

Merdin drehte sich zaghaft um. Sie war tatsächlich noch mal eingeschlafen.

Bestens.

Einen Moment kämpfte er mit dem Gedanken, sich wieder auf sie zu legen. Ihre Rückansicht war dermaßen verlockend … Noch ein rascher Blick auf das Fenster gen Osten, schon kniete er zu ihren Füßen. Ihre helle Haut schimmerte bläulich, so wie das Meer in seinem ständig wiederkehrenden Traum. Ihre sanften Rundungen waren wie die Wellen, anschmiegsam und warm, nur für ihn. Sie war sein, seine Vivian. Er würde es ihr sagen.

Und jetzt musste er sich beeilen, der Morgen war nah.

Das schmale Pergament im Fenster gen Osten wechselte von Nachtblau zu einem tiefen Dunkelblau.

Königsblau.

Kornblumenblau.

Trommeln begannen zu dröhnen wie Donner aus weiter Ferne.

Ein dumpfer Schlag, ein zweiter, dritter …

Schon krachten viele Schläge gegen die hüfthohe Tür. „Aufwachen, Initianten! Tagesanbruch! Frisch polierte Drachenschwerter harren eurer!“

„Meister Akanthus?!“ Merdin riss die Augen auf und starrte gegen die Dachbalken. Verwirrt drehte er den Kopf - er war tatsächlich eingeschlafen, auf Vivianes Hinterteil. Hastig sprang er hoch, warf einen Blick abwärts … Gerade hatte er sich wieder an die Wand geflüchtet, da stand sein Meister bereits neben ihm und feixte.

Akanthus‘ Lächeln wurde noch breiter, als er Viviane auf die Füße zog und ihr tief in die Augen schaute.

„Gut, schön stehen bleiben, Vivian, und lächeln. Heute ist schließlich dein großer Tag. Was sollen deine Drachenbrüder und -schwestern von dir denken, wenn du durchs Spalier torkelst wie eine Betrunkene?“

„Ich bin nicht betrunken, Akanthus, ich bin nur müde“, verbesserte Viviane und zog ihre fünf Zöpfe lang. „Ich kann prima gerade stehen, guck!“

Sie schaffte es tatsächlich – trotz wild schwankender Lehmhütte –, gerade zu stehen. Akanthus schien das sehr zu amüsieren. Viviane hob neckend den Finger und kam prompt wieder ins Wanken.

„Ja, lach nur, Akanthus! Sei froh, dass das Zeug aus der Öllampe verflogen ist, sonst würde ich mich bald über dich amüsieren. Obwohl, vielleicht ist noch ein winziges Tröpfchen …“ Den Blick hinauf zum obersten Deckenbalken hätte sie sich lieber sparen sollen, denn nun kippte sie vollends um.

Akanthus stand schon zum Auffangen parat.

„Immer mit der Ruhe, Töchterchen. Am besten konzentrierst du dich auf den Klang der Trommeln und deinen alten Meister, das hilft beim Austarieren von Körper und Geist. Ich hatte schließlich auch mal eine Initiation fürs Drachenschwert, wenn ich dich erinnern darf.“

Sorgsam prüfte er Vivianes Stehvermögen mittels Schulterklopfen, dann hob er lachend die Hände und fuhr sich – da sie artig stehen blieb – durch seine Löwenmähne. „Nun ja.“ Nachdenklich betrachtete er den Silberanteil im Kupferrot seiner langen Haare. „Das ist zwar schon eine ganze Weile her, aber ich kann mich noch bestens erinnern. Genauer gesagt, ich kann mich an meine Wanderung zwischen den Welten erinnern. Daran, was hier passierte …“

Er ließ seinen Blick von der Öllampe am Deckenbalken zu den Bärenfellen am Boden schweifen und klatschte in die Hände. „Gut, eure Zeit hier ist um und deshalb: Hurtig, hurtig, ab durch die Mitte, ihr beiden!“ Mit großer Geste deutet er auf die hüfthohe Tür.

„Ducken nicht vergessen.“

„Oh weh, ich sehe alles doppelt. Ich versuch es mal mittendurch“, seufzte Viviane und setzte sich schwankend in Bewegung. Merdin tappte stöhnend hinterher.

Wer von ihnen mehr Schräglage hatte, war schwer zu sagen, doch kaum hatte sich Viviane unter dem niedrigen Türstock hindurchgebückt, fühlte sie sich besser. Die Morgenluft war mild, viel wärmer als gestern, und sie roch einfach wunderbar nach sprießenden Knospen, Blüten, Gras, goldener Wärme, neuem Leben …

„Phänomenal.“ Genüsslich sog sie die Brise ein. „Jetzt habe ich schon zwanzig Lenze erlebt – zwanzig Mal Ostara, vier davon in Britannien, aber dieses fünfte hier … diese laue Luft, dieses üppige Grün und Blüten über Blüten auf weiter, weiter Flur!“ Bewundernd ließ Viviane ihren Blick schweifen.

Gestern hatte auf der gesamten Wiese bis hinter zum Waldrand noch eine dünne Schneedecke gelegen. Heute blühten massenweise Schneeglöckchen und Primeln zwischen zarten Gräsern, alles erstrahlte in Weiß, Gelb und Grün so weit das Auge reichte, darüber ein Himmel in prachtvollem Gold-Blau.

Dieser eine Tagesanbruch schien besonders und wie für sie gemacht. Er hatte nicht nur den Wandel in der Natur, sondern auch in ihrem Leben gebracht. Hier und heute hatte sie, Viviane, etwas erreicht, was sich nur wenige Menschen überhaupt zutrauten, und dieses Glücksgefühl durchströmte sie nun so stark, dass sie sich kaum bändigen konnte.

Jauchzend breitete sie die Arme aus, tänzelte auf Zehenspitzen einmal im Kreis und warf den Kopf zurück.

„Bei Ostara, wie herrlich! Schaut nur in diesen wunderbaren jungen Morgen! Azurblau mit Streifen aus Gold so zart …“

Unwillkürlich betastete sie ihren Hals, an dem seit gestern ihre beiden Torques in Form von goldenen Schlangen prangten, und lauschte in sich hinein. Ihr Herz klopfte ruhig, ihre Augen sahen wieder bestens, sie stand fest auf ihren Füßen.

„Ja, Vivian, dies alles hat der Südwind in einer Nacht geschafft.“ Merdin atmete tief ein, betastete ebenfalls seine Torques und ließ den Blick über Vivianes nackte Gestalt schweifen.

Am liebsten hätte er mit ihren fünf langen, rotbraunen Zöpfen gespielt, seine Wange an ihre geschmiegt … Stattdessen reckte er sich ausgiebig, schob sich ein wenig näher an sie heran und begnügte sich mit der guten Sicht über ihren Kopf hinweg.

So standen sie hintereinander, mit fast zwei Köpfen Höhenunterschied, die Hände an ihren goldenen Halsreifen, und schauten gen Osten in den klaren, beginnenden Morgen.

„Was der Südwind hierzulande alles vollbringen kann …“ Viviane nickte in stummer Ergriffenheit und tastete nach Merdins freier Hand.

Gemeinsam atmeten sie ein und aus, lauschten dem Säuseln des Windes, dem Dröhnen der Trommeln, dem Klopfen ihrer Herzen, hörten den Klang von wilder Sehnsucht.

Hier und jetzt würde der letzte Abschnitt ihrer Initiation beginnen, die wohlverdiente Aufnahmefeier. Wie auch immer diese vonstattengehen würde – das hatte ihnen niemand verraten wollen. Doch Geduld war ihre Stärke. Sie hatten fünfeinhalb Jahre Heilkunst-Ausbildung absolviert und nebenbei die Kunst des Kampfes erlernt. Sie hatten ihre Prüfungen in Chirurgie, Kräuterkunde, Wundheilung, Arzneiherstellung und all den wichtigen Handgriffen bestanden, die ein voll ausgebildeter Arzt können musste. Danach hatten sie mit allen Sinnen und leerem Magen gegen riesige Krieger in dunklen Wäldern gekämpft, ihre Torques feierlich angelegt bekommen und nun ganz offenbar eine Nacht im Drogenrausch hinter sich gebracht. Was immer jetzt noch auf sie zukam – sie waren bereit.

Das Lächeln rutschte ihnen zeitgleich aus dem Gesicht, als zwischen den Büschen am Ende der Wiese blaue Punkte auftauchten und einen Wimpernschlag später wieder verschwanden.

Hastig trat Merdin an Vivianes Seite, und sie kniffen beide die Augen zusammen, um den Waldrand besser ins Visier nehmen zu können.

Der Wald war von ihrem Standpunkt aus sehr weit weg, doch es gab keinen Zweifel: Dort im Unterholz, zwischen Bäumen und Sträuchern, sammelten sich nackte, blau bemalte Krieger. Drei, fünf, sieben … es wurden immer mehr … Männer, vielleicht auch Frauen, das war auf die Entfernung nicht erkennbar.

Unvermittelt schlugen die Trommeln schneller und eine breite, blaue Woge ergoss sich aus dem Wald. Viviane und Merdin rieben sich die Augen, blinzelten hektisch, doch das Bild blieb: Da tobte ihnen eine wilde Kriegerhorde entgegen. Je näher sie kam, umso deutlicher sahen sie die einzelnen Kämpfer: Männer, Frauen, nackt und blau bemalt von Kopf bis Fuß, mit aufgetürmten Haarmähnen, Halsreifen aus Gold, Gürteln mit Waffen, Speeren, Lanzen … unter lautem Kriegsgeheul erstürmten sie die Wiese.

Obwohl sie noch viel zu weit weg waren, wirbelten sie mitten im Lauf Steinschleudern über ihren Köpfen, rissen Pfeil und Bogen hoch, Speere, Blasrohre … Steine, Pfeile, Speere zischten durch die Luft, prasselten ins Gras, rammten sich ins Erdreich. Blasrohrpfeile spickten die Wiese vor ihnen wie mit Nadeln, doch diese weiß-blauen Wilden rannten einfach weiter, immer weiter, sprangen mit langen Sätzen über ihre eigenen Geschosse und johlten, brüllten, kreischten zum Donner der Trommeln – es war der schiere Wahnsinn. Merdin gähnte.

„Einfach grässlich, der ganze Tumult. Und wie die aufstampfen … bei mir vibriert schon der kleine Zeh. Wie steht es bei dir?“

„Krakeelende Drachenkrieger? Sehr fürchterlich. Ich mach mir gleich ins Röckchen.“

„Ins Röckchen?!“ Merdin prustete los und schielte an ihr hinab. Die dicke Ölschicht auf ihrer Haut, vermischt mit dem Schweiß der letzten Nacht, war die reinste Augenweide. Für ihn hätte sie auf ewig nackt bleiben können. „Ach, Vivian“, seufzte er übertrieben schwermütig. „Du hättest wenigstens ein kleines bisschen zucken können. Ich habe es wieder mal vermasselt. Hab aus purem Reflex nach meinen Schwertern gegriffen.“

„Ein komplett nackter Mann hat keine Schwerter.“

„Weiß ich doch, aber ich kann mir das einfach nicht abgewöhnen. Affekt ist Affekt.“

„Merdin, ich muss dich schelten. Erst nachdenken, dann handeln, hat uns Akanthus beigebracht, egal ob beim Kämpfen oder beim Heilen.“

Zum besseren Einprägen wedelte Viviane mit dem Finger und zwickte Merdin in die Nase. „Beim nächsten Mal verpasse ich dir keine Rüge mehr, dann quetsche ich dich gleich woanders. Lass es lieber nicht drauf ankommen.“ Feixend zupfte sie an der erstbesten kupferroten Haarflechte, die sie von ihm zu fassen bekam.

„Das sind Lehrmethoden …“ Lächelnd rieb sich Merdin die Nase und fragte: „Nun gut, Herrin der Reflexe, woran hast du so rasch erkannt, dass der Angriff nicht echt ist?“

„Weiß nicht genau.“ Viviane zuckte die Schultern und beobachtete die Krieger, die immer noch wie die Irren rannten und kreischten. Gerade machten sie sich bereit, einen neuen Geschosshagel in ihre Richtung zu schicken.

„Mein erster Gedanke war …“, rief sie laut in das aufkommende Zischen hinein, „…dass ich zwar niemanden erkenne, aber sie können sich noch so blau anmalen vom Scheitel bis zur Sohle und die Haare mit Ziegenfett steif halten – sie brüllen einfach nicht real genug. Da ist keine Angst, kein Zorn oder Hass herauszuhören, wie man bei einem echten Angriff erwarten dürfte, sondern vielmehr Jux und Übermut. Wahrscheinlich haben sie deshalb einen langen Anlaufweg gewählt, statt sich zuerst näher heranzuschleichen. Ohne Schild ist ein Langstreckenrennen ja auch viel leichter, wenn man sowieso keinen Schutz braucht.“

Viviane nickte in Richtung einer jungen, sehr hochgewachsenen Kriegerin, die an der rechten Flanke allen voran stürmte. Stattlicher Wuchs, üppige Brüste und drei blaue Spiralen im Gesicht waren ihre hervorstechendsten Merkmale, doch mit jedem ihrer ausgreifenden Sprünge in Vivianes und Merdins Richtung gab es mehr von ihr zu sehen.

Ihre langen blonden Haare waren zu einer mächtigen Löwenmähne verzottelt, die sie noch viel größer und wilder erscheinen ließ, als sie sowieso schon war. Auf Brust und Bauch prangte ein riesiger blauer Drache mit scharfen Zähnen und Augen von derart stechendem Blick, dass der Drache zu fliegen schien, als die Kriegerin mitten im Sprung ein ellenlanges Rohr um ihre Finger wirbelte. Der Anblick brachte Viviane zum Schmunzeln.

„Uathach krakeelt immer am lautesten, rennt immer am schnellsten und treibt immer Unfug mit ihrer Speerschleuder.“

„Ganz recht, deine Freundin bringt ihre Speerschleuder mal wieder zum Rotieren. Hatte früher bestimmt keinen Kreisel zum Spielen.“

„Ja, die alten Krieger-Clans hierzulande, müssen immer protzen.“

„Die von der Nebelinsel sind am schlimmsten, kann ich dir versichern.“

Darauf erwiderte Viviane nichts, denn ihre Aufmerksamkeit galt noch immer der blonden Kriegerin. „Oh je, sie wird doch nicht …! Jetzt ist ihr eingefallen, dass sie am weitesten werfen kann! Achtung! Tieffliegender Drache von rechts!“ Mit aufgerissenen Augen verfolgte Viviane, wie Uathach mitten im Rennen ihre Speerschleuder über dem Kopf austarierte. Als sie zum Wurf ansetzte, sah es fast gemächlich aus, doch ihr Speer schoss mit einer solchen Wucht von der Laufschiene weg, dass Viviane tatsächlich glaubte, zwischen zwei Trommelschlägen das typische Zischen zu hören. Ihre Augen folgten der Flugbahn des Speeres, der flog und flog wie von unsichtbarer Hand getragen.

Einschlag zwanzig Schritt rechts vor ihr? Ein Katzensprung!

Jauchzend riss Viviane das Geschoss an sich und rannte auf Ausgangsposition zurück.

Doch Merdin war nicht mehr da, wo er soeben noch gestanden hatte.

Leichtfüßig trabte er ein Stück weit über die Wiese, wo mittlerweile die anderen Wurfgeschosse eingeschlagen waren, und begutachtete die Auswahl. Er schlenderte hierhin, schlenderte dahin, zog einen Pfeil heraus, einen Speer, warf beides wieder weg …

„Holla, du träge weise Schlange! Hurtig, hurtig, wappne dich! Bald sind sie da!“

„Nur keine Hektik, ich will einen schönen Spicker!“

„Wie ein Feinschmecker auf Pilzsuche.“ Grinsend stützte sich Viviane auf ihren erbeuteten Speer und genoss das Spektakel.

Die anstürmende blaue Horde hatte kurz innegehalten, um den Einschlag ihre Geschosse besser zu verfolgen. Nun begannen sie wieder zu rennen. Wie auf Kommando fächerten sie sich zu einer breiten, sichelförmigen Angriffsformation auseinander und ihre äußeren Läufer steigerten sich zu enormer Geschwindigkeit. Manch einer hielt noch Axt oder Messer zum Wurf bereit, als sie wild durcheinander brüllten: „Merdin, ich krieg dich! Ich verpass dir Stummel statt Zöpfe!“ „Von wegen, ich krieg die Haare! Pass auf, gleich kommt meine Axt!“ „Weg da, ich hack ihm zuerst was ab!“ Sie hörten sich ziemlich begeistert an.

Viviane hätte sich krümmen können vor Lachen, wollte aber ihre gemütliche Stellung ‚Kinn auf Hand auf Speer‘ nicht aufgeben.

Merdin geriet nun doch in Eile. Hastig zerrte er zwei Speere aus der Wiese und huschte im Zickzack zu ihr zurück.

„Ein Hase mit Flatterzöpfchen, wie niedlich“, gähnte sie und legte das Kinn wieder auf Ruheposition. „Bin mal gespannt, was als Nächstes passiert.“

„Vivian, gib acht!“ Merdin raste an ihre Seite und schlug seine Speere gegeneinander.

„Die wollen uns in die Zange nehmen! Gerade eben hattest du es noch eilig!“

Viviane gähnte noch ausgiebiger und schaute ihn aus trüben Augen an. „Gib Ruhe, ich amüsiere mich gerade.“

Weil Merdin prompt tat, wie ihm geheißen, musste sie lachen.

„Wollte dich bloß ein bisschen foppen“, gluckste sie und deutete beschwingt gen Wiese.

„So viele gegen uns zwei? Diese Irren werden sich gegenseitig in die Zange nehmen, weil jeder der Erste sein will!“ Demonstrativ machte sie es sich wieder auf ihrem Speer gemütlich. „Weck mich, falls noch ein paar für mich übrig bleiben.“

„Oh.“ Merdin starrte ein wenig traurig auf die wilde Horde. „Dabei hab ich so schöne Spicker parat.“ Schmollend stellte er seine Speere ebenfalls auf Schlafposition.

„Kinder, nehmt Haltung an. Was sollen eure Brüder und Schwestern denken, wenn sie für euch Spalier stehen?“

„Spalier?!“ Viviane und Merdin standen sofort gerade und rissen die Köpfe herum. Sie hatten Akanthus vergessen.

Ihr Meister stand hinter ihnen und schien sich köstlich zu amüsieren.

„Ja, sie bilden zwei Reihen. Eine rechts und eine links von euch. Sofern ihr endlich aufhört, auf der Stelle zu schwanken, denn sonst kann ich für eure niedlichen Flatterzöpfchen nicht garantieren.“ Die Lachfalten um seine blauen Augen wurden tiefer. Mit einem Handwedeln wies er sie an, wieder nach vorne zu blicken.

Viviane und Merdin reagierten prompt und japsten vor Schreck. In Pfeilformation rasten ihnen diese Irren nun entgegen und sprengten rechts, links, rechts, links an ihnen vorbei, als hätten sie das tagelang geprobt. Trotz ihres Schwungs wendeten sie fast auf dem Fuß. In Windeseile standen zwei Reihen Krieger parat: Männer und Frauen, alte, junge; nackt, blau und bis an die Zähne bewaffnet. Sie atmeten heftig und grinsten zufrieden beim Anblick der beiden völlig verblüfften Initianten und Akanthus, der hinter deren Rücken feixte und beide Daumen hochhielt.

Nachdem sich ihr Atemrhythmus sehr rasch beruhigt hatte, zogen beide Seiten wie ein Mann die Langschwerter aus den Scheiden und streckten sie auf Brusthöhe von sich, bis sich die Spitzen fast berührten. Abrupt wurden ihre Mienen ernst.

Ein paar Schritte trennten die beiden Seiten voneinander, überbrückt mit dem besten Metall, was es überhaupt gab: Eisen, nicht von dieser Welt. Meteoreisen. Völlig synchron rissen die Krieger ihre Langschwerter nun hoch und zogen noch einmal blank. Diesmal streckten sie mit dem anderen Arm die Kurzschwerter auf Brusthöhe. Der Raum zwischen beiden Seiten schien wie eine ewig lange Kluft, erfüllt von einem fernen Singen, das von Liedern vieler Schlachten kündete – alten und neuen, die erst noch kommen würden. Doch dieser Eindruck währte nur einen Atemzug lang.

Mit einem lauten Aufstampfen rückten die Krieger vor und hoben die Kurzschwerter den Langschwertern entgegen, bis sie knapp unter diesen lagen wie ein Balken unter dem Dach. Und obwohl die Trommeln weiter schlugen, kehrte nun eine Ruhe ein, die nach dem schrillen Kriegsgeheul fast in den Ohren dröhnte.

Viviane war mit einem Schlag hellwach.

Die Stille lastete auf ihren Augen, ihren Ohren, ihren Händen, ja auf ihrem gesamten Körper, als würden alle Krieger auf ihren Schultern stehen; samt Schwertern wogen sie so viel wie ein ganzes Haus bedeckt mit Meteoreisen.

Strahlend fasste sie Merdins Hand und drehte sich nach Akanthus um. Er nickte und Vivianes Füße setzten sich wie von selbst in Bewegung.

Als Viviane dem ersten Paar im Spalier entgegentrat, stiegen ihr vor Rührung Tränen in die Augen; sie verharrte unwillkürlich.

Uathach lächelte ihr aufmunternd zu. Die ersten richtigen Sonnenstrahlen trafen ihre Schwerter, spiegelten sich auf den nächsten Klingen und sprangen weiter, immer weiter, bis die gesamte Strecke reflektierte. Es war, als höben Uathach und ihr Gegenüber ein gleißendes Prisma gen Himmel, ein Symbol aus Licht.

Viviane blinzelte die Tränen weg und strahlte ihre Freundin an. Dann richtete sie den Blick gerade aus und machte den ersten Schritt, Seite an Seite mit Merdin. Beide hielten sie die Häupter stolz erhoben, genau wie Akanthus dicht hinter ihnen. Ja, auch er hatte allen Grund dazu.

Seine Schlangentorques glänzten an seinem Hals, sein weißes Gewand umschmeichelte seine bloßen Füße und der Südwind erzählte jedem, der es hören wollte: Akanthus war der Sohn eines Königs, der oberste Lehrmeister beim Studium der Medizin und Anführer der Drachenkrieger. Es war eine Ehre für Viviane und Merdin, vor ihm zu gehen, über ihnen alles zerschlagende Schwerter und neben ihnen weiß-blaue Mauern aus Körper und Geist.

Wie von selbst richtete sich Viviane zu ihrer vollen Größe auf und vergewisserte sich, ob über ihr genug Platz war. Sie schaute nur kurz zu den Schwertern hinauf, sie wollte nicht zaghaft erscheinen oder gar misstrauisch.

Die Krieger rechts wie links standen vollkommen reglos und reckten die Klingen empor. Doch wenn auch nur einer ihnen feindlich gesinnt wäre, bliebe ihnen keine Chance. Obwohl, wozu trug sie einen Speer in der Hand? Und Merdin, als ihre linke Flanke, hatte gleich zwei.

Das war es.

Genau das sollte dieser Gang ihnen verdeutlichen: Sie mussten sich gegenseitig über den Weg trauen, mussten sich aufeinander einlassen, sich aufeinander verlassen können. Sie waren Elitekrieger der besonderen Art. Sie waren Druiden und Krieger in einem – gleichzeitig Bewahrer des Wissens und Verteidiger des Wissens. Eine Kombination, die so eigentlich gar nicht existieren dürfte, geboren aus purer Existenzangst und der Not, ihr Wissen mit aller Macht hüten zu müssen.

Und tatsächlich: Ob Astronomen, Philosophen, Richter, Seher, Barden oder Ärzte wie Viviane, Merdin und Akanthus – sie waren eine Gemeinschaft Gleichgesinnter, waren Brüder und Schwestern, waren bereit zu kämpfen.

Es war ein erhabenes Gefühl, in ihrer Mitte zu gehen oder besser, in ihrer Mitte zu bleiben. Denn während sie immer weiter dem Waldrand entgegenstrebten, rannten die hinteren Krieger nach vorne und stellten sich wieder an. Vollkommen lautlos ging das vonstatten. Ohne Keuchen, ohne Klirren, nicht einmal sehen konnte es Viviane von ihrer Position aus. Es war eine ausgeklügelte Zurschaustellung von Kampfkraft, die aus der Luft betrachtet noch interessanter aussehen dürfte. Vielleicht wie eine dahinkriechende Raupe oder – passend für Drachenkrieger – eine Schlange in Bewegung. Nachdem Viviane das zehnte Mal an Uathach vorbeigekommen war, hörte sie auf zu zählen, schaute aber weiterhin in die Gesichter rechts und links. So viele der Frauen und Männer kannte sie noch gar nicht, doch es freute sie, wie viel ehrliches Interesse aus ihren Augen sprach.

Merdins Initiation dürfte sogar eine gewisse Erwartungshaltung auslösen. Als Sohn des obersten Druiden hierzulande wurde er bereits jetzt als dessen Nachfolger betrachtet und einen besseren, das wusste Viviane, konnte es für dieses Amt gar nicht geben. Sein Vater, Guiderius, war mächtig stolz auf ihn und wuchs jedes Mal, wenn sie an ihm vorbei gingen, regelrecht in die Höhe.

Vivianes Gedanken drifteten ab und sie sah ihre Brüder, Schwester, Mutter, Vater, Großmutter, Schwägerinnen, Nichte und Neffe vor sich. Was ihre Leute wohl jetzt gerade machten?

Derart in sich selbst versunken, war Viviane beinah erstaunt, als sie ihren Fuß von Wiese auf Waldboden setzte und sich die Krieger in Windeseile zwischen Birken, Buchen, Eichen und Eschen verteilten. Obwohl diese noch keine Blätter trugen, war es zwischen den Bäumen merklich dunkler. Nun übernahm Akanthus die Führung und sie und Merdin folgten ihm einen kaum sichtbaren Pfad entlang.

Immer tiefer schlängelte sich der Pfad in den Wald hinein, vorbei an Sträuchern, Stämmen, Büschen … und Viviane musste gut aufpassen, um nicht zu straucheln, denn sie fühlte sich schon wieder ein wenig schwindelig. Rasch richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf Akanthus’ lange Haare und das lauter werdende Dröhnen der Trommeln. Die Anwesenheit der anderen Krieger, die zwischen den heiligen Bäumen hindurchhuschten, konnte sie nur erahnen.

Prompt erinnerte sie sich an ihre eigenen Lektionen in Ausspähen, Flankendeckung, Geleitschutz … und schmunzelte vor sich hin.

In diesem Moment trat Akanthus zur Seite. Mit sichtlicher Freude wies er auf einen See, der unerwartet vor ihnen lag, und aus Vivianes Lächeln wurde ein Strahlen.

So einen schönen Waldsee hatte sie noch nie gesehen. Klares Wasser, eingebettet in dicke Moospolster, zierliche Gräser und Nussbäume über Nussbäume, jeder für sich einzigartig in Höhe und Form – eine große Familie, Jahrhunderte alt.

Fasziniert betrachtete sie die winzigen Sprösslinge, die schlanken Stämme, die knorrigen Baumriesen, den glitzernden Wasserspiegel in ihrer aller Mitte und hauchte: „Wunderbar.“

„Wohl wahr, dies ist magisches Land“, flüsterte Merdin. „Dem Unwissenden für immer verborgen.“

„Dies, meine Kinder, ist der See der Erkenntnis. Hier sind die Götter zum Greifen nah“, raunte Akanthus hinter ihnen und schob sie sachte vorwärts. „Taucht ein in unsere heilige Stätte, haltet die Augen offen und erkennt. Wir sehen uns auf der anderen Seite.“

Viviane und Merdin drehten sich zu ihm um und nickten feierlich. Dann legten sie ihre erbeuteten Waffen nieder und stiegen Seite an Seite in das kristallklare Wasser.

Sofort kroch Eiseskälte an Viviane hinauf, doch das machte ihr nichts aus. Hierzulande war sie schon oft in der kalten Jahreszeit baden gewesen – einfach so, ohne davor ein Schwitzbad genommen zu haben. Zu Hause hätte sie sich strikt geweigert, hier legte sie die Hände zusammen und stürzte sich kopfüber ins Abenteuer.

Kaum war sie unter Wasser, öffnete sie die Augen und bewegte sich mit kräftigen Schwimmstößen abwärts. Der Weg bis zum Grund war weit, viel weiter als gedacht und Merdin, dicht neben ihr, deutete energisch nach unten. Im Takt der Trommeln tauchten sie tiefer und betrachteten das Leben um sich herum mit großen Augen. Den Grund des Sees erreichten sie nicht, da sie wie aus dem Nichts von einem Sog erfasst wurden, dem sie viel Kraft entgegensetzen mussten, um nicht mitgerissen zu werden. Seltsamerweise schien ihnen das weit entfernte Dröhnen der Trommeln zu helfen, ließ sie ruhig bleiben. Erst, als ihnen wirklich die Luft knapp wurde, bahnten sie sich einen Weg zurück ans Licht.

Kaum stießen ihre Köpfe durch die Oberfläche, schnappten sie lachend nach Luft. Sie waren am Ufer angelangt, genau vor Akanthus.

Hinter ihm hatten sich die Krieger versammelt, diesmal jedoch nach Geschlechtern getrennt; die jüngeren Männer und Frauen hielten demonstrativ fein gewebte Leintücher hoch. Uathach schwenkte feixend ein besonders winziges aus Wolle.

Es kam Viviane seltsam vor, abgetrocknet zu werden wie ein Kleinkind, aber es gehörte nun mal zur rituellen Handlung. Also ließ sie sich einwickeln und lächelte in die Runde – prompt polierte ihr Uathach die Zähne, summte im Takt der Trommeln ein Kinderlied und brachte sie beide dadurch noch mehr zum Lachen.

Von allen Seiten wurde Viviane mit Tüchern traktiert, bis ihre gesamte Haut rot war und kribbelte. Als sie schließlich in einen weichen Lederumhang gehüllt wurde, wich die eisige Kälte einer enormen Hitze.

Plötzlich wurde ihr bewusst, wie wach sie war. So wach wie noch nie in ihrem Leben. Mit großen Augen schaute sie ihren Meister an.

Akanthus lächelte wissend und deutete auf die ältesten Kriegerinnen, die sie offenbar zur nächsten Station begleiten sollten.

Gespannt, was nun kommen würde, ließ sich Viviane von ihnen führen – zwei vor sich, zwei hinter sich und die restlichen wieder zwischen den Bäumen verteilt. Merdin folgte mit den ältesten Kriegern dichtauf.

Immer tiefer ging es in den Wald hinein und Viviane staunte, was sie alles zu sehen bekam – oder besser, was sie alles wahrnahm: Kühler Waldboden, mal spröde, mal an ihren Fußsohlen haftend … sprießende Grashalme, manche weich, andere stichelten an ihren Waden … gelbe, blaue, weiße Teppiche aus Winterlingen, Hasenglöckchen, Buschwindröschen … ein Wirrwarr aus sprießenden Knospen, verwebt mit Licht und Schatten. Myriaden schwebender Staubkörnchen, Scharen von Bienen und Hummeln, Perlen aus Morgentau, und das feuchte Moos warf seinen Duft bis auf ihre Zunge. Überall roch es so intensiv nach Erde, Luft, Sonne, Wasser, nach altem Laub und neuem Leben …

Der Frühling schoss in Viviane, so machtvoll, dass sie sich fast selbst wachsen fühlte, und die Trommeln begannen mit einer Wucht zu schlagen, als wären sie ihr aufgehendes Herz.

Ihr Rhythmus bestimmte, wie Viviane Atem schöpfte, tief ein, langsam aus. Ja, ihr Rhythmus bestimmte sogar, was sie dachte, als sich der Wald auftat und eine weite Lichtung vor ihr lag:

All heilige Bäume als Wächter bereit, kreisrund gepflanzt hier vor langer Zeit. Trommeln in Nord und Süd und Ost und West, laut hallend weit und himmelwärts. Kinder des Drachen, die Schilde gerafft, folgen dem Ruf nun zum Teilen der Macht. Akanthus tritt ein, erhaben und rein, lang noch soll seine Herrschaft sein. Mein Ziel ist ein Kessel in Silber und Pracht, breit wie ein Bottich, tief wie ein Nest.

Wie kam sie denn jetzt gerade auf ‚Nest‘? ‚Tief, drum gib acht‘ hätte viel besser gepasst, zumal – wie sie wusste – dieser wuchtige Kessel mit Wasser gefüllt war.

Viviane ergriff ein Schauder von den Haarwurzeln bis zu den Fußsohlen. Sie musste sich zusammenreißen, damit sie sich endlich aus dem Sog der Trommeln befreite, oder was auch immer sonst an ihr zerrte.

Sie stand hier mit Merdin – frisch gewaschen, bedeckt von Leder und ihren Zöpfen – am Waldrand. Vor ihnen, auf der Lichtung, hatten sich sämtliche Krieger in einem weitläufigen Kreis aufgestellt und streckten ihre Schilde und Speere weit von sich nach rechts und links, so als wollten sie den Eintritt verwehren. Nur um Akanthus herum war Platz. Er war als Einziger immer noch unbewaffnet. Er streckte ihnen auch als Einziger die Arme entgegen und deutete einladend auf den silbernen Kessel genau im Zentrum der Lichtung.

Was gab es da noch zu überlegen?

Viviane griff nach Merdins Hand und erhobenen Hauptes traten sie durch den Kreis der Drachenkrieger. Im Takt der Trommeln schritten sie auf den Kessel zu; feierlich einen Fuß vor den anderen setzend, schien seine massige Gussform sie förmlich anzuziehen. Große Reliefs mit Darstellungen von Göttern wölbten sich ihnen darauf entgegen, als wollten sie sich als Erste präsentieren, und tatsächlich erkannte Viviane schon von Weitem einige der Götter an ihren Insignien.

Sobald sie davorstand, konnte sie filigranste Gravuren unterscheiden und dennoch war es unmöglich, all seine Bilder zu erfassen, um deren Sinn zu deuten. Das war auch nicht nötig. Für Mythen bedurfte es anderer Druiden. Sie sollte nur darin baden.

Akanthus nahm ihr höchstpersönlich den Umhang ab, half ihr beim Einsteigen und drückte sie leicht unter Wasser. Doch Viviane wusste auch so, dass sie einen Moment untertauchen sollte – dieser Mythos war allseits bekannt.

Kurz überkam sie die Versuchung, die Augen zu öffnen, um den Kessel von innen zu inspizieren. Das ließ sie jedoch bleiben. Dies war ein heiliges Ritual und Demut vor den Göttern war ihr von Kind an beigebracht worden. Es gab nur einen einzigen Tag im Jahr, um gleichauf mit ihnen zu sein, und bis zu diesem Ereignis war es noch lange hin.

Das Wasser war angenehm warm und mit Rosenöl versetzt, sodass sie beim Auftauchen unwillkürlich den Kopf zurückbog und dessen feines Aroma genoss.

Akanthus’ Hand, immer noch auf ihrem Scheitel ruhend, folgte dieser Bewegung und so hätte es auf einen Außenstehenden vielleicht gewirkt, als hielte er sie beim Schopf gepackt. Doch jeder hier in weiter Runde wusste es besser: Seine Hand auf ihrem Kopf war eine Geste des Behütens und Beschützens, die er als Anführer symbolisch für die gesamte Gemeinschaft leistete, genauso, wie er sie gerade eben auch als Einziger in den Kreis gewunken hatte.

Viviane benutzte ebenfalls eine Geste, während sie dem Kessel entstieg: Sie streckte Merdin beide Hände entgegen, um ihm den Platz im Kessel anzubieten.

Nachdem er untergetaucht war, beobachtete Viviane die Krieger in ihrem Umfeld. Mittlerweile hatten sich alle niedergelassen.

Die Schilde und Speere ins Gras gelegt, schauten sie voll konzentriert zum Kessel und zu ihr herüber, wobei die Frauen und Männer mittleren Alters große Leintücher oder Tontöpfchen in Händen hielten und besonders erwartungsvoll schienen. Viviane schmunzelte und fühlte eine wohlige Wärme an sich aufsteigen; sie stand auf einem großen flachen Stein, dem ein herrlicher Bratenduft entstieg. Demnach garte genau unter ihr das Festessen vor sich hin und bei genauerer Betrachtung entdeckte sie ganz in der Nähe noch mehr dieser praktischen Erdöfen. Wieso waren sie ihr vorher nicht aufgefallen?

Abrupt ging ein Ruck durch den Kreis; alle Krieger setzten sich besonders aufrecht hin, ihr Mienenspiel und ihre gesamte Körperhaltung drückten Freude aus. Viviane drehte rasch den Kopf und strahlte mit.

Ihr Herz quoll fast über vor Glück, als Merdin auf die gleiche Weise dem Kessel entstieg wie sie und sein Gesicht dem Himmel entgegenstreckte. Sein schlanker Körper strotzte vor Kraft und schimmerte dermaßen golden, als wäre er geradewegs einem Mythos entstiegen.

Das Wasser rann nicht einfach an ihm herunter, es haftete an seiner hellen Haut wie Perlenschnüre aus Morgentau. Seine kupferroten Zöpfe lagen wie nasse Taue auf seinem Rücken und seine Augen strahlten wie ein azurblauer Himmel.

„Welche Schutzgeister willst du auf Brust und Rücken gezeichnet haben?“

„Meine Schutzgeister?“

Viviane starrte auf drei blaue Spiralen und musste heftig blinzeln, um statt der Spiralen ein Gesicht zu erkennen.

Bis sie die Frage der Frau begriffen hatte, war sie bereits von acht Kriegerinnen umringt, die zwei bis drei Mal älter, aber keinen Fingerbreit kleiner waren als sie selbst. Sanft tupften sie ihr mit feinen Leintüchern das Wasser vom Leib, öffneten, kämmten, trockneten und flochten ihr die fünf Zöpfe neu und rührten mit Pinseln in kleinen Tontöpfchen.

Merdin schien es auf der anderen Seite des Kessels ebenso zu ergehen, soweit sie das durch die wilden Haarmähnen der ihn umstehenden Krieger erkennen konnte. Sie erhaschte sogar ein fröhliches Zwinkern von ihm.

Alle acht Kriegerinnen lächelten ihr aufmunternd zu und rückten so dicht auf, als wollten sie einen Schutzschild aus blauer Haut und weichen Tüchern bilden; als wollten sie Viviane rundum vor der Außenwelt abschirmen.

Tatsächlich wurde es seltsam ruhig um sie herum und auch in ihr, nur das Dröhnen der Trommeln drang zu ihr durch wie ein Ruf aus dem Verborgenen.

„Hast du dich entschieden?“, fragte die Kriegerin noch einmal nach und ihre Gefährtinnen senkten kurz die Leintücher, damit Viviane einen Blick auf deren Schutzgeister über Brust und Bauch erhaschen konnte. Dann tupften sie weiter Tropfen um Tropfen von ihrer Haut.

„Ja, ich glaube … nein, ich bin sicher, ich hätte gerne eine große, starke Wölfin auf der Vorderseite und auf dem Rücken eine Stute – wie im Galopp oder wie im Sprung, weißt du?“

„Sehr gute Wahl“, lobte die Kriegerin, die selbst eine Taube auf der Brust hatte. Bei Vivianes verdutztem Blick grinste sie amüsiert, zeigte ihren Rücken, bedeckt mit einem Igel, und rührte noch eifriger im Tontopf.

Viviane sah in die kreiselnde blaue Farbe und wunderte sich, warum sie sich plötzlich so sicher war. Bis gerade eben hatte sie noch nie ernsthaft darüber nachgedacht, ob sie Schutzgeister brauchte, und erst recht nicht darüber, wer das sein sollte. Aber es war ja wohl logisch, dass ein Drachenkrieger seinen ganz persönlichen mentalen Schutz brauchte. Eine geistige Verbindung zu anderen Arten, aus der man Kraft schöpfen konnte, wenn man sie brauchte. Tiere waren bestens geeignet. Es gab auch Krieger, die Pflanzen bevorzugten.

Wer oder was kam also für sie infrage?

Sie hätte gerne die ganze Welt auf den Körper gemalt bekommen, inklusive Sonne, Mond, Sterne, Wind und Regen … Doch die innigste Verbundenheit zu anderen Arten fühlte sie bei Baria, ihrer Wolfstochter, und Dina, ihrer Stute. Vielleicht waren beide wiedergeborene Ahnen, deren Wege sich mit dem ihren gekreuzt hatten, das war durchaus möglich. Beide jedenfalls hatte sie vor dem sicheren Tode bewahrt und großgezogen wie ihre eigenen Kinder – wenn man das so sagen durfte, schließlich war sie damals selbst noch Kind und ein Gatte in weiter Ferne gewesen.

„Fertig, mein Kind“, gluckste die Kriegerin und rührte wieder eifrig im Topf. „Jetzt zeichnen auch meine Schwestern mit. Keine Bange, sie sind Spezialisten für Flechtmuster und Spiralen.“

„Das glaube ich gern.“ Viviane lächelte selig. Sie konnte gar nicht anders, denn nach einem Blick an sich herab war sie dermaßen begeistert, dass es keinen Zweifel gab: Auf ihrer Brust prangte Baria. Aber es war nicht einfach nur Baria, gezeichnet mit ein paar kunstfertigen Strichen, sondern ein Kunstwerk in Blau, das man erst als das Abbild ihrer Wolfstochter erkennen musste. Viviane hätte es noch ewig betrachten können.

„Ich habe deine Stute im Steigen gemalt. Das sieht noch spektakulärer aus. Außerdem habe ich mir sagen lassen, deine Stute sei etwas Besonderes. Die kleinste unter allen Pferden und trotzdem spurt sie wie das beste Schlachtross.“

„Ach …“, begann Viviane, doch die Kriegerin hob gebieterisch die Hand.

„Nicht abwiegeln! Du hast sie hervorragend getrimmt. Sie reagiert auf jede Bewegung und jeden Laut ihres Reiters und lässt sich von nichts ablenken. Ich meine, du trägst nun ein sehr eindrucksvolles Bild von ihr. Übrigens …“

Mit kritischem Blick überwachte die Kriegerin die Malerei an Vivianes Armen und Beinen, dann zog sie einen sehr dünnen Pinsel aus ihrer wilden Haarmähne und bückte sich. Beschwingt zeichnete sie winzige Symbole und Striche auf Vivianes Fingernägel und Fußnägel, und erklärte leichthin: „Perfekt, nun wacht auch unsere Schutzgöttin über dich.“ Sofort betrachtete Viviane ihre Finger und Zehen – es stand tatsächlich ‚Hall‘ in Oghamschrift auf ihren Nägeln.

„Gut, artig stillhalten jetzt. Im Gesicht sind die Spiralen am schwersten. Wir wollen doch eine saubere Triskele mit Mittelpunkten auf Augen und Mund. Obwohl Ohren und Kinn auch passen tät…“

„Bloß nicht!“ Viviane erstarrte und wagte kaum zu atmen, obwohl sie die Vorstellung von sich selbst mit blauen Spiralen um Ohren und Kinn mächtig zum Lachen fand. Wo würde der Knotenpunkt dieser Triskele liegen? Auf ihrer Zunge?

Zum Glück streifte der Pinsel nur dort über ihr Gesicht, wo er hingehörte, als hätte er diesen Weg schon hundertmal von allein genommen.

„Fertig.“ Die Kriegerin und ihre Drachenschwestern musterten Viviane von allen Seiten und nickten zufrieden. „Wunderbar. Du, Viviane, bist ein Kunstwerk, bist eine eigene Welt, geschaffen von Mutter Erde und Vater Himmel. Sei willkommen, Schwester, in unserem Bund.“

Strahlend neigte Viviane den Kopf zum Dank und versteifte sich prompt. Sie hatte Angst, die Triskele würde ihr aus dem Gesicht fallen, ja, die ganzen schönen Muster könnten verwischen, wenn sie sich noch ein winziges Stück weiter beugte.

Natürlich war das Unsinn. Die Farbe bestand aus kräftig blauem Färberwaid und Kiefernharz, so schnell ging das nicht ab. Da musste sie schon mit ordentlich Butter nachhelfen. Großmutter Mara machte die beste Butter weit und breit, und ihre eingelegten Gurken schmeckten einfach köstlich, und …

Mit einem Ruck stellte sich Viviane gerade. Sie war jetzt eine Drachenkriegerin. Sie war hier in Britannien noch lange nicht fertig. Hier lauerte die Bedrohung direkt vor der Haustür, weshalb die einen den Hinterausgang dieses Hauses benutzten, die anderen aus dem Fenster kletterten und ihresgleichen mit zwei schlagkräftigen Schwertern auf dem Dach lag. Daheim war das nicht nötig.

Daheim musste man nicht auf der Lauer liegen. Daheim waren die Stämme einig und die Römer hielten Abstand, gute Nachbarschaft sozusagen. Daheim sprach keiner das Latinische besser als sie selbst, wohl oder übel. Nein, das war nicht richtig: Die latinische Sprache gefiel ihr richtig gut, genauso wie die griechische. Daheim konnten nicht viele Griechisch wie sie, schon gar nicht lesen. Daheim … jetzt war es aber genug. Sie hatte kein Heimweh. Und wenn doch: Auch mit drei großen blauen Spiralen im Gesicht durfte man in weite Ferne schauen. Die Kriegerinnen nickten ihr zu und öffneten in einer fließenden Bewegung den Kreis aus Leibern, Tüchern und Tontöpfchen.

Unvermittelt stand sie allein vor Merdin, der sie anstarrte, als hätte sie ein Geweih auf dem Kopf. Dabei war er ein Hirsch aus blauem Marmor mit azurblauen Augen, strahlend wie der Himmel.

„Vivian, du bist … du bist wunderbar, ich muss …“, stammelte Merdin, doch ein Tosen brandete nun um sie herum auf, das jedes weitere Wort unmöglich machte. Scheppernd schlugen die Drachenkrieger ihre Speere gegen die Schilde und diejenigen hinter den Trommeln wirbelten mit ihren Schlägeln über die Bälge, als wollten sie jedes Herz zum Rasen bringen. Alle johlten, jauchzten, jubelten und es dröhnte, klopfte und schepperte dazu wie in einem ewig währenden Widerhall.

Das war er also, der erste Augenblick als Drachenkrieger. Sie hatten es geschafft.

Viviane schaute zu Merdin und er lächelte zurück. Ja, er strahlte sie an, und schon lag ihre Hand in seiner. Gemeinsam streckten sie sich gen Himmel, jubelten, lachten und grüßten ihre Brüder und Schwestern mit einem Überschwang, der immer größer wurde.

Schließlich verklangen die Beifallsbekundungen, sogar die Trommler legten ihre Schlägel nieder. Ruhe kehrte ein.

Aller Augen wandten sich gen Osten, wo gerade die kahlen Baumwipfel von gleißendem Licht durchflutet wurden, und im nächsten Moment ergoss sich das wohlig-warme Gold in die Lichtung, machte sie zum Abbild der Sonne und das Sehen schier unmöglich. Das Dröhnen eines mächtigen Rufhorns ließ die Luft erzittern.

Viele Male erschallte das Horn, lang, tief und kraftvoll. Als der letzte Ton verklungen war, betrat Akanthus den Sonnenkreis, das Rufhorn in Lederriemen über den Rücken gehängt. Ihm folgten zwölf Krieger, die vorderen drei hielten in Ledertücher eingeschlagene Objekte in den ausgestreckten Händen.

Viviane und Merdin strahlten sich an. Gleich wurden ihnen die Schwerter überreicht. Bald hielten sie die Symbole ihres Bundes in Händen. Unwillkürlich betasteten sie ihre Torques, richteten sich zur vollen Größe auf und der letzte Teil der Zeremonie nahm seinen Lauf.

Wie auf Kommando scherten die zwölf Krieger aus und schritten um Akanthus herum, als wäre er ihr Mittelpunkt, den es galt, auf unsichtbaren Bahnen zu umrunden. Es waren viele Bahnen, die sich kreuzten und umkreisten wie bei einem langsamen, verwirrenden Tanz, bis die Krieger schließlich einen Kreis um Viviane und Merdin bildeten und auf der Stelle verharrten. Akanthus jedoch blieb außen vor. Er wartete. Wartete auf die Trommeln.

Leise begann im Osten die erste zu schlagen. Die im Süden setzte als nächste ein, darauf die dritte im Westen, zuletzt die vierte im Norden.

Aufrecht, fast schwebend umrundete Akanthus den Kreis seiner zwölf Krieger einmal.

Im Norden bezog er Position. Ruhig schaute er in die Runde.

Er betrachtete den äußeren Kreis der vielen Krieger am Rand der Lichtung.

Er betrachtete den Kreis der zwölf darin.

Schließlich verharrte sein Blick auf Viviane und Merdin im Zentrum.

Seine Züge wurden weich und er breitete die Arme aus wie ein stolzer Vater. Auf sein Nicken bewegten sich die drei Krieger mit den verhüllten Gegenständen drei Schritte vorwärts und zwei zur Seite, sodass Akanthus durch den Kreis und neben sie treten konnte. Feierlich zog er das erste Ledertuch zurück.

Mit großer Geste legte er die Schwertgürtel, die darunter zum Vorschein kamen, um Vivianes und Merdins Taillen und prüfte ihren festen Sitz mit einem kräftigen Ruck.

Vor ein paar Jahren hätte er Viviane damit noch aus dem Gleichgewicht gerissen, jetzt aber blieb sie sicher auf den Beinen und schwankte kein bisschen. Allerdings fiel ihr auf, wie steif und klobig sich das Leder auf ihrer nackten Haut anfühlte. Sie würde noch lange brauchen, um sich daran zu gewöhnen, doch – so ließ die stabile Machart vermuten – würde ihrer beider Verbindung für ein ganzes Leben halten.

Akanthus nickte ihr wissend zu. Bedeutsam schlug er das zweite Ledertuch zurück und zum Vorschein kamen vier Schwertscheiden, außen auf dem Leder mit kompliziert punzierten Flechtmustern und innen mit Fell versehen.

Nacheinander schob Akanthus die Kunstwerke in die vorgesehenen Schlaufen der Schwertgürtel, band sie an und prüfte auch hier wieder den festen Sitz. Abrupt spürte Viviane eine Schwere, die nichts mit dem Ruck an ihrem Körper zu tun hatte. Die Schwertscheiden zogen sie nach unten, obwohl sich das Wichtigste noch gar nicht darin befand. Mit einem Mal bekam sie Angst, ob sie überhaupt würdig war, ob ihre Kraft reichen würde, ob sie vorausschauend genug handeln würde, oder ob sie nicht vielmehr versagen würde als Ärztin, als Kriegerin.

Die Trommeln verhallten in einem letzten, leisen Schlag und ihr Herz begann wild zu pochen.

Akanthus zog das dritte Leder zurück und ihr verschlug es den Atem.

„Dieses Kurzschwert ist deines nun, meine Tochter“, rief Akanthus in die dröhnende Stille hinein und nahm das Schwert behutsam aus den Händen des Kriegers, um es Viviane zu übergeben. „Halte es in Ehren und nutze es weise.“

Prompt begannen Vivianes Finger zu zittern, doch mittlerweile hatte sie gelernt, wie man derartige Schwächen bekämpfte. Ruhig nahm sie ihr Kurzschwert entgegen, streckte es gen Himmel und schaute Akanthus in die Augen, während sie mit lauter Stimme rief:

„Dank dir für dein Vertrauen, mein Vater. Wissen, Weisheit und Gedenken sollen mich leiten und würdig werde ich mich erweisen. Dies schwöre ich bei Hall, Göttin über Leben und Tod.“

Langsam ließ sie ihr Kurzschwert in die vorgesehene Scheide rechts am Gürtel gleiten und strahlte Akanthus an, der zurücklächelte, bevor er sich dem nächsten Schwert zuwandte. Ruhig atmete Viviane ein und aus, während auch Merdin die vorgegebenen Worte sprach. Doch kaum senkte er sein Kurzschwert vom Himmel gen Scheide, begannen ihre Finger schon wieder zu zittern, denn gleich würde Akanthus das letzte Ledertuch zurückziehen.

„Dieses Langschwert ist deines nun, meine Tochter. Halte es in Ehren und nutze es weise.“

Viviane holte Luft; das Blut rauschte ihr immer schneller durch die Adern, je länger sie auf das armlange Schwert starrte.

Wie magisch wurde ihr Blick angezogen von dem Muster auf der Klinge nahe dem Heft, genau auf dem Schwerpunkt. Wunderschön war es anzuschauen: Zwei Drachen, die sich um den Baum des Lebens wanden. Ja, es war derart kunstfertig in das Eisen geschmiedet, dass die Drachen sogar rot-goldene Flammen sprühten, als Akanthus das Schwert ein wenig bewegte und Sonnenstrahlen sie trafen.

Viviane riss die Augen auf. Sie hatte noch nie ein Drachenschwert aus der Nähe gesehen.

Uathach hatte das ihre stets in der Scheide gelassen und auf die ‚weise Nutzung‘ hingewiesen, was natürlich völlig richtig war. Aber sie hatte immer sehr geheimnisvoll getan, und jetzt wusste Viviane auch, warum: Das erste Staunen, die Erkenntnis – das war ihr ganz persönlicher Augenblick, der absolut besondere Moment in ihrer Initiation, einmalig in ihrem Leben.

Die Kunstfertigkeit der Schmiede, die solche Schwerter fertigten, war legendär. Manch einer von ihnen war auch Drachenkrieger, denn sie waren ebenfalls Druiden, Druiden der Metallurgie, und jeder drückte seinen Schwertern den eigenen Stempel auf. Derjenige, der diese Kostbarkeit erschaffen hatte, war für jetzt und alle Ewigkeit mit ihr verbunden.

Vivianes Blick richtete sich auf den Mann neben Akanthus und sie sah ihm tief in die Augen. Er hatte mit ihr jahrelang Faust- und Schwertkampf trainiert. Immer wieder hatte er sie Wachs kneten lassen, um den Griff ihrer Finger zu stärken und den Abdruck zu prüfen. Ständig hatte er ihre Arme und Beine vermessen … Jetzt wuchs er förmlich vor ihr in die Höhe und nickte erfreut, ob ihrer stummen Frage.

Viviane wurde es ganz warm ums Herz vor Dankbarkeit und Zuversicht. Sicher nahm sie das Langschwert auf, präsentierte es mit ruhiger Eleganz über ihrem Kopf und lächelte Akanthus an.

„Dank dir für dein Vertrauen, mein Vater“, sagte sie laut und deutlich. „Wissen, Weisheit und Gedenken sollen mich leiten und würdig werde ich mich erweisen. Dies schwöre ich bei Hall, Göttin über Leben und Tod.“

Viviane reckte ihr Drachenschwert noch ein Stück höher gen Himmel und konnte nicht anders: Sie musste strahlen, strahlen, strahlen. Als sie vor Kurzem ihre Initiation als Ärztin absolviert und ihre chirurgischen Werkzeuge erhalten hatte, war sie absolut zufrieden gewesen. Sie hatte so viel Glück und Freude empfunden. Beim Anblick ihrer silbernen Skalpelle hatte sie die Verantwortung bis in die Fingerspitzen gespürt. Nun aber, mit dieser Waffe in Händen, durchströmte sie eine schier unbändige Kraft, die ihr unendlichen Mut gab.

Sanft, ja anmutig führte sie ihr Langschwert abwärts, bis die Spitze auf der Scheide zum Liegen kam. Wie selbstverständlich glitt die Klinge in ihre Hülle aus Leder und Fell, und das Eisen aus einer fernen Welt sang ein leises Lied, nur für sie.

Wie im Traum beobachtete Viviane die Übergabe des zweiten, wesentlich längeren Drachenschwertes an Merdin und dachte darüber nach, warum sie das Gewicht des Eisens zu beiden Seiten ihrer Hüften kaum spürte. Am liebsten wäre sie losgerannt, auf den nächstbesten Baum geklettert oder mit ein paar Überschlägen durch die Luft gewirbelt, doch sie stand still. Nur die Krieger in ihrer Nähe bewegten sich.

Bedächtig traten sie auseinander, der Kreis der Zwölf wurde weit und weiter, und schließlich zerstreute er sich unter lauten Jubelrufen in alle Himmelsrichtungen.

Scheppernde Speere auf Schilde, trampelnde Füße, donnernde Trommeln und gebrüllte Glückwünsche vermischten sich zu einem ohrenbetäubenden Lärm, der regelrecht in Tumult ausartete, als Viviane und Merdin ihre Schwerter wieder aus den Scheiden zogen und über Kreuz der Sonne entgegenstreckten. Diesen Gruß hielten sie fünf, sieben, zwölf Herzschläge lang, dann schwenkten sie ihre Waffen im weiten Bogen, bis die Spitzen zur Erde zeigten, und warteten auch hier zwölf Herzschläge ab. Akanthus blies fortwährend in sein Horn, und kaum hatte er es wieder auf den Rücken geschoben, beugten sie fast synchron ihre drei Köpfe. Sofort trat Ruhe ein, nur ein vielfaches Schleifgeräusch sang von stiller Trauer.

Die anderen Drachenkrieger hatten blankgezogen, senkten nun ebenfalls Schwerter und Häupter.

Gemeinsam gedachten sie der Freunde, die sie in vergangenen Zeiten verloren hatten, und baten Hall um Beistand bei neuen Gefahren. Vielleicht stellte sich manch einer auch vor, wie er ruhmreich in die Anderswelt einzog und die toten Gefährten wiedersah; wie er mit ihnen feierte und durch die Lande ritt auf weißen Pferden. Wer wusste schon, was es in der wundersamen Welt nach dem Leben alles zu entdecken galt, und wer wusste schon, wann es einen dorthin verschlagen würde. Nur eines war sicher: Hall war gerecht.

Als das Schweigen drückend wurde, ließen Viviane und Merdin ihre neuen Schwerter wieder in die Scheiden gleiten, ihre Drachenbrüder und -schwestern taten es ihnen nach, und dieses vielfach leise Sirren schien wie ein Weckruf.

„Ein dreifaches Hoch auf unsere Initianten!“ Akanthus riss die Faust in Siegerpose nach oben und drehte sich einmal um die eigene Achse.

„Hoch! Hoch! Hoch!“, schallte es aus dem großen Kreis mit solcher Wucht zurück, dass es Viviane und Merdin fast schwindelig wurde. Fest packten sie sich an den Händen und wollten schon loslaufen, um sich bei jedem Einzelnen zu bedanken, doch das konnten sie getrost bleiben lassen.

Ehe sie sich versahen, waren sie von einer johlenden Meute umzingelt – sie sahen nur noch Weiß und Blau.

Rabiat wurden sie umhergezerrt, geschoben, gedrückt, geküsst, getätschelt, gekniffen … ganz zu schweigen von dem Jauchzen und Brüllen in ihre Ohren und den Haarmähnen rundum, die kitzelten und stachen und ihnen die Sicht nahmen. Doch sie lachten und schwankten und schwankten und lachten, als gelte es einen Wettstreit im ‚Freuen‘ zu gewinnen.

In Windeseile war ein Fest im Gange, das diesem Freudentaumel in nichts nachstand. Es gab massenweise Hirschbraten, Kräuterbutter, frisches Brot, deftige Zwiebeln, saures Kraut, dicke Bohnen, zarte Sprossen, Met, Korma …

Letzteres schmeckte Viviane zu ihrer eigenen Verwunderung besonders gut und sie überlegte, ob die Gerste hierzulande milder vergoren wurde. Bei ihr zu Hause wäre sie nie und nimmer in die Nähe eines Fasses Korma gegangen, so rauchig-bitter roch das Gebräu schon zehn Schritt gegen den Wind. Hier aber leckte sie sich den Schaum von den Lippen und setzte beschwingt zum dritten Horn an. Es wurde ihr vor der Nase weggeschnappt.

„Meins!“ Viviane klammerte sich an dem Horn fest und hätte wohl zu einem Fußtritt ausgeholt, wenn nicht ein breit grinsender Merdin an dem Horn gehangen hätte. Angriffslustig starrte sie ihm in die Augen. Er hatte mindestens drei davon.

„Du guckst schief, Vivian.“

„Schwachsinn! Ich sehe perfekt aus! Gib mein Horn frei oder ich drück dich, bis dir die Luft wegbleibt!“

„Ooooh, du willst mich quetschen? Welch ein Angebot! Ich werde dich dran erinnern, aber nun haben wir erst mal unseren Einstand.“

„Einstand?“ Viviane schwankte von einem Bein aufs andere und visierte Merdins mittleres Auge an. „Ach, dieser Einstand! Unser Kampfspektakel! Beim Geweih von Cernunnos, und ich bin betrunken!“ Beinahe hätte sie ihr Horn losgelassen, um sich den Kopf zu halten. Sie hatte doch tatsächlich vergessen, dass sie beide für die Unterhaltung zuständig waren. „Wo ist denn Uathach abgeblieben? Sie soll uns doch die Pferde zuführen?!“ Suchend blickte sie sich nach ihrer Freundin um.

Zuerst zweifelte Viviane an ihrem Sehvermögen, aber daran lag es diesmal nicht. Sie konnte sich noch so sehr beugen, strecken, um die Achse drehen und die Augen zusammenkneifen – Uathach war nirgends zu finden, weder in einfacher noch doppelter Ausführung. Es standen einfach zu viele Krieger im Weg, allesamt mit Essen, Trinken und Gestikulieren beschäftigt. Ja, sie redeten dermaßen überschwänglich aufeinander ein, als würden sie nur einmal im Jahr die Gelegenheit dazu bekommen, bis irgendjemand „Jetzt beginnt das Spektakel!“ johlte. Das wirkte wie ein Aufruf zur Flucht.

Die einen sprangen nach rechts, die anderen nach links, schon war die Lichtung wie leer gefegt; alle standen am Rand und drückten einen Brocken Fleisch und ein Horn voll Met an sich, oder was sie sonst in Händen hielten. Nur Viviane und Merdin verharrten wie festgewachsen mitten auf der Lichtung und klammerten sich an das Horn mit Korma, wobei Viviane immer noch um sich blickte. Diesmal wusste sie wenigstens, in welche Richtung sie sich drehen musste, und so fiel ihr die Kinnlade herunter, als Uathach endlich aus dem Wald und in Sicht kam.

„Ja, da staunst du“, gluckste Merdin. „Deine Freundin übertreibt es mal wieder mit dem großen Spektakel.“

„Sie sollte uns doch bloß die Pferde bringen! Beim Geweih von Cernunnos, was soll das werden?!“

Uathach preschte zwischen den letzten Bäumen hindurch auf die Lichtung, als gelte es, sich selbst zu überholen. Breitbeinig stand sie auf einem Streitwagen, die Zügel locker in einer Hand, und sah einfach zum Fürchten aus mit ihrer Kriegsmontur aus Helm, Kettenhemd, Schild, Steinschleuder, zwei Schwertern, fünf Messern, einer Axt und fünf verschieden langen Blasrohren. Dazu befanden sich in der Wagenhalterung noch jede Menge Speere. Dina und Arion – gestriegelt und frisiert – fungierten als Zugpferde. Viviane bekam den Mund nicht mehr zu.

Obwohl Dina wesentlich kleiner war als Arion, gaben die beiden ein wunderschönes Paar ab, wie sie mit ausgreifenden Hufen über das Gras galoppierten, makellos weiß und die silbernen Mähnen zu vielen Zöpfen geflochten.

„Ich bin übrigens selbst überrascht“, versicherte Merdin. „Deine Dina und mein Arion hübsch zurechtgemacht am Führstrick – damit habe ich ja gerechnet, aber gewiss nicht so extravagant miteinander verbunden. Dazu noch dieses wilde Weib …“

„Sie wollte uns bestimmt mal überrumpeln.“

„Bloß nicht!“ Merdin packte Vivianes Arm und zerrte sie hinter den großen Silberkessel. Offenbar hatte er das mit dem Überrumpeln wörtlich genommen.

Trotz rasanter Fahrt über holprige Grasbüschel, voller Kriegsmontur und Zügeln im Griff schaffte es Uathach noch, fröhlich zu winken und zu johlen: „Ich fahr euch schon nicht gleich über den Haufen! Bring bloß die Pferde! Wie versprochen!“

„Plus Streitwagen!“, lachte Viviane und tat so, als hätte sie gar nichts anderes erwartet – was das ‚Über-den-Haufen-Fahren‘ anging, stimmte das auch. Im Zweifelsfalle wäre sie nämlich schon längst davongerannt. Sie würde sich garantiert nicht von einem Streitwagen über den Haufen fahren lassen, allein schon wegen der Klingen an den Rädern rechts und links. Sehr schnell rotierende, scharfe Klingen wohlgemerkt, die ein ganz spezielles Geräusch von sich gaben. Es war wie ein Wirbel aus Sirren, Rasseln, Klirren und Zischen. Man konnte es gar nicht richtig beschreiben, so eigentümlich hörte es sich an – ein absolut tödlicher Klang eben. Ganz zu schweigen von der riesigen Kriegerin obendrauf, die all ihre Waffen meisterlich beherrschte und acht donnernden Hufen die Richtung angab. Im Handumdrehen wäre man von ihr kleingehäckselt, niedergetrampelt, erstochen, erschlagen, zerschnitten, zerquetscht, zerhackt oder alles zusammen und könnte nicht mal mehr über einen raschen Tod nachdenken.

Aber hatten Viviane oder Merdin Angst? Nein, im Gegenteil. Staunend standen sie hinter dem großen Silberkessel und sahen zu, wie Uathach sich gegen das Weidengeflecht lehnte, um die Kurve besser zu kriegen. Sie konnten sich gar nicht daran sattsehen, wie gut ihre beiden Pferde miteinander harmonierten, sich gegenseitig im Blick behielten und auf den kleinsten Zug am Zügel reagierten. Kraftvoll preschten sie im Kreis um die Lichtung, vollführten noch eine geschmeidige Wende um den großen Kessel und galoppierten in einen neuen, entgegengesetzten Kreis, als hätten sie nie etwas anderes getan, als Streitwagen zu ziehen.

„Das haben die drei heimlich trainiert“, knurrte Merdin in Vivianes Ohr.

„Ja, das haben sie wohl“, gluckste diese und schmiegte sich an Merdins Wange, bis das Gespann exakt vor ihnen hielt und sie ihre Freude aufteilen musste. Ihre neckische Begrüßung: „Du bestes, irres Kriegerweib! Du hast mich vollkommen überrumpelt!“ ging in Johlen, Pfeifen und Klatschen unter.

Uathach grinste, als hätte sie dennoch jedes Wort verstanden, lehnte ihren Schild an das Weidengeflecht und sprang vom Wagen; sogleich fiel ihr Blick auf das Horn voll Korma, an dem sich bloß noch Merdin festhielt, und sie schnappte es ihm aus der Hand. Während sie frech grinsend trank, schirrte Merdin die Pferde ab und Viviane gesellte sich schnell zu ihm.

In kurzer Zeit standen Dina und Arion für ihre eigentliche Nutzung parat. Viviane und Merdin legten ihre neuen Schwertgürtel ab und bekamen von Uathach, die nun wieder die Hände frei hatte, zwei alte, speckige, bestückt mit hölzernen Schwertern, Äxten und Messern. Prompt machte ein erfreutes Raunen die Runde, das alle drei zum Feixen brachte.

Das Raunen wurde noch lauter, als Uathach Rundschilde und Speere verteilte. Natürlich hatten die Speere keine Spitzen und die Schilde waren aus dünnem Eschenholz, sie hatten weder Schildbuckel noch sonstige Extras – Eisenstachel zum Beispiel, wie Uathachs hoher Schild für den Nahkampf zu Fuß – sie wollten sich schließlich nicht gegenseitig umbringen.

Nein, sie wollten bloß ein bisschen spielen.

Jeder Neuzugang bei den Drachenkriegern demonstrierte am Ende der Initiation seine Fähigkeiten. Das war keine Pflicht, aber irgendwann hatten einige Initianten damit angefangen und nun gehörte es eben zur Abschlussfeier dazu. Jeder dachte sich etwas aus, was er besonders gut beherrschte, möglichst mit spektakulärem Unterhaltungseffekt.

Es hatte schon die interessantesten Vorführungen gegeben: Kampfkunst mit Feuer oder Eis, mit gefesselten Armen oder Beinen, mit verbundenen Augen oder verstopften Ohren, Kampfkunst mit Hypnose, Gesang oder Gift und natürlich Gegengift … Viviane und Merdin hatten sich für eine Reitervorführung entschieden. Das war vielleicht nicht allzu spannend, aber es würde lustig werden, dafür hatten sie gesorgt.

Vor sechs Jahren hätte Viviane wie ein Pferd gewiehert, wenn ihr jemand diese Idee vorgeschlagen hätte. Damals hatte sie das erste Mal auf dem Rücken ihrer kleinen Dina gesessen, doch sie wäre nie auf den Gedanken gekommen, von dort aus zu kämpfen oder sich mitten im Galopp kopfüber hängen zu lassen, ohne Zaumzeug.

Heute konnte sie sich sogar unter Dinas Bauch durchhangeln oder im Rennen aufspringen, und das verdankte sie ihren zwei besten Freunden, Uathach und Merdin.

„Vivian ist betrunken“, erklärte Merdin und sah dabei Uathach so vorwurfsvoll an, als hätte sie Viviane höchstpersönlich mit Korma abgefüllt. „Wie soll sie da irgendwas treffen? Oder besser, wie soll sie da nichts treffen, wenn sie alles doppelt und dreifach sieht?! Ich meine, ich kann mich ja noch erwehren, da mach ich mir keine Sorgen, aber der Rest … sollen wir den Abstand verkürzen oder hast du eine bessere Idee? Abblasen können wir das Spektakel nicht.“

„Ach“, gluckste Uathach und tätschelte das leere Horn in ihrer Gürtelschlaufe. „Du solltest doch auf sie aufpassen? Wie kann sie da betrunken sein? Warst wohl anderweitig beschäftigt? Bist ins Fass gefallen? Schwimmen gegangen mit besten Freunden?“

„Gar nicht wahr, ich hab aufgepasst! Ich war nur ganz kurz …“

„So, so … ganz kurz.“ Kichernd schob Uathach ihren Zeigefinger gen Daumen und lugte durch einen immer kleiner werdenden Spalt.

Merdin verdrehte die Augen und brummte etwas Unverständliches.

Viviane schaute verständnislos von einem zum anderen und sagte sehr deutlich: „Ich bin überhaupt nicht betrunken. Höchstens ein klein wenig angeheitert, aber das vergeht mir gerade!“

„Also, irgendeine Idee?“, grummelte Merdin, als hätte er sie gar nicht gehört, und baute sich so groß wie möglich vor Uathach auf – es hatte nicht die erhoffte Wirkung, Uathach konnte ihm direkt in die Augen sehen.

Seelenruhig zog sie das leere Horn aus dem Gürtel, hielt es verkehrt herum über ihren Kopf, streckte die Zunge aus, damit eventuell noch vorhandene Tropfen den richtigen Weg fanden, und lallte nebenbei: „Keine Banig, mein Besder, hab ja Augn im Kob un seh, wenn mei allerliebsde Vivian mi schiew angugd.“ Grinsend steckte sie das Horn zurück in den Gürtel. „Und ich kann zaubern. Hab ja wesentlich mehr Erfahrung mit Abschlussfeiern als du, oh Ideenloser.“

Mit großer Geste präsentierte sie ein winziges Fläschchen aus Tannenholz und zog den Korken heraus.

Merdin sprang sofort rückwärts, aber Viviane hielt neugierig die Nase darüber. Prompt jaulte sie los und hastete mit wild fuchtelnden Armen hinter Merdin. Alle Krieger rundum brachen in schallendes Gelächter aus.

„Ja, das beißt“, lachte Uathach und machte sich einen Spaß daraus, hinter Viviane herzulaufen und: „Ich beiß dich, ich beiß dich!“ zu rufen. So schaffte die eine johlend, die andere jaulend immerhin drei Runden um Merdin, bis dieser das Fläschchen erwischte und den Korken gleich hinterher.

„Ich hab die Nase voll“, schnaubte er, drückte den Korken auf die Flasche und zeigte in die Runde. „Die lachen alle schon. Denken wohl, das gehört mit zum Spektakel.“

„Passt doch“, fauchte Uathach und zeigte auf das Fläschchen. „Unsere Vivian ist wieder nüchtern, das ist ein Grund zur Freude. Und nun auf in den Kampf.“

„Hm“, brummte Merdin und verstaute das Fläschchen im Weidengeflecht des Streitwagens, wo es seiner Meinung nach auch hergekommen war. Dann baute er sich demonstrativ noch einmal vor Uathach auf, funkelte sie herausfordernd an und nickte knapp.

Viviane schaute vom einen zum anderen, denn sie verstand diesen angriffslustigen, fast beleidigten Blick von Merdin nicht. Sie entschied sich, dem keine Beachtung zu schenken, und eine warme Woge aus Dankbarkeit und Zuneigung wallte in ihr auf. Kurzerhand zog sie Uathach fest in die Arme, bevor sie sich auf Dina schwang. Merdin saß schon auf seinem großen Hengst Arion und gab den Kriegern Handzeichen, um die Bahn freizumachen. Daher konnte sie ihm nur das Knie tätscheln, was er jedoch nicht einmal bemerkte, so beschäftigt war er mit seinen Anweisungen. Also kniff Viviane ordentlich hinein und schon hatte sie seine vollkommene Aufmerksamkeit. Sie feixte, er lachte und wollte sie nun seinerseits ins Knie zwicken, doch dazu kam es nicht mehr.

„Zeigt, was ihr könnt“, knurrte Uathach und klatschte der kleinen weißen Stute schwungvoll aufs Hinterteil.

Im wilden Ritt preschte Dina über die Lichtung, immer weiter und schneller, bis sie im letzten Moment auf der Hinterhand wendete und stillstand. Die Krieger rechts und links der Bahn atmeten erleichtert auf – sie waren schon drauf und dran gewesen, noch ein Stück zur Seite zu springen, doch diese Blöße wollte sich keiner geben. So viel Temperament hatte niemand dem kleinen Pferdchen zugetraut; das erkannte Viviane am beifälligen Gemurmel rundum und heimste gerne das Lob dafür ein. Doch sie wandte nur kurz den Kopf nach rechts und links. Sie hatte jetzt Besseres zu tun, als sich in Bewunderung zu sonnen: Sie musste sich vollkommen auf die Gegenseite konzentrieren.

Merdin stand schon bereit und hielt seinen Speer hoch.

Fast gleichzeitig trieben sie ihre Pferde an. Merdin warf seinen Speer. Viviane klammerte sich an Dinas Mähne, riss ihren Schild hoch und kippte zur Seite weg. Der Speer schrammte kaum merklich über ihren Schild, Dina verfiel in gemächlichen Trab und Viviane hievte sich wieder auf ihren Rücken.

Ein lautes Seufzen ging rundum und eine der ältesten Kriegerinnen sprang vor, um den Speer aus der Wiese zu ziehen. Triumphierend schwang sie ihn über den aufgetürmten grauen Haaren, huschte flink an ihren Platz zurück und gab Viviane ein Zeichen: Die Bahn war wieder frei.

Viviane schmunzelte. Nun hob sie ihrerseits den Speer und Merdin wurde blass.

Spätestens jetzt war jedem klar, dass der Tag nicht langweilig werden würde.

Auch Merdin rettete sich mit einem raschen Abkippen vor dem Speer, doch kaum hatte er sich wieder aufgesetzt, drängte Viviane ihre Dina dicht an seine Beine und der Nahkampf hoch zu Ross begann.

Rasend schnell hieben und stachen sie aufeinander ein. Kurzschwerter, Äxte, Messer … eine Waffe nach der anderen schlugen sie sich aus den Händen, mal durch brutale Gewalt, mal durch List und Tücke. Jeder Würgegriff brachte ihre Zuschauer zum Stöhnen, und wenn Viviane in allzu arge Schräglage kam, kreischten manche sogar auf. Alsbald gingen sie mit bloßen Händen aufeinander los.

Prompt rissen sämtliche Zuschauer ihre Fäuste hoch, verpassten der Luft Hieb um Hieb und manch einer grölte noch Ratschläge, wie Viviane ihren hochtrabenden Gegner vom Pferd fegen könnte.

„Denk an zwölf Monde harte Arbeit“, knurrte Merdin durch die Zähne und grinste breit. Viviane hätte ihn am liebsten in die Wange gezwickt. Stattdessen täuschte sie mit rechts an und stach mit links nach seinen Augen, die jedoch rechtzeitig aus ihrer Reichweite gebracht wurden.

Sie hielt sich an die abgemachte Bewegungsfolge, die sie beide auswendig kannten. Schließlich hatten sie sich ein Jahr lang auf dieses Spektakel vorbereitet. Außer ihnen wusste nur Uathach, was für ein langwieriger Prozess das gewesen war. Gemeinsam hatten sie spektakuläre Bewegungsabläufe ausgeklügelt und sehr, sehr langsam eingeübt. Erst vor einem Mond hatte ihnen Uathach erlaubt, in diesem atemberaubenden Tempo zu agieren, das jetzt sämtliche Gemüter in Aufruhr versetzte.

Die Einzigen, die absolut stillstanden, waren Arion und Dina. Nicht mal ihre Ohren zuckten. Sie bewegten sich nur, wenn sie von ihren Reitern dazu aufgefordert wurden, wie nun von Viviane.

Ein leichter Schenkeldruck, ein wenig Gewichtsverlagerung und ihre kleine Stute reagierte wie ein echtes Schlachtross, indem sie eine winzige Seitwärtsbewegung machte. Viviane nutzte den geschaffenen Freiraum, um rasch an ihrer Seite hinunterzurutschen, unter ihrem und Arions Bauch durchzukriechen und Merdin vom Pferd zerren.

Dieser hatte nun nichts weiter zu tun, als schön erschrocken zu kreischen und die Hand über die Augen zu heben, als würde er nach Viviane Ausschau halten, obwohl sie längst auf seinem Bauch saß. Viviane hatte nichts weiter zu tun, als seinen Blick falsch zu deuten und sich hastig nach einem Angreifer aus dem Hinterhalt umzudrehen. Schon lag sie auf dem Rücken und die Krieger lachten. Ja, sie klatschten wie wild die Hände zusammen und brüllten: „Noch mehr! Noch mehr!“

Selbstverständlich ließen sich Viviane und Merdin nicht lange bitten.

Seite an Seite ritten sie über die Lichtung, glitten auf halber Strecke von den Pferden und rannten schnell wie der Wind nebenher. So gekonnt sprangen sie wieder auf Dina und Arion, dass es eine Freude war, ihnen zuzusehen. Die Beifallsbekundungen wollten gar nicht mehr aufhören, daher trieben sie das gleiche Spiel noch einmal in die Gegenrichtung. Eine dritte Strecke wurde nicht in Angriff genommen – Merdin hob schwer atmend die Hand und japste gut verständlich, er müsse sein Pferd schonen.

Alle Krieger lachten, doch keiner war bereit, das Ende des Spektakels zu akzeptieren. Sie klatschten und brüllten wieder im Takt: „Noch mehr! Noch mehr!“

Viviane kam das gerade recht. Sie hatte jetzt nichts weiter zu tun, als an einen großen, saftigen Apfel zu denken.

Mit hungrigem Blick wedelte sie Merdin Luft zu und ließ Dina so lange im Kreis um ihn herumtänzeln, bis er sich mit schiefem Grinsen die Lippen leckte. Die Krieger im Rund johlten anzügliche Bemerkungen, die Kriegerinnen quietschten vor Vergnügen und ein paar von ihnen giggelten laut: „Guckt euch mal den Arion an! Der tut genauso verliebt wie Merdin!“

Das brachte Viviane ein wenig aus dem Konzept, doch Dina tänzelte ohne ihr Zutun weiter und tatsächlich schaute ihr Arion fast genauso hinterher, wie es Merdin für sich selbst eingeübt hatte. Natürlich leckte sich Arion nicht die Lippen, aber seine witternde Haltung, sein Blick … warum war ihr das noch nie aufgefallen? Oder besser: Wann hatte dieser Schelm damit angefangen? Arion, wohlgemerkt – bei Merdin war es ja bloß gespielt.

Viviane beugte sich näher heran und hauchte Merdin einen Kuss auf die Wange. Dina rieb sich an Arions Hals, wie sie das jedes Mal beim Proben getan hatte. Plötzlich befürchtete Viviane, ihre Stute würde heute einfach stehen bleiben.

Doch weit gefehlt. Mit einem kessen Schweifwedeln schritt Dina über die Lichtung und ließ Arion samt Reiter in Schockstarre zurück.

„Du Trottel!“, „Hör auf zu sabbern!“, „Der ist voll im Tran!“, grölten die Krieger und fanden noch derbere Sprüche, die zum Glück in der allgemeinen Heiterkeit untergingen. Nicht, dass sich die beiden derartige Beschimpfungen zu Herzen nahmen.

Wie eingeübt blieben sie ruhig, bis Viviane auf halber Strecke wendete. Nun kam wieder Leben in beide. Merdin grinste besonders verträumt und streckte die Arme aus, als wollte er Viviane mit einem langen, dicken Tau einholen. Arion tänzelte auf der Stelle, als müsse er erst mal die Seile dafür verdrillen. Dabei machte er einen dermaßen langen Hals und witterte Dina nach, dass Viviane nur staunen konnte, wie artig er auf seiner Position ausharrte. Sein ganzes Gebaren sagte: ‚Vorpreschen! Viviane runterschubsen! Selber aufsteigen!‘ Es war einfach genial.

„Arion taugt wahrlich fürs Theater“, gluckste Uathach, mittlerweile ohne Helm und restlicher Kriegsmontur, die blonde Haarmähne wieder verzottelt. Geschäftig reichte sie Viviane das kleinste Blasrohr aus ihrer Sammlung hinauf. Dann präsentierte sie – wie aus dem Nichts – einen Federkiel, hinten buschig, vorne mit einer Spitze aus Silber versehen, und tauchte diese in ein winziges Tontöpfchen mit roter Farbe. „Pass auf, Vivian! Du musst zwei Fingerbreit höher zielen und eine Elle nach rechts. Bruder Wind hat aufgefrischt, findet das Spektakel wohl aus so lustig. Ich hab die ganze Zeit nichts anderes gemacht, als seine Stärke abzuschätzen und jeden Schuss zu kalkulieren.“

„Uathach, du bist genial! Danke, das mache ich, sollst ja stolz auf mich sein.“ Verschmitzt wedelte Viviane mit dem Blasrohr und streckte die Hand nach dem Federkiel aus.

Arion hörte sofort auf zu tänzeln und Merdin hob die Hand über die Augen; er schaute dermaßen verdutzt, dass jeder in der Runde dachte, nun käme etwas, das für die Reitervorführung nicht geplant gewesen war.

War es eigentlich auch nicht, doch Viviane hatte darauf bestanden. Sie hatte den Nahkampf hoch zu Ross verlieren müssen, etwas anderes wäre für Merdin unvorteilhaft gewesen. Deshalb wollte sie nun wenigstens eine Art Gleichstand erreichen. Selbstverständlich hatten sie auch dies geprobt und Merdin wusste genau, was er zu tun hatte.

Er lachte lauthals.

„Mit dem kurzen Elderstab hast du keine Chance auf die Entfernung!“

„Abwarten“, johlte Viviane zurück. „Das ist beste Qualität!“ Sie hielt das Blasrohr für alle gut sichtbar hoch und rief laut: „Absolut gerader Wuchs! Ich habe jeden Hollerbusch aus der Gegend inspiziert! Ein Prachtstück von Holunder, bearbeitet von einem Meister! Guckt nur alle hin!“

Ein Raunen machte die Runde und jeder Krieger schaute zu Akanthus, der sich grinsend verbeugte.

„Angst?“ Feixend setzte Viviane das Blasrohr an die Lippen. „Keine Bange, ich ziele nicht auf deine Beine!“

„Oh weh!“ Merdin versteckte sich hastig hinter seinem Schild.

Der Pfeil flog schnell und prallte mit einem sehr leisen Schlag auf das Holz.

„Ha! Ein Mückenstich! Eine Handbreit weiter weg und er wäre lasch abgesackt!“

„Ich nenne das ‚Berechnung‘“, trällerte Viviane und lenkte Dina langsam rückwärts.

Uathach tauschte währenddessen die Blasrohre aus und knurrte: „Prima Treffer. Für den nächsten drei Finger und anderthalb Ellen zugeben.“

„Mach ich.“ Viviane nickte voll konzentriert und Uathach tätschelte ihr beruhigend den Arm.

Merdin hingegen lachte höhnisch.

„Was treibst du da? Dein Elderstab mag größer sein, aber du gehst viel zu weit rückwärts! Treibt dich der Wind fort oder soll das noch mal so eine trudelnde Mücke werden wie eben?!“ Grinsend demonstrierte er mit seinem Zeigefinger, wie es einer Mücke im Sturm erging, riss jedoch hastig seinen Schild hoch, als Viviane das neue Blasrohr ansetzte.

Wieder stach der Pfeil kaum in das Holz und Merdin spottete lauthals, als Nächstes kämen verhungerte Mücken. Viele Krieger lachten und riefen, sie würden auch bald verhungern.

Viviane ließ sich davon nicht beirren.

Ruhig nahm sie das dritte und vierte Blasrohr von Uathach entgegen, schoss ihre Pfeile ab und lenkte Dina stückweise rückwärts. Beim fünften und längsten Blasrohr verschwand sie zwischen den Bäumen. Nur Merdin und Uathach konnten sie noch richtig sehen, alle anderen reckten die Hälse, um nichts zu verpassen – selbst Akanthus, der genau wusste, was Viviane damit bezwecken wollte.

Merdin spürte – wie fast jedes Mal bei ihren Proben – den deutlich stärkeren Einschlag in seinen Schild; diesmal johlte er anerkennend.

„Das war ein Hit! Endlich hat der Schuss im Holz gesessen, wie es sich schickt! Aber warum hast du nicht mal woandershin gezielt? Ich hätte die kleinen Stiche sowieso kaum gemerkt! Oder hast du Gift an den Pfeilen?!“

Bei dieser reichlich späten Vermutung wurde Merdin ganz hektisch. Bibbernd duckte er sich hinter seinen Schild, zog die Füße hoch, stieß sich das Kinn an den Knien … Rundum lachten alle über sein ängstliches Gebaren. Er klapperte sogar laut mit den Zähnen, doch er grinste dabei. Über solche Spötteleien konnte Viviane nur ausgiebig gähnen. Gelangweilt wedelte sie mit der Hand, Uathach solle sich um die Angelegenheit kümmern, sie sei näher dran.

Das ließ sich ihre Freundin nicht zweimal sagen. Gemütlich schlenderte sie zu Merdin, klopfte gegen seinen Schild und gurrte: „Du kannst vorkommen. Vivian will dich nicht vergiften. Sie will bloß ein kleines Zeichen setzen.“

„Ach, ein Zeichen sollte das werden!“ Merdin drehte seinen Schild um, sodass er die Außenseite sehen konnte, starrte übertrieben darauf und jauchzte unvermittelt.

„Sie hat ein Kreuz aufgezeichnet!“, rief er in die Runde und hielt seinen Schild hoch, damit es jeder sehen konnte. „Sie hat tatsächlich ein Kreuz fertiggebracht! Drachenbrüder! Drachenschwestern! Guckt euch das an! Guckt euch das an!“

Er ließ Arion langsam an den Kriegern vorbeigehen, präsentierte ihnen seinen Schild und deutete auf die roten Punkte, die Viviane mit ihren Pfeilen eingestochen hatte.

„Es ist tatsächlich ein Kreuz“, murmelten die Ersten, wobei sie verdutzt auf den Schild starrten. „Sie hat wahrhaftig ein rotes Kreuz aufgezeichnet!“

Eifrig drehten sie sich zu ihren Nachbarn um und zeigten mit den Fingern auf den Schild.

„Habt ihr das gesehen?! Ihr letzter Hit hat das Zentrum getroffen! Schaut hin! Der starke rote Punkt befindet sich mittig im Kreuz! Das ist ein kleines Sonnenrad, gar kein Zweifel!“

Schwer beeindruckt wandten sich die Krieger Viviane zu und musterten sie von Kopf bis Fuß, obwohl sie immer noch weit hinten im Wald auf Dina saß und gar nicht richtig zu sehen war. Viviane wurde zunehmend rot unter ihren blauen Hautmustern.

Sie ärgerte sich ein winziges bisschen. Genaugenommen war das Kreuz nicht klein; es maß mehr als zwei Handspannen von Punkt zu Punkt. Sie hätte besser getroffen, wenn sie absolut nüchtern gewesen wäre. Die Pfeile waren ihr doch ein wenig abgedriftet, aber dafür war der letzte so perfekt windschief im Zentrum gelandet, dass es am Ende wieder gerade aussah. Man musste nur den Kopf zur Seite neigen – schon konnte man Norden, Osten, Süden und Westen deutlich erkennen.

Zum Glück hatte sie die rote Farbe genommen, wie Uathach ihr geraten hatte. Schwarze Punkte wären nicht so gut sichtbar gewesen, man hätte sie gar als Maserung im Holz abtun können.

„Guckt sie euch an!“, tönte Merdin und streckte den Schild weit von sich. „Das Symbol der vier Himmelsrichtungen auf einen Schild geblasen! Ein Sonnenrad, auf diese Entfernung! Habt ihr je solche Treffer gesehen, derlei Kunstfertigkeit?!“

„Nein!“, jubelten alle Krieger im Chor. „Vivian ist die Beste mit dem Elderstab!“ Prompt fiel einigen auf, was sie da gerade verkündeten, und sie verpassten ihren Nachbarn unauffällige Rippenstöße. Allesamt brüllten sie hinterher: „Uuuuathach ist die Beste mit dem Elderstab! Sie ist die beste jüngste Lehrmeisterin und Vivian ihre beste jüngste Schülerin! Sie können wahrlich stolz aufeinander sein!“

Uathach drehte sich prustend um und zwinkerte Viviane zu.

Viviane freute sich, wie glücklich ihre Freundin nun die Faust in Siegerpose reckte, und zwinkerte lachend zurück. Ja, sie musste sich kichernd hinter ihren Händen verstecken und den Kopf schütteln. Wenn jemand vor fünf Jahren prophezeit hätte, dass sie eines Tages stolz aufeinander sein würden, wäre er wahrscheinlich mit zwei Ohrfeigen abgezogen, denn damals hatten sie sich überhaupt nicht leiden können.

Immer wollte Uathach recht haben, weil sie bereits ein Jahr Heilkunst absolviert hatte, bevor Viviane anfing. Immer wollte Uathach die Beste sein und Viviane hätte ihr das auch gegönnt, denn schließlich war Uathach eine Königstochter, eine gelehrige Schülerin der Medizin und eine faszinierende Kriegerin. Noch dazu äußerst klug, gut aussehend und üppig gebaut. Doch ständig hatte sie Viviane spüren lassen, dass sie selbst klein, mager und nicht von hoher Geburt war.

Deswegen waren sie öfter aneinandergeraten, und irgendwann hätten sie sich wohl ernsthaft geprügelt, wenn sie in Vivianes erstem Jahr nicht zufällig beide krank geworden wären. Es war eine seltsame Krankheit – genauer, eine Trägheit – die sie tagelang ans Bett fesselte. Alle anderen Mädchen vergnügten sich draußen im Sonnenschein, sie jedoch lagen artig nebeneinander – zum gegenseitigen Zähne-Einschlagen fehlte ihnen schlichtweg die Kraft. Was konnten sie tun, bis es ihnen besser ging?

Der Erste, der von ihrem lauten Gekicher angelockt wurde, war Akanthus, und er freute sich, dass seine Medizin nun offenkundig wirkte. Viviane hatte ihn bis heute im Verdacht, für Krankheit und Genesung selbst gesorgt zu haben. Doch wie überraschte ihn sein eigener Heilerfolg: Viviane und Uathach waren seit ihrer Zwangsstilllegung unzertrennlich. Niemals wieder ein böses Wort oder eine böse Tat. Wenn die eine etwas nicht konnte, brachte die andere es ihr bei.

„Alles hervorragend erledigt“, gluckste Uathach, die nun unvermittelt vor Viviane stand.

„Ich bin höchst zufrieden mit dir, meine Kleine, und dafür geleite ich dich nun höchst feierlich zur Feststätte zurück.“ Kurzerhand zog sie Viviane vom Pferd, legte ihr strahlend den rechten Arm um die Schultern und rüttelte alles, was daran hing, kräftig durch.

„War also doch nicht umsonst, wie ich dich unter meine Fittiche genommen habe. All die Jahre voller Mühsal und Tobsuchtsanfälle …“

Uathach wischte sich ganze Sturzbäche imaginären Schweißes von der Stirn und stöhnte vor Anstrengung. Unvermittelt griff sie Viviane unter die Arme und hob sie mit einer Leichtigkeit an, als wäre sie aus Stroh.

„Ja, das hat sich wirklich gelohnt“, lachte diese und tänzelte mit den Füßen durch die Luft „Das fühlt sich prima an! Mach weiter!“

„Die Grashalme, die kitzeln?“

„Das Gras, der Südwind, das Kampfspektakel, die blaue Farbe … einfach alles!“

„Ach, und meine Kraft? Pass auf, du kleiner Grashüpfer!“

Uathach packte fester zu und zog Viviane noch höher, sodass sie weit über den Grashalmen schwebte und jauchzte: „Beim Geweih von Cernunnos, du bist das stärkste Weib! Ich bin so glücklich, dass du meine Freundin bist! Keiner fühlt sich heute so leicht und frei wie ich!“

„Das möchte ich meinen. Immerhin wirst du von einer zukünftigen Königin der Nebelinsel auf Händen getragen. Wer könnte das noch von sich behaupten?“

Fragend schauten sie sich an und prusteten gleichzeitig los.

Es gab tatsächlich niemand anderen, den Uathach jemals umhergetragen hätte. Sie trug nur ihren Stolz, ihre Waffen und manchmal eben Viviane. Das war ihr beider größtes Vergnügen, seitdem sie ihre Freundschaft entdeckt hatten, und Viviane vermutete, dass sie gerade deswegen umhergeschleppt wurde. Zum einen war Uathach fast zwei Köpfe größer, zum anderen war es wohl eine Art Wiedergutmachung für all die üblen Tage, die sie vorher miteinander durchlebt hatten.

„Ich könnte dich noch ewig so weiterschleppen! Doch halt, Seitenwechsel und Endspurt, jetzt wird gefeiert!“ Uathach sprang um Viviane herum und hob sie auf ihren linken Arm. „Ach, da kommt ja noch ein Helfer angestolpert! Da schaff ich’s vielleicht doch noch zum Met, bevor ich das Fass auslecken muss! Gib mal Rückenwind, kleiner Grashüpfer!“

„Ganz wie zukünftige Nebelkönigin wünschen!“

Lachend flatterte Viviane mit den Armen und Uathach trabte mit einer Leichtigkeit vorwärts, die selbst den entgegenkommenden Merdin zum Staunen brachte. Er verlangte aber dennoch, sie solle ihm die Hälfte abgeben und schob seine Hand unter Vivianes freigewordene Achsel. Nun konnte diese noch leichter und viel, viel höher durch die Luft sausen. Allerdings hing sie ein bisschen schief, weil Merdin ein winziges Stück größer war als Uathach und auch mehr Kraft hatte – beides wollte er gut sichtbar zur Schau stellen.

Die weise Schlange

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