Читать книгу Die weise Schlange - Petra Wagner - Страница 8

Langsame und schnelle Gegner

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Warme Sonnenstrahlen streichelten Hanibus Gesicht und zauberten ein zufriedenes Lächeln darauf.

Viviane musste unwillkürlich selbst lächeln. Sie lag schon eine geraume Zeit wach und bewunderte Hanibus ebenmäßige Züge, die hohen Wangenknochen, die kleine Stupsnase … die dunkelbraune Haut bekam durch die Sonne einen wunderbaren Schimmer, fast wie Perlmutt.

„Ich habe gerade von meinen zwei großen Brüdern geträumt“, seufzte Hanibu und gähnte ausgiebig. „Als Kinder haben wir oft Karthager gegen Römer gespielt. Ich war immer der Römer und wurde gefesselt. Was habe ich mich geärgert! Doch als ich älter war, habe ich mich aus den Stricken befreien können. Sie mussten mich jedes Mal einfangen.

Ich bin ein guter Läufer.“ Hanibu feixte und schaute durch das offene Fenster in die Sonne. Abrupt wurde ihre Miene traurig, sie presste die Lippen aufeinander.

Viviane dachte an ihre Brüder. Diese wilde Horde niemals wiederzusehen … Sie drückte Hanibu fest an sich und trällerte forsch: „Wer weiß schon, was die Zeit noch bringt! Eines Tages siehst du sie wieder und bis dahin, schicke ihnen deine Grüße mit Sonne, Mond und Sternen oder mit dem Wind! So, und jetzt fort mit allem, was drückt! Auf zum Abort!“

Nahe am Fluss zu leben, war ungemein praktisch. Man musste bloß einen Kanal aus Ton bauen, schon konnte man das Wasser umleiten, um seine Notdurft zu verrichten und sauber abzuleiten. Wer auch immer diese geniale Idee gehabt hatte – Viviane bedankte sich aufrichtig bei ihm; bei dem, der das Holzhäuschen darüber gesetzt hatte natürlich auch.

Es gab sogar zwei bequeme Holzsitze, so konnte man ein wenig plaudern.

Am Fluss hängten sie ihre Kleidung an eine sehr praktisch stehende Weide. Dann wuschen sie sich mit der Rosenseife von gestern, nur nicht so ausgiebig, und Hanibu lernte unter großen Mühen das Wort ‚Katzenwäsche‘. Nachsprechen konnte sie es schnell, es zu begreifen fiel ihr allerdings schwer, bis sie zufällig eine Katze entdeckte, die sich putzte. Kichernd trockneten sie sich mit den feinen Leintüchern ab.

Danach kämmte sich Viviane mit einem schön geschnitzten Holzkamm und zog exakt sechs Haare aus ihren üppigen Wellen. Nachdenklich betrachtete sie die spärliche Ausbeute.

Was war bloß mit ihr los? Wenn das so weiter ging, müsste sie für die Zahnpflege bald auf dünne Fäden zurückgreifen wie alle anderen, deren Haare dafür zu kurz oder zu schwach waren, oder sie müsste Haselnussgerten zurechtschneiden, um sich zwischen den Zähnen zu bohren.

Viviane zuckte mit den Schultern. Die Haare im Kamm waren zwar rar, aber dafür lang und kräftig. Sie gab Hanibu die Hälfte ab und zeigte ihr noch einmal, wie man sie zwirbeln musste, um ein prima Zahnseil zu erhalten. Hanibu hatte bereits am gestrigen Abend aufgepasst und zwirbelte geschickt drauflos; sie wusste auch noch, wie sie mithilfe eines winzigen Wolllappens die Zähne polieren sollte. Viviane hatte sogar einen neuen Putzlappen für Hanibu übrig und erklärte leichthin, solcher Kleinkram gehörte zur Grundausstattung eines jeden reisenden Hermunduren. Alte Lappen wurden stets ordentlich gewaschen und getrocknet, bevor sie wieder in die Gürteltasche für Waschzeug durften. Mundhygiene war sehr wichtig. Schlechter Atem war sogar ein Scheidungsgrund.

Hanibu wollte das kaum glauben, doch Viviane meinte es vollkommen ernst und beim Wetzen ihrer hintersten Backenzähne fiel ihr ein, dass sie es gestern Abend schlichtweg vergessen hatte – nicht das Zähneputzen, oh nein, das vergaß sie nie; den ultimativen Scheidungsgrund hatte sie außer Acht gelassen. Das musste sie schleunigst nachholen.

Viviane knickte einen Schilfhalm ab, schob mit dessen Hilfe den dichten Schilfbewuchs auseinander und spähte über den Fluss zu dem kleinen Häuschen. Hanibu begann, ihre Zähne ein zweites Mal zu polieren; sie wetzte, bis es quietschte, und schaute mit durch die Lücke.

Gleich neben dem Häuschen legte gerade die Fähre ab, voller Bauern, die wohl auf dieser Seite des Flusses die Felder bestellen wollten. Es war faszinierend, wie ein so breites und flaches Boot schwer beladen und trotzdem sicher über das Wasser gleiten konnte, wie es ihrer Badestelle immer näher kam. Zum Glück konnte von der Fähre aus niemand sehen, wie sie hier im Wasser standen, die eine mit nachdenklich geschürzten Lippen, die andere mit einem Lappen im aufgesperrten Rachen – ein dichter Schilfgürtel war eben ein prima Sichtschutz.

Abrupt wurde ihre Aufmerksamkeit zur Landseite gelenkt. Viviane und Hanibu rissen die Köpfe samt Putzlappen herum.

Loranthus und Angus steuerten gut gelaunt die Badestelle für Männer an, man hörte sie schon von Weitem.

Ohne lange nachzudenken, gab Viviane ihren Spähposten ‚Fähre‘ auf, bog ein Stück weiter die nächsten Halme auseinander und winkte Hanibu zu sich. Kopf an Kopf lugten sie durch den Spalt. Sie staunten beide nicht schlecht.

Gemächlich schlenderte Loranthus über die Wiese, die Daumen eingehakt in einem Ledergürtel, auf dessen Gürtelschnalle ein Stier eingraviert war; selbst auf den Gürteltaschen rechts und links war dieser Stier zu sehen, hier jedoch ins Leder gepunzt. Dazu trug er ein hellbraunes Hemd, eine gelb-grün karierte Hose und kniehohe Stulpenstiefel aus weichem Leder. Die Kleidung musste von Angus sein, denn er hatte eine ähnliche Statur, wenngleich er auch viel muskulöser war. Loranthus wusste wahrscheinlich gar nicht, wo sich seine Muskeln versteckten, trotzdem konnte er jetzt als Einheimischer durchgehen – falls er seinen Mund hielt. Eine Gans, die zu schnattern aufhörte, war allerdings wahrscheinlicher.

Viviane und Hanibu kicherten, denn gerade in diesem Moment hörte eine Gans mit dem Schnattern auf. Mit weit ausgebreiteten Flügeln zischte sie aus dem Uferschilf heraus, sie war eindeutig im Angriffsmodus. Loranthus hüpfte ängstlich hinter Angus, der kramte hastig in einer Gürteltasche und warf ein paar Brotkrümel. Besänftigt ließ sich die Gans wieder auf ihrem Nest nieder und Angus bedeutete seinem Hintermann, er habe nun kein Brot mehr, um ihn noch einmal zu retten. Loranthus sah jedoch kaum hin, er hielt die Nase in den Wind und schnupperte, dann komplimentierte er Angus ziemlich hastig im großen Bogen um den Brutplatz herum zur Badestelle der Männer.

Viviane und Hanibu wussten genau, warum er es mit dem Waschen plötzlich so eilig hatte. Vom Gasthaus wehte ein herrlicher Duft nach geröstetem Brot herüber. Verschmitzt grinsten sie sich an: Wie gut, dass sie längst sauber waren und ihre Kleidung griffbereit.

Genüsslich strichen sie Butter auf ihre warmen Brotscheiben und sahen zu, wie diese einsickerte, bevor sie Hagebuttenmarmelade daraufgaben und hineinbissen. Sie schafften es sogar noch, eine Schale Haferbrei mit getrockneten Apfelstücken und einen Becher Ziegenmilch zu leeren, bevor Loranthus ins Gasthaus stürmte, dicht gefolgt von Angus und Markus.

Wider Erwarten fiel Loranthus nicht sofort über das Essen her, sondern bedankte sich bei Markus und hängte einen dicken braunen Mantel an der Kapuze auf. Danach beäugte er die Getränke: Ziegenmilch in einem Holzkrug und frisch gerösteter Eichelsud in einer schwarzen Karaffe. Diese war mit einem tiefgehenden Relief aus Spiralen und einem Deckel aus Silber versehen, auf dem wiederum die Figur eines aufsteigenden Adlers, ebenfalls aus Silber, prangte.

„Das ist ja ein Meisterstück von einer Karaffe“, schwärmte Loranthus und seine Augen bekamen einen seltsamen Glanz. Begeistert klappte er den Deckel auf, schnupperte genüsslich und klappte ihn wieder zu. „Und dieser schwarze Ton erst noch! Die Farbe kommt von Grafit, das man dem Ton beimischt“, erklärte er den Anwesenden, die allesamt nickten, weil sie die Münder voll hatten. „Grafit macht Getöpfertes bruchsicher.

Selbst das tiefe Relief tut dem keinen Abbruch.“

Achtung heischend hielt er die Karaffe in die Höhe, damit alle gut sehen konnten. Er kam gar nicht auf den Gedanken, dass sich die Anwesenden mindestens genauso gut mit Töpferwaren auskannten wie er oder sich die Becher mit heißem Eichelsud füllen wollten. Nein, er fuhr die Rillen der vielen eingeritzten Spiralen mit dem Zeigefinger nach und wirkte fast wie hypnotisiert, bis sein Finger auf dem silbernen Deckel anlangte und über den kleinen Adler strich.

„Bei den Chimären, wie konnte ich das übersehen! Der hat ja Löwentatzen und einen Löwenschwanz!“ Ungläubig tippte er auf die Schwanzquaste.

„Daran musst du dich hierzulande gewöhnen, wir haben unseren eigenen Sinn für Kunst“, riet ihm Markus zwischen zwei Löffeln voll süßem Brei. „Kunst kommt von Können und wenn einer das Kunsthandwerk beherrscht, dann sind wir das.“

„Das kannst du glauben“, tönte der Wirt und warf sich so stolz in die Brust, als hätte er höchstpersönlich für den Adlerlöwen Model gestanden. „Er hat übrigens auch eine Löwenmähne, schau genau hin.“

Viviane butterte ihre dritte Scheibe Brot und nickte in Richtung der Burg.

„Die Karaffe ist nicht nur Kunsthandwerk, sie hat auch symbolischen Wert. Vor einiger Zeit haben sich zwei große Königshäuser vereint, das eine mit einem Löwen als Wappentier, das andere mit einem Adler. Seitdem ist dieser Adlerlöwe das Symbol von Aodhrix. Sein Clan wählt ihn jedes Jahr aufs Neue zum König, einstimmig wohlgemerkt. Er hat einfach alles, was ein guter König braucht.“

„Ach. Was braucht man denn so alles, wenn man König sein will in deinem Land?“

Viviane sah Loranthus geheimnisvoll an.

„Wissen, Weisheit und Gedenken.“

„Interessant.“ Loranthus nickte verständnisvoll – jedenfalls hatte er akustisch alles verstanden. Aber deshalb war er ja hier, um dieses rätselhafte Land zu erkunden. Sein Vater hatte allerdings keine Ratespiele im sprichwörtlichen Sinne gemeint, oder? So oder so, er musste sich erst einmal stärken. Gierig fiel er über alles her, was auf dem Tisch stand.

Viviane und Hanibu staunten, wie schnell er ihren Vorsprung wettmachte.

Gerade schaufelte er den dritten Nachschlag Haferbrei mit Apfelstücken in sich hinein, da deckte der Wirt den Nebentisch.

Neugierig reckte Loranthus den Hals und überlegte, was es wohl noch zu essen gäbe, auch wenn er ja eigentlich satt war – prompt verfehlte der Löffel seinen Mund und er musste hastig zuschnappen, um den süßen Brei noch zu erwischen – eine körperliche Meisterleistung, denn seine Augen ließ er nicht vom Nachbartisch.

Dort gab es zwar nichts zu essen, aber eine Auswahl an Schreibzeug – Loranthus wusste gar nicht, wie ihm geschah.

„So viele Schreibutensilien“, seufzte er glücklich und nun hielt ihn nichts mehr auf seinem Platz. Wie ein Adler stürzte er sich auf seine Beute – nein, eher wie ein Geier, schließlich war die Beute schon tot. „Pergament in drei verschiedenen Stärken und Farbnuancen! Ich fasse es nicht! Mit Punkten, mit gepunkteten Linien, ohne Punkte …“ Prüfend hielt er sämtliche Pergamentblätter der Reihe nach in die Höhe. „Beste Qualität und akkurat zugeschnitten. Sehr fein. Und diese Schreibgriffel erst noch! Dermaßen spitz!“

Fast ehrfürchtig griff er nach den Schreibgriffeln und besah sie sich genauer.

Der erste war ein dünnes Schilfrohr mit einer angeschrägten Seite.

„Damit kann man durchaus ordentlich schreiben.“

Der zweite war ein dünnes Kupferrohr, eine Seite ebenfalls schräg zugespitzt.

„Damit kann man noch besser schreiben!“

Der dritte war ein schlankes Röhrchen aus Silber und so spitz zulaufend, dass man damit nicht nur winzig klein schreiben konnte – man konnte es auch bewundern, denn es war von einem hauchdünnen, in sich selbst gewundenen Silberdraht umflochten.

„Das ist ja ein Kunstwerk, ein Meisterstück! Solch filigranes Schmuckwerk auf einem Schreibgriffel habe ich noch nie gesehen! Und er liegt prima in der Hand!“ Begeistert wirbelte er den Griffel mit den Fingern durch die Luft. „Oh, und diese hübschen bauchigen Tonfässchen!“ Ohne den silbernen Griffel aus der Hand zu legen, zog er die knubbeligen Holzpfropfen aus den Fässchen und lugte hinein. „Aha. Eines mit roter und eines mit schwarzer Tinte. Wieso?“

Fragend sah Loranthus in die Runde.

„Ist das in deiner Heimat nicht so?“, fragte der Wirt. „Die rote Tinte ist für die Ausgaben, die schwarze für die Einnahmen. Das gilt bei uns überall, nicht nur in Gasthäusern. Alle führen auf diese Weise ihre Finanzen; natürlich ist es am besten, wenn die schwarzen Zahlen größer sind als die roten.“

„Und ich dachte …“ Loranthus schob die Unterlippe vor, klemmte den Griffel zwischen kleinen Finger und Ringfinger und sein Kinn zwischen Daumen und Zeigefinger. Unschlüssig zuckten seine Augen zwischen den Tonfässchen hin und her.

„Wenn du nur schreiben willst, ist es natürlich egal, welche Farbe du nimmst“, versicherte der Wirt und machte eine einladende Handbewegung. „Ich habe von beiden genug. Suche dir einfach aus, was du brauchst, ich mache dir einen guten Preis und setze es mit auf die Rechnung.“

„Hast du noch mehr von diesem Honigfarbenen ohne Punkte?“ Loranthus hielt das dünnste Pergament hoch und strich fast liebevoll darüber.

„Ja, aber das ist fünfmal teurer als die anderen beiden zusammen.“

„Mir egal, diese Zeche bezahle ich gerne.“ Loranthus streichelte seinen Bauch. „Ich nehme alles, was du entbehren kannst und dieses Kunstwerk noch dazu.“ Strahlend wirbelte er den silbernen Griffel um die Finger, warf ihn von einer Hand in die andere und freute sich, wie hoch er fliegen konnte. „Und die Tinte nicht vergessen! Bitte auch so viel, wie du entbehren kannst, beide Farben, wenn möglich.“

Der Wirt eilte davon, alle anderen starrten auf Loranthus, der so zufrieden wirkte wie ein Kater, der eine besonders fette Maus gefressen hatte; vielleicht hätte der sich auch so den Bauch getätschelt. Rasch stopfte er sich seinen restlichen Brei in den Mund, kippte zwei Becher heißen Eichelsud hinterher und konnte sich nun voll und ganz um seine Belange kümmern.

Als der Wirt mit einem kleinen Stapel Pergamentblätter und vier Tintenfässchen zurückkam, war Loranthus schon eifrig mit dem Bericht für seinen Vater beschäftigt. Die Stirn gerunzelt und die Zunge zwischen den Zähnen, verschönerte er das honigfarbene Pergament mit griechischen Zeichen in roter Farbe.

Keiner konnte sein Geschreibsel lesen, was nicht unbedingt an der Entfernung, in der sie zu ihm saßen, sondern eher an der Geheimschrift lag, die er verwendete. Dennoch beobachteten ihn alle neugierig und überlegten, was er wohl schrieb, bis er laut mit der Zunge schnalzte und den Griffel resolut weglegte. Gerade hatte er sich selbst die Frage, ob er seinen Vater um neue Dokumente bitten sollte, mit ‚Nein‘ beantwortet und war nun früher fertig als gedacht. Sanft blies er über sein Geschriebenes und nickte zufrieden. Wozu sich eine Blöße geben? Bei seinen Beziehungen konnte er sich auf dem Heimweg in jeder römischen Schreibstube neue Dokumente ausstellen lassen.

Geschäftig griff er nach Kerze, Siegelwachs und seinem rechten Mittelfinger, doch an dem war kein Siegelring mehr.

„Nun, es wird auch anders gehen.“ Er gluckste, blies noch einmal über das Pergament und faltete gut gelaunt die Ecken übereinander.

Er war gerade dabei, einen dicken Klecks Wachs mit einer großen Goldmünze breit zu drücken, als die Tür aufging und ein Junge von vielleicht zwölf Jahren hereinkam. Seine hellbraunen Haare waren zu einem langen Zopf geflochten und sein schmächtiger Körper steckte in hellbrauner Arbeitskleidung, die, etwas zu groß, an ihm herumschlackerte.

Nachdem er die Wirtsleute liebevoll umarmt hatte, trat er an den Gästetisch und grüßte fröhlich in die Runde.

„Guten Morgen, ihr lieben Leute! Die Fähre ist sogleich bereit. Ich helfe euch gerne mit dem Gepäck.“

Automatisch grüßten alle strahlend zurück und Viviane verstand, warum die Wirtin derart von ihrem Neffen geschwärmt hatte. Sein freundliches Lächeln wirkte wahrhaftig wie eine Sonne am wolkenlosen Himmel und seine graublauen Augen verrieten eine Intelligenz, die ihresgleichen suchte. Obwohl seine Arme recht dünn waren, zeichneten sich unter dem Hemd starke Sehnen ab.

Leider war Viviane noch etwas aufgefallen: An seinem Hals befanden sich rot-violette Streifen, eindeutig Würgemale, noch dazu nahe am Kehlkopf; sie konnte sogar die Fingerabdrücke erkennen, die den Bluterguss verursacht hatten. Wie beiläufig zog er sein Hemd ein Stück höher und im Hinausgehen wollte er wohl auch verbergen, dass sein linkes Bein beim Auftreten schmerzte, doch ihrem geübten Blick entging nicht, wie er humpelte.

Die Wirtin brachte Loranthus noch seine und Hanibus frisch gewaschene Kleider und er streckte eine goldene Drachme in die Höhe, die Münze, die er statt seines Siegelrings benutzt hatte.

„Das ist eine Sonderprägung. Pures Gold wohlgemerkt. Ein alter ‚Ptolemaios der Dritte‘. Über zweihundert Jahre in Familienbesitz. Total wertvoll. Ein echtes Sammlerstück. Seht mal, wie schön sie funkelt!“

Loranthus fuchtelte mit der Goldmünze, die blitzte und blinkte, sodass jeder im Raum sofort wissen wollte, wie dieser ‚Ptolemaios der Dritte‘ wohl ausgesehen hatte. Mit großer Geste winkte Loranthus sämtliche Bewunderer heran und hielt tatsächlich die Münze still.

„Das ist doch viel zu viel“, jammerte der Wirt und raufte sich die langen Haare zur roten Löwenmähne. „Wie soll ich das bloß wechseln?!“

„Ach.“ Loranthus winkte gönnerhaft ab. „Gib mir einfach hiesige Stater. Hauptsache, es sind schöne Prägungen, ich sammle nämlich Währungen.“ Zur Demonstration schüttelte er seine rechte neu erworbene Gürteltasche, in der es fröhlich klingelte. Offenkundig hatte er bereits bei seinen anderen Geschäften mit Angus und Markus viel Wechselgeld erhalten. Die beiden nickten jedenfalls wie zur Bestätigung, und Markus wuchs regelrecht in die Höhe, als er Loranthus’ Brief entgegennahm.

„Der Handel gilt“, jauchzte der Wirt und kramte eifrig in seiner eigenen Gürteltasche nach einem Vollstater, bis ihm bewusst wurde, dass er gerade schüsselförmiges Gold gegen plattes Gold tauschen wollte – Loranthus hatte ihn mit seinem Gerede von der Sonderprägung ein wenig zu freigiebig gemacht. Schnell steckte er die große Goldmünze wieder weg und kramte nach Silber und Bronzemünzen, wobei sein Blick den seiner Frau traf.

„Ach, weil du so ein guter Gast bist und ich deine hübschen Begleiterinnen vielleicht sonst nie getroffen hätte …“ Der Wirt lächelte Hanibu an und verneigte sich tief vor Viviane. „… hast du hier noch einen Viertelstater und einen Vierundzwanzigstelstater extra dazu, lauter hübsche Prägungen, die dürften dir gefallen.“

Da es nun wieder etwas Neues zu sehen gab, scharten sich alle Neugierigen erneut um Loranthus.

Viviane wusste natürlich, wie die kleineren Stater aussahen, denn sie hatte insgeheim schon für sich selbst die Zeche bezahlt, und zwar mit denselben Statern, die nun in die griechischen Hände weiterwanderten. Schmunzelnd nahm sie die Hände der Wirtin in ihre und flüsterte: „Alles Gute wünsche ich euch und ein fröhliches, weiches Beltane.“

„Deinen Namen werde ich mir merken, Viviane, vielleicht brauche ich ihn eines Tages“, flüsterte die Wirtin verschwörerisch zurück.

Viviane grinste verschmitzt und hob die Hand zum Abschiedsgruß.

In Windeseile waren ihre Pferde reisefertig und standen nun als Erste auf den dicken Eichenbohlen der Fähre. Viviane freute sich über den staunenden Blick von Loranthus, als darauf auch die großen Fuhrwerke der Händler noch genug Platz fanden. Mit sicherer Hand machte der Junge die Taue los und stieß die Fähre ab. Viviane winkte ein letztes Mal in Richtung der Wirtsleute, dann schlenderte sie zu ihm hinüber.

„Deine Tante hat gesagt, dein Stiefvater würde die Fähre führen. Ich sehe ihn jedoch nirgendwo.“

Der Junge schnaubte verächtlich und schaute zu ihr hoch. „Der schläft da drüben unter der großen Weide seinen Rausch aus.“ Er hob den rechten Arm, zuckte zusammen und zeigte leicht verzögert auf einen Baum, der am gegenüberliegenden Ufer nahe der Anlegestelle stand.

Viviane überlegte, wie viele Schritte sie wohl vom Bootssteg bis zur Weide brauchen würde, vielleicht neunzehn oder zwanzig, höchstens zwei Dutzend. Sie konnte erahnen, wie der Junge hinter ihrem Rücken seinen rechten Arm vorsichtig an sich drückte. Ruhig drehte sie sich zu ihm um und schaute in sein verbissenes Gesicht. Sie musste sich ein wenig bücken, denn er war fast zwei Köpfe kleiner als sie.

„Wie ist dein Name?“

„Ich bin Usheen.“

„Usheen, sehr fein. Wenn du es einmal leid bist, kleines Hirschkalb, die Arbeit für einen Trunkenbold zu erledigen, kannst du eine Lehre in meinem Clan machen, im Clan des edlen Cernunnos. Unsere Gegend würde dir bestimmt gefallen. Auf dem Dietrichsberg befindet sich die beste Schule für Eisengießer und Schmiede weit und breit. Wir haben auch noch mehr Handwerkskunst zu bieten.“

„Das sehe ich!“ Usheen strahlte Viviane an. Begeistert zeigte er auf ihre Schuhe und ihre großen Ledertaschen.

„Wir sehen uns bestimmt zu Lugnasad. Bis dahin überlege ruhig mal. Alt genug bist du ja schon, denke ich.“

„Ich werde morgen zwölf Jahre.“ Stolz machte er sich gleich größer.

„Das passt ja wunderbar. Möchtest du beim Anlegen meine Stute halten? Sie heißt Dina und ist eine ganz liebe Freundin von mir. Ich müsste nämlich zuerst mit meinem Hengst ans Ufer. Er heißt Arion, und manchmal gebärdet er sich ein bisschen toll; nicht aus Bosheit, oh nein, aber er kann ganz schön bocken. Natürlich bekomme ich ihn stets gebändigt, jedoch sollten sich andere Leute keinesfalls in seine Nähe wagen. Keinesfalls, verstehst du?“

„Dein Hengst hat Allüren? Wirklich? Das hätte ich nicht gedacht.“

Zweifelnd sah Usheen zu Arion hinüber, der ganz ruhig dastand, als wäre er die Seefahrt gewöhnt. Allerdings war es wirklich nicht ratsam, einen Tritt von seinen langen Beinen abzubekommen. Die Aussicht, die Stute halten zu dürfen, war dagegen sehr verlockend; sie machte einen äußerst braven und wohlerzogenen Eindruck.

Freudig willigte Usheen ein und zeigte wieder sein Sonnenscheinlächeln.

Viviane lächelte zurück, ging um Dina herum und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Die Stute schnaubte, als würde sie antworten, und bekam prompt die lange silberne Mähne gestreichelt. Viviane nickte Usheen noch einmal dankend zu und stellte sich neben Arion.

Auch ihm raunte sie ins Ohr. Es sah beinahe so aus, als würde sie dem Hengst etwas erklären, fand Usheen, denn sie zeigte auf seinen Stiefvater neben der Weide und taumelte dabei nach links und rechts, dabei war die Werra heute ganz ruhig.

Der Hengst beobachtete sie sehr genau und – nickte?

Für einen Moment tauchte ein verschlagenes Grinsen in seinem Pferdegesicht auf. Usheen blinzelte heftig, Viviane hatte ihm eindeutig den Kopf verdreht. Seine Arbeit litt jedoch nicht darunter. Im Gegenteil, er wollte ihr beweisen, wie gut er sich als Fährmann machte. Besonders das Anlegen beherrschte er wie kein Zweiter, auch wenn ihm der rechte Arm mächtig wehtat. Mit flinken Fingern schlang Usheen die Halteleinen um die dicken Eichenpfosten und huschte hinüber zu Dina.

Viviane bedankte sich bei ihm mit einem hinreißenden Lächeln und führte Arion über den Anlegesteg; bereitwillig ging er neben ihr her, ohne das geringste Bocken. Am Ufer angekommen, sahen beide zurück, Viviane hob die Hand und schwenkte sie ein Stück herum.

Usheen wollte gerade den Gruß erwidern, da stellte sich Dina auf der Fähre quer und er wurde von ihr mitgezerrt. Doch niemand interessierte sich dafür, ob Dina nun den Ausgang blockierte. Die Männer schienen noch nicht einmal bemerkt zu haben, dass sie am anderen Ufer angelangt waren. Wie gebannt starrten sie allesamt auf Hanibu, die redete, mit ihren Armen seltsame Wellenbewegungen machte und ihre Hüften kreisen ließ. Anscheinend erzählte sie etwas sehr Spannendes und niemand dachte ans Aussteigen. Fahrgäste für die Rückfahrt waren auch nicht in Sicht. Usheen zuckte mit den Schultern. Er war es gewohnt zu warten. Umso besser konnte er nun Viviane hinterherschauen.

Entspannt ging sie vor ihrem großen Hengst her. Ja, beide schlenderten gemütlich über die Wiese Richtung Weidenbaum, als ob nun keinerlei Gefahr mehr drohte, kein Bocken, keine tollen Allüren …

Keine Gefahr? Was dachte er sich eigentlich?! In sieben, acht Schritten waren sie an der Weide! Usheen schlug sich die Hand vor die Stirn und riss den Mund auf. Am liebsten hätte er gebrüllt, das sei der falsche Weg, Viviane solle einen weiten Bogen machen, solle sich keinesfalls in die Nähe der Weide wagen, aber er wollte seinen Stiefvater nicht wecken. Der war noch viel gefährlicher als ein bockendes Pferd, zumal er mit Lang- und Kurzschwert bewaffnet war.

Unbewusst duckte sich Usheen hinter Dina und hoffte inständig, seine neue Freundin würde leise an der Weide vorbeischleichen; gleichzeitig beschlich ihn ein ungutes Gefühl – er verstand nicht, wieso sie sich zu ihrer vollen Größe aufrichtete und sogar den Hals reckte.

Viviane betastete ihre torqueslosen Hals und musterte den schlafenden Mann höchst aufmerksam.

Vor Jahren musste er einmal sehr stark und gut aussehend gewesen sein, doch jetzt war sein Gesicht aufgedunsen und seine Muskeln waren einer dicken Fettschicht gewichen. Das einzig Brauchbare an ihm waren seine beiden Schwerter, doch die würden ihm nicht viel nützen, da ihm mit jedem Schnarcher auch ein schaler Geruch entwich – halb verdauter Met. Es war einfach widerlich.

Am liebsten hätte Viviane die Luft angehalten, doch sie war bis auf sieben Schritte herangekommen, um etwas Besseres zu tun.

Leicht zupfte sie am Halfter und wirbelte ihren rechten Zeigefinger mit Schwung aufwärts – die Aufforderung zum ‚wilden Hengst‘, Arions Lieblingsspiel. Er spitzte sogleich die Ohren und stellte sich auf die Hinterbeine. Je mehr sie mit dem Finger dirigierte, desto mehr trat er mit den Vorderbeinen durch die Luft.

Grinsend tänzelte Viviane rückwärts und Arion steigerte sich zu Höchstleistungen, denn wenn sie hüpfen konnte, dann konnte er das schon lange. Beide hatten mächtig viel Spaß. Unter lautem Wiehern näherten sie sich dem Schläfer an der Weide.

Bei diesem Lärm drehten sich die Männer auf der Fähre nun doch um und erstarrten vor Schreck. Angus bewegte sich als Erster.

Fluchend sprang er zu Dina, packte ihr Halfter und wollte sie aus dem Weg zerren, doch es ging nicht. Die anderen kamen ihm zu Hilfe und zogen, schoben, drückten – Dina war stärker. Angus wollte unter ihr durch – Dina war schlauer. Sie konnte prima auf zwei bis drei Beinen die Stellung halten und zugleich ausschlagen, zuschnappen, mit dem Schweif peitschen und böse starren – Angus konterte mit Schimpfwörtern, die jedes standhafte Schlachtross beleidigt hätten, und starrte noch bockiger zurück.

Usheen fühlte sich genötigt, den Blick von Viviane zu lösen und beschwichtigend auf Angus einzureden, der nun todesmutig auf Dina klettern wollte – nur so konnte man an dieser „Furie von einer Mähre!“ vorbeikommen. Markus hatte gefälligst beim Aufsteigen zu helfen und wusste nicht, vor wem er mehr Angst haben sollte: Dina oder Angus.

Durch Zufall sah Viviane Angus’ gebleckte Zähne und hätte beinahe laut losgelacht, doch sie wollte Arion nicht durcheinanderbringen; sie war sich durchaus bewusst, was sie hier für ein gefährliches Spiel trieb. Diese speziellen Kunststücke hatte sie ihm nicht selbst beigebracht, die waren inklusive gewesen, als sie Arion geschenkt bekommen hatte.

„Brav, mein Großer, brav“, redete sie ruhig auf ihn ein. „Nun ist es gut. Komm wieder runter und … Schluuuss.“

Alle auf der Fähre seufzten erleichtert, als Arion gehorsam die Vorderbeine aufstellte, doch schon mussten sie wieder scharf Luft holen.

Arion stand zwar mit allen vieren auf der Wiese und war ruhig, aber nun taumelte Viviane rückwärts. Anscheinend hatte er sie angerempelt – ob mit Absicht oder aus Versehen, hatte keiner gesehen. Fakt war: Sie kippte in arge Schräglage, ruderte hektisch mit den Armen und griff mit fliegenden Fingern durch die Luft, als wollte sie sich selbst Aufwind verschaffen – prompt wieherte Arion los und trampelte so wild auf der Stelle, als fände er das zum Verrücktwerden komisch.

Bei dem irren Lärm, den er veranstaltete, wachte der Mann unter der Weide nun endlich, endlich auf und schielte schlaftrunken durch die Lider. Ehe er sich versah, stolperte Viviane rückwärts über seine Füße und brachte ihn zum Aufjaulen, da sie mit voller Wucht auf seinen Oberschenkeln landete, mit beiden Ellenbogen voran.

Arion ließ seine lange Silbermähne fliegen und stampfte noch ein letztes Mal auf, weil Viviane mit Daumen und Zeigefinger einen Kreis formte – das Zeichen für ‚gut gemacht‘. Das gab sie immer, wenn sie mit ihm zufrieden war. Wenn er gekonnt hätte, hätte er das Zeichen gerne zurückgegeben, denn auch sie war recht geschickt im Tollen – fast so gut wie er.

Tollpatschig drückte sie ihrem ausgewählten, gut gepolsterten Landeplatz die Ellenbogen nun in die Rippen. Ihre Hand rutschte über seinen Hals und würgte ihm die Luft ab, hastig riss sie die Finger weg und packte stattdessen seinen Unterarm … Sie rammte ein Knie in seinen linken Oberschenkel und schrammte mit dem anderen über das rechte Schienbein. Der Mann war währenddessen zu keiner Bewegung fähig, außer mit Händen und Füßen ein klein wenig zu zappeln. Und er konnte noch brüllen: „Run…ter v…on mir, du ver…dammtes W…eib!“

„Welch missliche Lage“, lallte Viviane und stammelte etliche, allesamt schlecht verständliche Entschuldigungen, weshalb die Lage weiterhin misslich blieb, obwohl sie sich ehrlich beeilte.

Kein Wort war gelogen. Sie beeilte sich wirklich, schön schmerzhaft auf die verschiedensten Stellen zu drücken, schließlich wollte sie wissen, wie kräftig ihr zukünftiger Gegner war, bevor sie sich ans Werk machte. Endlich ließ sie es gut sein und kam wieder auf die Füße.

Sofort stellte sie sich neben Arion, tätschelte seinen Hals und schmiegte ihre Wange an seine Mähne. Von dort konnte sie gut sehen, wie dem Mann mit frappierender Geschwindigkeit die Zornesröte ins Gesicht stieg.

„Das Fass ist voll!“, brüllte er und seine rechte Halsschlagader schwoll gefährlich an.

„Was soll die traute Zweisamkeit?! Erst wälzt du mich wegen dieser Schindmähre platt und jetzt lobst du das Biest auch noch?! Bist du schwachsinnig, Weib? Oder bist du so irre wie das Vieh hier? Ich mach der alten Mähre den Garaus! Jetzt auf der Stelle!“

Wild mit den Armen fuchtelnd versuchte er, sich hochzuhieven, und wälzte mit seinem Hinterteil das Gras unter der Weide platt. Das war das Einzige, was er ‚jetzt auf der Stelle‘ hinbekam; Viviane musste ihr Gesicht in Arions Mähne verstecken, bis sie es schaffte, mit dem Grinsen aufzuhören.

„Was? War? Das?“, fragte sie einen Atemzug später mit drohendem Unterton und drehte sich langsam zu dem Schreihals um. Gut sichtbar ließ sie ihr Mienenspiel von erstaunt zu beleidigt wechseln, blieb bei ‚was für ein Trottel‘ stehen und wählte dazu die passende Stimmlage.

„Das ist ein Hengst und keine Stute. Bist du betrunken, du da unten, oder kennst du den Unterschied nicht? Oder siehst du schlecht? In diesem Fall lass dir sagen: Mein Arion ist ein Guter. Ab und an bekommt er gern leichte Allüren. Aber – wie du sehen kannst, falls deine Augen doch was taugen – ich habe alles im Griff.“

Provokant grinsend hob sie die Hand mit den Zügeln und reckte das Kinn. Wie erwartet, versuchte sich der Mann nun wieder auf die Füße zu stemmen, was diesmal auch gelang. Allerdings dauerte es reichlich lange, weil seine Augen ständig den tödlichen Blick suchten und sich dabei in die Quere kamen. Schließlich hatte er es geschafft, sich in voller Größe vor ihr aufzubauen, und konnte sehr gefährlich geradeaus gucken. Bestens. Er war nur etwas größer als sie, dafür dreimal so breit und von oben bis unten angriffslustig, wie erhofft. Die Finger um seine Schwertgriffe gekrallt, schäumte er regelrecht vor Wut und sein Gesicht war eine einzige Grimasse. Seine wässrig-blauen Augen zuckten wie irre zwischen vielen roten Flecken – seine Nase war der größte davon.

Arion?!“, johlte er und spuckte ein bisschen. „Habe ich richtig gehört? Wie kann man so dumm sein und ein graues Pferd Arion nennen! Bist du betrunken oder kennst du den Unterschied nicht? Oder siehst du schlecht? In diesem Fall …“

Vivianes Augen wurden schmal. Sehr, sehr schmal.

„Willst – du – mich – beleidigen?! Du Rotnase, du Trunkenbold!“

Knurrend stemmte sie die Hände in die Hüften und trat an ihn heran. Jedes Wort betonend, fauchte sie: „Wer beim nächsten Lugnasad nicht mehr in den Maßgürtel passt, sollte keine großen Töne spucken. Ich an deiner statt würde weniger Met saufen und mich mehr bewegen, anstatt zu schlafen. Dann bleibt dir die Demütigung vor versammelter Mannschaft vielleicht erspart, du … du ranzige Speckschwarte!“

Angeekelt rümpfte sie die Nase und konnte gut erkennen, wie es in ihm brodelte. Sie musste ihm nur noch ein kleines bisschen mehr einheizen. Hochmütig warf sie die Haare zurück, drehte sich um und stolzierte mit Arion Richtung Ufer – gemächlich wohlgemerkt, sie wollte ja nicht im Wasser landen.

„Bleib stehen, du Furie! Steh, sage ich! Das wirst du mir büßen! Niemand beleidigt mich ungeschoren! Dreh dich gefälligst um, wenn ich mit dir rede, du hochnäsiges Weib! Du dürre Kuh! Du hässliche alte Meckerziege!“

Viviane hätte beinahe gekichert. Grinsend führte sie ihre Hände den Mantel hinauf zu der Stelle, wo die Filzwolle zusammengehalten wurde, nahe der linken Schulter, wie es für Rechtshänder günstig war. Ihre Finger tasteten über die große eiserne Fibel in Form eines Pferdes und sie dachte daran, wie ihr Vater diese Gewandschließe extra geschmiedet hatte, als sie von zu Hause wegging – damals, vor fast sechs Jahren. Mit einem Griff öffnete sie die Nadel und legte beides, Mantel und Fibel, auf den Sattel. Nun war sie bereit.

„Bleib“, befahl sie Arion und senkte bedeutsam den Zeigefinger. Abrupt drehte sie sich um, nahm ihre Beute ins Visier und ging langsam darauf zu.

„Du krakeelst wie ein alter Dachs mit Zahnschmerzen. Kein Wunder, wenn du sabberst.

Ja, guck dich an, wie du aussiehst … so gesund wie ein Fliegenpilz. Wisch endlich den Geifer ab, ist ja eklig.“ Viviane rümpfte die Nase und wedelte sich frische Luft zu. „Und wie du aus dem Maul stinkst … merkst du das nicht oder hast du keinen Putzlappen?

Bist wohl ein zahnloses Hutzelweib?!“

„Was bin ich?!“ Brüllend riss er sein Kurzschwert aus der Scheide und stieß nach ihrer Kehle. Bloß, da war nichts mehr zum Aufschlitzen.

Bevor er begriff, packte Viviane seinen Schwertarm, schlug ihm die Waffe ab und warf den Rest von ihm über ihre Hüfte. Dumpf landete er im Gras, doch zum Stöhnen blieb ihm keine Zeit. Viviane hielt immer noch seinen Arm umklammert und zog ihn übers Knie, ein grässliches Knacken ertönte und ein Schrei, der nichts Menschliches mehr an sich hatte.

„Sag ich doch, wie ein alter Dachs, jetzt allerdings mit Armschmerzen.“ Viviane trat zurück und wartete.

Dass er weiterkämpfen wollte, hatte sie nicht erwartet, aber sein Blick sagte genau das.

Natürlich war seine überschäumende Wut von Vorteil, sie durfte nur nicht seinen Kampfgeist unterschätzen. Sobald er sich auf die Beine gestemmt hatte und seinen nutzlos herabhängenden Unterarm befühlte, sprühten seine Augen förmlich Todesflüche zu ihr herüber. Wuchtig holte er mit dem rechten Bein aus.

In ihre Magengrube wollte er treten? Na, da musste er früher aufstehen.

Sie brauchte sich kaum bewegen, um sein vorstoßendes Fußgelenk zu packen und das dazugehörige Schienbein zu zerschmettern. Seitwärtsdrehungen mit Handkantenschlägen gehörten zu ihren Spezialitäten, egal in welche Richtung. Die Schlagtechnik hatte sie allerdings mit Holzstäben geübt, was mit einem echten Bein natürlich nicht zu vergleichen war. Das Wimmern des Mannes bezeugte das. Je höher sie das Bein hielt, desto höher fiepte er. Vielleicht hatte er nun endlich genug, und wenn nicht … Mit einem Fuß hangelte sie nach seinem Standbein und zog es weg. Er krachte auf den Rücken, krümmte sich seitwärts und würgte alles heraus, was sein Magen hergab.

Ihre Nase fand es widerlich, doch schnell geriet sie in ihren Arztmodus und fand es recht interessant, was er alles intus hatte. Met, Met und noch mehr Met klatschte ins Gras, dazwischen ein paar Brocken Fleisch, kaum verdaut. Zuletzt schwappte noch Kleinkram hinterher und … Blut? Wieso Blut? Sie hatte seinen Magen nicht mal angetippt! Beinahe hätte sich Viviane hinabgebeugt, um seinen Bauch zu untersuchen, doch sie konnte sich beherrschen.

Aus sicherem Abstand blickte sie auf den Mann herab, der jahrelang Frau und Sohn zusammenschlug. Sie hatte ihre Abscheu unter Kontrolle, ihr Atem ging ruhig.

Als er nicht mehr angriff, verbeugte sie sich knapp und wandte sich zum Gehen. Abrupt verharrte sie und lauschte.

„Du … bist tot“, röchelte er. „Du böses, hinterhältiges, rachsüchtiges Weib. Zu Lugnasad bringe ich dich vor Gericht. Dann werde ich als Gepeinigter die Strafe bestimmen und das Urteil ausführen. Wir beide, erst Schwertkampf, dann Ringkampf. Ich werde dich in Stücke hacken oder dir dein Genick brechen. Unabsichtlich, versteht sich. Darauf freue ich mich jetzt schon.“

Viviane zog die Augenbrauen hoch und drehte sich um. Hatte der Mann nicht begriffen, dass sie ihn hätte töten können, wenn sie nur gewollt hätte? Der hier war wohl von der besonders uneinsichtigen Sorte. Sie konnte sich gut vorstellen, was Usheen und seine Mutter unter ihm erleiden mussten.

Gemächlich kniete sie sich neben seinen heil gebliebenen Arm und sah ihm in die wässrig-blauen Augen.

„Du Narr. Du willst mich anzeigen? Du, der du mich vor so vielen Zeugen zuerst angegriffen hast?“ Demonstrativ schwenkte sie ihren Arm Richtung Fähre, wo alle Anwesenden völlig fassungslos zu ihnen herüberschauten. „Du hast dein Kurzschwert gegen meinen Hals gestoßen. Ich habe nicht mal ein Messer in der Hand. Aber kein Problem, wenn du es nicht lassen kannst … mein Name ist Viviane, Viviane Dar Arminius und Flora vom Clan des edlen Cernunnos. Merke es dir gut, denn ich werde zu Lugnasad da sein.

Ja, ich kann es kaum erwarten und garantiere dir einen ehrlichen Kampf, solltest du noch wissen, was das ist. Solltest du mich jedoch in irgendeiner Form hinterhältig überfallen, wo oder wann auch immer, mache ich Hackfleisch aus dir und nagele deine Ohren gut sichtbar an einen Pfahl gleich hinter deinen kopflosen Körper; das kostet mich keine Mühe. Ach, und übrigens …“ Sie griff nach seinem Kurzschwert, das unweit im Gras lag. „Meinen Siegespreis werde ich opfern, krumm gebogen wie Hermunduren das immer tun mit Waffen, die gegen sie erhoben werden. Aber was erzähle ich dir, du bist ja selbst ein Hermundure und wusstest, auf was du dich einlässt. Was du natürlich nicht wissen konntest – ich bin eine sehr, sehr eigenwillige Hermundurin und daher lasse ich mich nur einmal ungestraft beleidigen. Diese Chance hast du demnach vertan.“

Sie tätschelte seinen gesunden Arm, dann nahm sie den dazugehörenden Mittelfinger und knickte ihn kurz in die falsche Richtung. Schreien konnte er vor Überraschung nicht mehr, nur noch kraftlos hecheln.

„Damit du dich schön auf mich freuen kannst und deine Kräfte nicht an Wehrlosen auslässt; das tut man nämlich nicht als ehrbarer Krieger, Gatte und Vater. Ach, hier noch ein Rat: An Kampfgeist mangelt es dir nicht, aber dein körperlicher Einsatz – nun ja, wie soll ich es dir erklären – eine Schnecke bewegt sich geschmeidiger. Wenn du dich bis Lugnasad noch ordentlich trimmst, wird das von dir gewünschte Spektakel bestimmt lustig. Bis dahin!“

Viviane erhob sich und wollte gehen, da fiel ihr noch etwas ein und sie legte ihre Finger auf seine rechte Halsschlagader.

„Du solltest dir übrigens wirklich meinen ersten Rat zu Herzen nehmen“, murmelte sie und schob ihre Finger nun auf die linke Seite. „Höre auf zu saufen, sonst wirst du Lugnasad ohne mein Zutun nicht überleben, und damit meine ich nicht einen Kampf mit mir.

Entweder stirbst du an einem Magengeschwür oder dich trifft der Schlag. Je nachdem, wer diesen Kampf in deinem Inneren gewinnt, guckst du dir ein paar Monde früher oder später das Gras von unten an. Es sei denn, du nimmst endlich Vernunft an.“ Streng schaute sie ihm in die böse funkelnden Augen, doch auf eine Antwort hoffte sie vergebens.

Schulterzuckend ging Viviane zu Arion, der seinen Kopf leise schnaubend an ihren legte.

Beide schauten zur Fähre, wo Dina immer noch stur den Ausgang blockierte. Ein Pfiff durch zwei Finger – schon trabte sie los. Stürmisch war die Begrüßung zwischen ihr und Viviane, und auch Arion bekam ein paar Stupser ab.

Nun endlich konnten die Leute an Land. Sie waren mehr oder weniger bleich im Gesicht, nur Usheen war rot und verschwitzt.

In kindlicher Manier stürmte er auf Viviane zu, warf sich ihr an den Hals, so weit seine Arme hochreichten, und redete hastig auf sie ein: „Als der Hengst gebockt hat, habe ich gedacht, jetzt bekommt er diese Angstzustände, von denen du mir erzählt hast. Ich bin ganz ruhig geblieben und habe es den anderen erklärt, weil die nicht aus noch ein wussten vor lauter Sorge. Als du jedoch auf meinen Stiefvater gefallen bist, ist es auch mir ganz bange geworden. Er ist schlimmer als ein wütender Stier, musst du wissen, und ich wollte nicht, dass er dir wehtut, und …“

„Die Art, wie du dich aufgerappelt hast“, unterbrach Angus den Redeschwall und legte Usheen beruhigend eine Hand auf die Schulter, „das sah ziemlich komisch aus. Gestern Abend hatte ich nicht den Eindruck, du seist so ungelenk. Doch wie der Idiot dir hinterhergeschrien hat, war mir endlich alles so klar wie ein wolkenloser Himmel.“

Viviane hob die Augenbrauen und Angus lachte.

„Du hast gegrinst wie ein Breitmaulfrosch. Da war ich mir sicher, dass du den Mann mit Absicht schikaniert hast. Und ich muss schon sagen, ich bin total verblüfft. Deine Freundin Umia hat zwar viel von dir geredet, aber nie erwähnt, wie gut du kämpfen kannst.“

„Ich nehme das als Kompliment. Vielleicht auch den Frosch.“ Viviane schmunzelte und beugte leicht den Kopf. „Ich habe diese Art zu kämpfen erst gelernt, und ich habe dies auch gar nicht erwähnt, als ich kürzlich bei Umia weilte. Da waren wir zu sehr mit der Geburt ihres zweiten Sohnes beschäftigt. Der kleine Helge hat uns mächtig in Atem gehalten, aber letztendlich ist alles gut gegangen.“

Angus stutzte. „Ich bin wieder Onkel?! Ein Lütt?! Wieder ein Lütt!“ Er warf die Hände hoch und musste erst einmal einen Freudentanz aufführen.

Loranthus nutzte die Gelegenheit und trat an Viviane heran.

„Du bist eine ungewöhnliche Maid. Ich weiß, du bist eine Kriegerin, und ich habe gelesen, hierzulande würden die Weiber wie Männer kämpfen. Das an sich ist schon schlimmer als bei den Spartanern, aber mit so etwas hätte ich nie gerechnet. Das war spektakulär. Ich stelle mir lieber nicht vor, was Männer im Kampf anrichten.“

„Ich habe ein paarmal zugesehen“, warf Markus schüchtern ein. „Solch rasante Bewegungen hatte allerdings keiner zu bieten. Ich würde viel darum geben, wenn ich das auch lernen könnte.“

„So, jetzt bin ich wieder an der Reihe.“ Der grollende Unterton passte nicht so recht zu den strahlend blauen Schönwetteraugen von Angus. Er hatte sich beruhigt und sah Viviane streng an. „Nun will ich wissen, wozu das Spektakel gut war, schließlich hätte das auch anders ausgehen können.“

Diese Ermahnung erinnerte Viviane sehr an ihren Vater. Schmunzelnd legte sie einen Arm um Usheen und gab eine kurze Erklärung, dann sah sie den Jungen freundlich an.

„Nun kann deine Mutter ohne Angst die Scheidung bei eurem Druiden beantragen und in vier Monden, zu Lugnasad, ist sie wieder frei. Bis dahin wird dein Stiefvater gewiss keinen Schaden anrichten, er kann ihr nichts mehr tun. Das gilt auch für dich, mein lieber Freund.“ Viviane streichelte Usheen liebevoll über die geröteten Wangen und legte ihre Stirn kurz an seine, bevor sie ihm tief in die Augen sah. „Vor seiner Vergeltung seid ihr in den kommenden Monden sicher“, bekräftigte sie noch einmal. „Danach seid ihr beide frei.“

Usheen strahlte zu Viviane hoch und freute sich noch mehr, weil alle Umstehenden eifrig nickten. Angus schien jedoch an etwas anderes zu denken.

„Dein Arion … er ist etwa fünf Jahre alt, oder?“

„Genau. Zur Zeit der Pappel wird er fünf. Du hast ein gutes Auge für Pferde.“

„Er ist ein richtiger Schelm, viel Sinn für Humor. Guck mal, wie er mich mustert! Als hätte er jedes Wort verstanden.“ Gedankenverloren streichelte Angus die silberne Mähne und seufzte schwer. „Mein Urgroßvater ist vor fünf Jahren am Tag der Eiche gestorben.

Er war immer zu einem Scherz aufgelegt und der beste Geschichtenerzähler weit und breit. Er hat Pferde sehr geliebt. Als solch ein stattlicher Hengst wiedergeboren zu werden, das wäre eine besondere Ehre für ihn. Natürlich kann niemand sagen …“

Mitfühlend legte Viviane eine Hand auf Angus’ Schulter. „Keine Bange, mein Freund.

Ob dies hier nun dein wiedergeborener Großvater ist oder nicht, ich werde Arion immer ordentlich behandeln. Er wird es gut haben bei mir.“

„Wunderbar. Und jetzt wird es Zeit, den Fährmann zu entlohnen!“ Schwungvoll zückte Angus seine Geldtasche.

Bis auf Hanibu gab jeder Usheen eine kleine, gebogene Kupfermünze, nur von Viviane wollte er absolut nichts nehmen.

„Du hast mir und meiner Mutter einen unbezahlbaren Dienst erwiesen. Wir stehen tief in deiner Schuld.“

„Von Schuld will ich nichts hören, Usheen, mein Freund! Nutzt die Gunst der Stunde und beginnt ein neues Leben, dann habt ihr mir ein Gegengeschenk gemacht. Es ist schließlich meine Aufgabe, bedürftigen Menschen zu helfen.“

Usheen stutzte. „Es ist deine Aufgabe? Du hast gar einen Eid geschworen? Aber seit wann schwören Krieger, bedürftigen Menschen zu helfen? Ich meine, Krieger schwören einen Treueeid, ihren Clan und ihr gesamtes Königreich zu beschützen, das schließt ja sämtliche Menschen darin mit ein, direkt helfen jedoch … Was bist du genau in deinem Clan? Eine Kriegerin. Was noch?“ Lächelnd wiegte Viviane den Kopf und schaute so abwartend drein, als würde er gleich von allein darauf kommen.

Antwort suchend wanderte Usheens Blick von Viviane zu ihrem Gepäck und seine Augen weiteten sich überrascht.

„Was ist das für ein Schwertgriff?! Ich fasse es nicht, wie habe ich dieses Langschwert bloß übersehen können?! Natürlich, weil es in einer unscheinbaren Lederscheide steckt! Eine Schutzhülle, eine zweite Haut für alle Tage. Sehr stabil selbstverständlich, aber klobig und schmucklos – da schaut man nicht lange hin. Doch jetzt …“ Bittend deutete er auf die schlichte, armlange Lederhülle und den Griff, der daraus hervorlugte. „Darf ich es mir einmal ansehen?“

Viviane band das sorgsam verschnürte Schwert ab und reichte es ihm sehr langsam.

Ehrfürchtig prüfte er, ob er wirklich zwei ineinandersteckende Schwertscheiden aus Leder in Händen hielt. Er zog ein wenig an der äußeren, unscheinbaren, schob einen Finger in den Spalt, der sich nun auftat, und lugte hinein. Die innere Hülle war tatsächlich aus wesentlich besserem Leder, wie er bereits vermutet hatte, und sicherlich auch hübsch verziert. Usheen nickte zufrieden und vergewisserte sich mit einem raschen Blick zu Viviane hin, ob sie ihre Meinung noch nicht geändert hatte. Dann zog er ganz vorsichtig am Griff, und das Schwert glitt wie von selbst aus der inneren Scheide. Trotzdem hielt er nach dem ersten Stück inne. Er wusste, dass er es nicht weiter herausziehen durfte, denn das galt als Bedrohung eines Kriegers und er wollte Viviane keinesfalls zu einer Gegenhandlung nötigen. Im Gegenteil, er wollte sich des großen Vertrauens, das sie ihm hier offensichtlich entgegenbrachte, würdig erweisen. Das, was er entblößt hatte, reichte völlig, um seine Vermutung zu bestätigen: Zwei Drachen wanden sich um den Baum des Lebens, und es schien fast so, als ob sie Feuer spieen – just in dem Moment, da Sonnenstrahlen das Eisen trafen.

Geblendet riss Loranthus die Hände hoch, doch Usheen flüsterte gebannt: „Ich habe schon viel von diesen Schwertern gehört: Himmelseisen, geschmiedet von kundiger Hand. Es ist einfach wunderbar.“ Er strahlte zu Viviane hinauf. „Noch nie wurde mir eine so große Ehre zuteil wie heute durch dich. Danke, Viviane. Und Danke, dass ich dein Drachenschwert mit eigenen Augen sehen, mit eigenen Händen berühren durfte.“

Behutsam ließ er die Klinge wieder in die Scheide gleiten und es sah fast so aus, als würde er dabei einem Gesang lauschen, den nicht viele hören durften. Ehrerbietig ging er vor Viviane auf ein Knie und reichte das Schwert mit gesenktem Kopf zurück.

Selbst Angus und Markus gingen auf ein Knie und neigten demütig die Häupter; Hanibu machte es ihnen eilig nach.

Loranthus starrte auf seine Sklavin, starrte auf Angus, Markus, Usheen und verstand nicht, was diese unerwartete Achtungsbezeugung gegenüber Viviane bedeuten sollte. Natürlich war sie schön und klug, und sie konnte meisterhaft kämpfen; gerade eben hatte sie ihren Mut unter Beweis gestellt, um andere zu beschützen, aber zum ‚Auf-die-Knie-Gehen‘ reichte das nicht, jedenfalls nicht bei ihm. Es musste etwas mit dem Schwert zu tun haben.

„Nun ist es aber genug, hört bitte auf damit!“ Energisch zog Viviane Usheen hoch, verstaute das Schwert wieder im Gepäck und sah sich um, um zu sehen, ob jemand die Szene beobachtet hatte. Sie war rot geworden. Das hatte nicht mal der Kampf von vorhin bewirkt.

„Tut mir bitte den Gefallen und erzählt das keinem, besonders nicht dem da hinten, sonst verpassen wir zu Lugnasad die zweite Runde. Ich habe ihm schließlich Revanche versprochen.“ Sie deutete über ihre Schulter auf den Mann, der mittlerweile ohnmächtig im Gras lag. „Nehmt ihn bitte mit auf die Burg, damit sich die alte Wisora um ihn kümmern kann. Sie ist die beste Kräuterfrau hierzulande, glatte Brüche hat sie schon oft geheilt. Und richtet ihr bitte meinen Gruß aus, hab extra präzise zugeschlagen, wusste nämlich nicht genau, ob sie hier einen Arzt haben.“

„Ich bringe ihn zu Wisora. Ich habe noch etwas Platz auf meinem Wagen“, erbot sich Marcus, machte jedoch sogleich ein Gesicht, als ob er diese Zusage lieber wieder rückgängig machen würde.

„Ich danke dir, mein Freund. Er wird dir auch nichts dreckig machen; er blutet nicht und sein Magen ist auch leer. Ach, und sag Wisora noch, sie soll sein Magengeschwür behandeln, ist extrem akut. Am besten gibt sie ihm auch ein paar Tropfen zur Beruhigung, sein Blut muss ruhiger fließen. Und es tut mir leid, dass ich ihn so zurichten musste, aber er war selbst schuld. Nun gut …“ Viviane schaute von Markus zu Angus und hob die Hand zum Abschiedsgruß. „Ich wünsche euch erfolgreiche Geschäfte. Wir sehen uns sicher bald wieder.“

Die beiden nickten eifrig und grüßten zurück, dann machten sie sich an Markus’ Wagen zu schaffen, um die neue Fracht noch mit verstauen zu können.

Usheen trat an Viviane heran und sah treuherzig zu ihr auf, die Worte schienen ihm im Hals stecken geblieben zu sein. Sie nahm ihn einfach in die Arme. „Viel Glück wünsche ich euch und einen schönen Geburtstag.“

„Den werden wir haben!“, jubelte Usheen und rannte, hüpfte, sprang davon; das Gewicht stets nur auf das gesunde rechte Bein verlagernd und den rechten Arm fest gegen den Bauch gepresst.

Viviane schaute nachdenklich zu, wie er mit seinen dürren Beinen im weiten Satz auf der Fähre landete, ihr noch einmal winkte und mit seinen noch viel dünneren Armen den Sitz der Halteleinen überprüfte. Unvermittelt begann sie zu strahlen. „Er soll bald die schlimme Zeit verwunden haben“, murmelte sie vor sich hin. „Dafür werde ich sorgen.“ Ihr Blick glitt über die Wiese, wo Angus und Markus den Bewusstlosen mit sich schleppten, als wären sie drei Saufkumpane auf dem Heimweg. Schnaufend und schwankend holten die beiden Schwung und hievten den Mann in ihrer Mitte über den Wagenverschlag, wobei er mit dem Kopf gegen ein Weinfass stieß und blöde grinste. Angus und Markus schauten auf ihn herab, als überlegten sie, noch ein paar Fässer obendrauf zu stellen.

Viviane konnte nur hoffen, dass sie ihre Fracht ordnungsgemäß abliefern würden.

„Heute nimmst du die Zügel, Hanibu. Dina freut sich schon, von dir geführt zu werden. Nicht wahr, mein Mädchen?“

Dina nickte übermütig und Viviane machte mit.

Wie konnte Hanibu bei derart viel Überzeugungskraft Nein sagen? Zaghaft ergriff sie die Zügel. Viviane war ja bei ihr, es konnte also gar nichts schiefgehen. Sie war jedoch nicht nur aufgeregt, sondern auch sehr glücklich, weil Viviane ihr so viel Vertrauen entgegenbrachte.

„Sag mal, du schwarze Perle, wie hast du es eigentlich geschafft, dass die Männer das Anlegen der Fähre verpassen?“, fragte Viviane, nachdem sie ein Stück geritten waren und sie Hanibu nichts mehr erklären musste. Sie konnte das breite Grinsen zwar nicht sehen, aber sie hörte es aus Hanibus Antwort heraus.

„Das war einfach. Erst habe ich Markus gefragt, ob er ein Weib habe. Er meinte, ja, er wäre seit Kurzem verheiratet. Da habe ich gefragt, ob es bei ihnen in der Hochzeitsnacht auch so zugeht wie bei uns. Prompt wollten alle von mir wissen, was eine Äthiopierin in der Hochzeitsnacht mit ihrem Mann macht. Weil ich nicht alles auf Griechisch ausdrücken konnte, habe ich noch mit Gestik und Mimik dargestellt.“

„Oh, sehr schlau. Das hat sie bestimmt in deinen Bann gezogen.“

Hanibu nickte übermütig. „Besonders Markus war ganz fasziniert.“

„Kann ich mir vorstellen, du scheinst ihm zu gefallen. Aber was macht denn nun eine Äthiopierin in ihrer Hochzeitsnacht?“

Hanibu kicherte. „Erst tanzt sie und dann lässt sie die Sterne tanzen.“

„Sehr aufschlussreich.“ Viviane zog die Augenbrauen hoch. „Danke für die gute Ablenkung.“

„Gern geschehen.“

„Tut dein Arm heute mehr weh als gestern?“

„Ein bisschen mehr, ja.“

„Und deine anderen Blessuren?“

Statt eine Antwort zu geben, seufzte Hanibu und wiegte den Kopf.

„Man sollte rechtzeitig vorbeugen.“ Viviane streckte sich zu einem Weidenbaum, an dem sie gerade vorbeiritten, schnitt ein Ästchen ab und reichte es Hanibu. „Salix. Einfach drauf herumkauen, dann wird es mit der Zeit besser.“

Schweigend ritten sie an vielen Feldern entlang, die rechts und links vom Weg lagen, alle durch dichte Haselnusshecken voneinander abgegrenzt. Auf manchen wuchs Gras und Kühe, Ziegen oder Schafe weideten darauf, andere waren sauber bestellt, und auf einigen wurde noch die Saat ausgebracht. Egal, wo sie vorbeikamen – die Bauern winkten ihnen schon von Weitem zu.

Fröhlich grüßten sie zurück und Viviane rief ein lautes: „Guten Morgen!“

„Es ist wahrlich ein guter Morgen – gar nicht kühl wie gestern.“ Loranthus atmete genüsslich ein und hielt sein Gesicht in die aufsteigende Sonne, während er sich in seinen neuen dicken Mantel kuschelte und die Kapuze gegen seine Wangen drückte. „Aber warum sind die Felder so klein und von Hecken umgeben? Ist das ein Sonnenschutz für heiße Tage oder soll das Gestrüpp das Viehzeug abhalten?“

„Deine Denkweise ist nicht schlecht“, gluckste Viviane. „Vorrangig sind die Hecken wegen Bruder Wind da.“

„Dein Bruder? Wo?“ Loranthus hielt die Hand über die Augen, um Vivianes Verwandtschaft ausfindig zu machen.

„Nicht so ein Bruder. Bruder Wind. Der Wind, Loranthus. Verstehst du?“

„Ach der.“ Loranthus war tatsächlich ein wenig enttäuscht. Rasch verzog er sein Gesicht zu einem nachsichtigen Lächeln und nickte. Beinahe hätte er auch etwas über ‚keltische Denkweisen‘ gesagt, doch er konnte sich gerade noch rechtzeitig auf die Zunge beißen.

„Die Hecken dienen vorrangig als Erosionsschutz“, dozierte Viviane, als hätte sie einen sehr wissbegierigen griechischen Schüler vor sich. Natürlich hatte sie selbst noch nie einen kennengelernt, dieser hier war der Erste. „So kann der Wind den fruchtbaren Mutterboden nicht abtragen. Vielleicht hast du noch nie einen rauen Wind hierzulande erlebt, aber ich versichere dir, Bruder Wind kann eine immense Kraft entwickeln. Mit Leichtigkeit wirbelt er die Erde auf, dann landet die gedüngte Schicht irgendwo, wo sie uns nichts mehr nützt, und unsere Erträge fallen geringer aus.“

„Ihr düngt eure Felder? Ach so.“ Loranthus nickte eifrig.

„Natürlich halten die Hecken auch Wildschweine, Rehwild und Rotwild ab“, redete Viviane weiter und gab ihrer Stimme einen lobenden Unterton, weil er artig lauschte.

„Und wenn viele Haselnüsse an den Hecken hängen, kann man sich schon mal auf einen strengen Winter gefasst machen.“

„Ganz schön schlau, wie ihr in diesen rauen Landen zurechtkommt.“ Gönnerhaft begutachtete Loranthus noch einmal die Felder, dann widmete er sich den kleinen Dörfern am Fluss. Auch sie waren, genau wie das Gasthausdorf, von Hagebuttenhecken umschlossen und hatten Gehege für die Tiere. „Diese separaten Umfriedungen für das Vieh, warum bestehen die immer aus Hainbuchenhecken? Könnte man da nicht auch Haselnusssträucher pflanzen? Nussöl soll sehr schmackhaft sein.“

Viviane schmunzelte.

„In den Gehegen werden vorrangig Schafe und Ziegen untergebracht. Nun musst du wissen, Loranthus, dass Hainbuchen ihr Laub im Winter nicht verlieren. Es wird zwar dürr, aber es bleibt dicht und hängt ganz fest am Zweig, selbst bei heftigen Winden. So schützen die Blätter der Hainbuche unsere Tiere vor der gröbsten Kälte und im Frühling werden die neu sprießenden Blattknospen zur ersten Nahrung.“

Viviane deutete auf die nächstbeste Hainbuchenhecke, wo selbst auf Entfernung dürre Blätter neben frischen grünen zu sehen waren, und fügte noch an: „Natürlich schützen sie auch sicher vor wilden Tieren. Schau mal, wie dick das Geäst ist.“

Loranthus nickte bedächtig. Er schürzte die Lippen, tippte den Zeigefinger dagegen und stützte sein Kinn mit dem Daumen ab. Seine obligatorische Denkerpose – das wusste Viviane mittlerweile und freute sich, wie aufmerksam er rundum blickte.

Auch Hanibu sah interessiert hierhin und dorthin. Plötzlich zeigte sie zu einem Berg, der einen Wachturm auf seiner Kuppe hatte. „Da oben blinkt es seltsam!“

„Das sind bloß Lichtsignale, die sich die Wachtürme senden. Wahrscheinlich hat Aodhrix von uns erfahren und verteilt die Neuigkeiten jetzt von Warte zu Warte im ganzen Land.“ Loranthus machte ein verständnisloses Gesicht, und Viviane erklärte geduldig: „Die Wirtsleute gehören zu seinem Clan. Der Wirt ist garantiert einer seiner Krieger und muss nicht mal auf die Burg, um ihm über jeden Gast Bericht zu erstatten. Bestimmt hat auch er einen Spiegel. Auf diese Weise ist Aodhrix immer bestens informiert, was es Neues gibt, wer hier durchkommt und in welcher Absicht. Das ist wichtig zu wissen, besonders wenn man an der Grenze zu einem anderen Großkönigreich liegt. Natürlich kann ein Reisender überall ein Obdach bekommen. Ob bei Bauern oder Handwerkern, er wird immer gut bewirtet und untergebracht, aber auch dann erfährt der jeweilige König davon. In unserem Land bleibt nichts geheim. Wartberge haben wir genug, manche mit richtigen Burgen, andere bloß mit Wachtürmen wie diesem hier. Und offensichtlich hält Aodhrix etwas, das er erfahren hat, für so wichtig, dass er es mit Lichtgeschwindigkeit weitergeben muss.“

Amüsiert schaute Viviane dem hektischen Blinken auf dem Berg zu, dann betrachtete sie Loranthus von der Seite. Er befand sich wieder in Denkerpose und seine Gedanken standen ihm förmlich auf der Stirn geschrieben, dick unterstrichen und noch schneller zu lesen als Lichtsignale.

„Deine Räuber wussten das, garantiert. Sie müssen sich stets in Wäldern versteckt gehalten haben und sind nur nachts über offenes Gelände geschlichen, sonst hätten unsere Wächter Alarm gegeben. Von den Warten aus überblicken sie weite Gebiete. Die können dir heute schon sagen, wer morgen zum Abendbrot vorbeikommt.“

Beim Gedanken an den Überfall sackte Loranthus traurig in sich zusammen. Er war nicht nur einfach ausgeraubt, sondern auch noch seines standesgemäßen Transportmittels beraubt worden, und hier, eingequetscht zwischen den großen Taschen, gab er ein jämmerliches Bild ab, das wusste er.

„Ich schäme mich dermaßen …“ Unvermittelt setzte er sich gerade und gluckste: „Aber weißt du, Viviane, ich mache einfach aus der Not eine Tugend. Angefangen habe ich schon.“ Gut gelaunt wedelte er mit seinem neuen Mantel und deutete hinter sich. „Angus und Markus wollen sich ein bisschen umhören. Sie kennen viele Leute und kommen durch viele Gegenden, vielleicht hat jemand die Kutsche oder die Räuber gesehen.“

„Eine gute Idee! Sag mal, Loranthus, wart ihr eigentlich immer mit Händlern unterwegs?“

„Ja. Mein Vater gab mir diesen Rat. ‚Bleib stets und ständig unter Händlern‘, sagte er. ‚Das ist die sicherste Art zu reisen. Und wenn du keinen findest, der in deine Richtung will, dann wartest du eben, es eilt ja nicht.‘ Aber das letzte Stück im Chattenland waren wir allein, weil der Händler, mit dem wir gereist sind, auf den Vogelsberg abgebogen ist.“

„So, so. Ab dem Vogelsberg wart ihr also alleine unterwegs. Nun, diese veränderte Situation war wie gemacht für den Überfall.“

„Ja, hinterher kam mir das auch in den Sinn, doch gestern Morgen hatte ich überhaupt keine Bedenken gehabt. Die paar Meilen werden wir noch schaffen, habe ich gesagt. Alles war so friedlich …“ Seufzend ließ Loranthus wieder Kopf und Schultern hängen.

„Reiß dich zusammen! Wenn wir die Räuber erwischen, denken wir uns etwas ganz Besonderes für sie aus. Die werden nie wieder andere Leute überfallen.“

Loranthus lachte laut auf. „Bei Hermes, darauf freue ich mich jetzt schon!“

Schweigend ritten sie weiter und genossen die Wärme der Frühlingssonne. So ein schöner Tag mit Schäfchenwolken am Himmel und lauem Lüftchen – kein Vergleich zu gestern, als sich Regen, Schnee und sogar Hagel in kurzer Folge abgewechselt hatten. Nichts Ungewöhnliches hierzulande in dieser Zeit, in diesem Mond, wie Angus und Markus ihm versichert hatten, man musste sich eben dementsprechend kleiden.

Gedankenversunken strich Loranthus über seine neuen Kleider und beglückwünschte sich, zufällig eine prima Qualität ergattert zu haben. Die Wolle von Hemd und Hose war weich, das Garn ganz dünn, der Gürtel saß perfekt, die Stiefel waren bequemer als seine geraubten, und der Mantel erst noch – absolut dicht, da konnten Regen und Schnee von ihm aus noch mal kommen. Irgendetwas roch hier verführerisch … Fasziniert schaute er sich um.

Sie ritten neben einer schmalen Waldwiese, die über und über mit Veilchen bedeckt war, es duftete einfach wunderbar. Genüsslich atmete er die warme Luft ein, wollte den Blick schweifen lassen, wollte sich wohlfühlen … unruhig begann er jedoch, auf dem Sattel herumzurutschen.

„Kh, kh“, hüstelte Loranthus und blickte für Vivianes Begriffe ein wenig gehetzt drein. „Könnten wir hier rasten? Ich müsste mal kurz in den Wald.“ Betreten schaute er auf seine neuen Schuhe hinab und nestelte an seinem Mantel herum, um ihn abzustreifen.

„Natürlich. Wir warten hier auf dich.“

Warum er sich bloß für etwas derart Normales schämte? Kopfschüttelnd schwang sich Viviane über Dinas Hinterteil, breitete ihren Mantel auf dem warmen Gras aus und holte den Wasserschlauch von Arions Rücken. Sie füllte ihr Trinkhorn und reichte es Hanibu, die ohne ihre Hilfe und wie es sich gehörte abgestiegen war, erst danach trank sie selbst. Nebeneinander legten sie sich auf den Mantel und Hanibu bot ihren eigenen als Zudecke an, doch Viviane war es warm genug. Also zog Hanibu den dicken Wollstoff für sich allein bis unters Kinn und sah auf einmal sehr jung aus, wie sie da gen Himmel starrte. Viviane entging ihr ängstlicher Blick nicht.

„Das Wetter wird besser werden“, versicherte sie. „Schau, die Schwalben fliegen hoch!“ Welch eine Erleuchtung! Eigentlich wollte sie ja nur das Gespräch in Gang bringen und etwas um den heißen Brei herumreden.

Hanibu nickte seufzend. Sie vertraute Viviane, obwohl sie sich erst einen Tag kannten.

„Es ist schön hier. Anders als mein Land, aber es gefällt mir. Es ist bloß … ich habe etwas Angst vor den Menschen, davor, wie sie über mich denken. Ich sehe ganz anders aus als sie und noch dazu bin ich eine … eine …“

„Keine Bange, nur Mut. Du wirst sehen, meine Leute werden dich gut aufnehmen. Sei ganz zuversichtlich. In jeder Herde gibt es schließlich ein schwarzes Schaf, und jetzt haben wir endlich auch eins. Und was für ein niedliches Hanibeerchen!“ Viviane zwickte ihr neckend in die Nase.

Hanibu konnte gar nicht anders, sie musste lachen, und schon kicherten beide wie kleine Mädchen.

„Das mit dem schwarzen Schaf ist übrigens nicht böse gemeint, im Gegenteil. Es gibt wirklich meist ein oder zwei Schafe mit dunkler Wolle, während alle anderen helle haben, und …“ Viviane hob Achtung heischend den Zeigefinger. „Schafe sind enorm wichtige Tiere für uns. Sie bedeuten nicht nur Fleisch und Milch und Wolle, sondern sie stehen auch für Fruchtbarkeit. Und Fruchtbarkeit ist nicht nur wichtig, sie ist überlebenswichtig für uns. Nimm zum Beispiel unser erstes Mondfest im Jahr, Imbolg. Imbolg wird gefeiert, wenn die Mutterschafe nach dem langen Winter wieder Milch geben, weil sie bald ihre Lämmer gebären werden. Ein wahrhaft frohes Ereignis. Vielleicht werde ich später auch mal als solch ein niedliches, flauschiges Lämmchen wiedergeboren – oder du, wer weiß? Stell dir vor, Hanibeerchen: Du und ich auf der Weide als Schafe, wie wir genüsslich den Löwenzahn kauen. Und was für eine Wolle wir abgeben würden! Daraus macht meine Mutter die feinsten Kleider in Schwarz-Weiß. Na, wohl eher Dunkelbraun-Milchweiß, aber egal, jedenfalls könnte man darauf prima Fidchell spielen. Ich höre schon die Rufe der Händler: ‚Fidchell spielen, wann immer ihr wollt! Ob Sommer oder Winter, leicht und luftig oder dick und wärmend!‘“ Übermütig tätschelte Viviane ihren Mantel. „Aber erst mal müssen wir zwei ganz viel Löwenzahn kauen, bis es uns aus dem Maul hängt! Guck, so, ich mach mal vor!“ Kopfüber stürzte sich Viviane ins Gras.

Hanibu quietschte vor Vergnügen.

Laut blökend verspeiste Viviane ein riesiges Büschel Löwenzahn – natürlich nicht wirklich, die Blätter waren für ihren Geschmack zwar zart genug, aber sie hatte auch ein paar Stängel erwischt; daher musste sie prusten und spucken, bis sie das Grünzeug wieder aus dem Mund bekam. Nebenbei wischte sie sich eifrig Lachtränen aus den Augen und freute sich über den Erfolg von so viel Blödsinn, denn Hanibu japste und schnaufte vor Lachen, und auch sie selbst musste tief Atem schöpfen, um sich wieder zu beruhigen.

Mit einem Ruck saß Viviane gerade und sog noch einmal prüfend die Luft ein.

„Riechst du das auch?“

Hanibu schnupperte. „Ich rieche nur Wiese. Was meinst du?“ Sie sah sich um und rückte dichter an Viviane heran.

„Es windet wie Wildschwein.“ Viviane steckte den Zeigefinger in den Mund, hielt ihn in die Luft und zeigte zum Waldrand. „Das kommt eindeutig von dort, wo Loranthus verschwunden ist.“

„Du gibst auch einen prima Hund ab, wenn es mit dem Schaf nichts wird“, gluckste Hanibu.

„Ich mach keinen Quatsch, es ist sehr ernst, Hanibu. Wildschweine flüchten zwar lieber, wenn man ihnen zu nahe kommt, aber die Sauen haben jetzt gerade Nachwuchs. Da kennen die weder Freund noch Feind und greifen an.“

„Du meinst, sie könnten Loranthus töten?!“ Hanibu schlug die Hände vor den Mund.

Viviane sprang auf und befahl: „Du bleibst bei den Pferden. Wenn etwas schiefgeht, steigst du auf Dina und reitest, so schnell du kannst. Sie kennt den Weg, Arion wird ihr folgen.“

„Was meinst du mit ‚schiefgeht‘? Was hast du vor?!“

„Erstens: Wenn die Sau in deine Richtung läuft. Zweitens: Ich werde Stachelbeere suchen.“

Hanibu verstand nicht ganz, doch Viviane rannte schon und so musste sie selbst eins und eins zusammenzählen. Rasch hob sie die Mäntel auf, stellte sich zu den Pferden und schaute Viviane nach, die zwischen ein paar Büschen verschwand.

Ohne den Blick von dieser Stelle zu lassen, wickelte sich Hanibu in ihren Mantel und versuchte, ihn mit der Fibel zu fixieren. Es gelang ihr erst beim dritten Versuch, die Nadel durch den dicken Filz zu stechen und festzuklemmen, ihre Finger zitterten. Jetzt war sie ganz allein in einer fremden Welt und sie konnte nur eines tun: ihren uralten Gott, Sama, bitten, Viviane und Loranthus wohlbehalten zurückzuschicken.

Inbrünstig presste Hanibu die Fäuste an ihre Lippen und rief ihn an, denn wenn einer ihre Bitte erhörte, dann ‚der Hörende‘ selbst. Um sich selbst hatte sie keine Angst. Sie konnte mit den Pferden fliehen. Aber was wollte ihre Freundin tun, wenn die Sau auf sie zukam?

Viviane bewegte sich gegen den Wind, denn Wildschweine konnten bestens riechen, auch wenn sie nicht besonders gut sahen. Sie hingegen tat sich gerade mit beidem schwer; im Wald war es viel komplizierter, dem Geruch zu folgen und gleichzeitig nicht über Loranthus zu stolpern. Mit seinen neuen Kleidern in Braun und Grün-Gelb war er zwischen all den sprießenden Bäumen und Sträuchern und dem alten Laub auf regenfeuchtem Boden bestens getarnt. Obwohl, so weit konnte er eigentlich nicht gegangen sein, schließlich hatte er es eilig und dürfte sich hinter den erstbesten Sichtschutz gehockt haben.

Argwöhnisch fuhr Viviane herum und musterte den Waldrand, dann ging sie weiter und lugte hinter jeden Busch, jeden dicken Baum, bis sie zu extrem dichtem Unterholz kam. Vor diesem Gestrüpp hätte Loranthus garantiert haltgemacht, doch als Unterschlupf, als Kessel für Frischlinge, war es geradezu ideal.

Leise postierte sie sich hinter einer alten Eiche, kniff die Augen zusammen und spähte ins Zwielicht.

Die Sonnenstrahlen schienen mit den spärlichen Blättern zu tanzen, sanft wiegten sich Gräser im Wind, Bienen summten von Blüte zu Blüte, ganze Teppiche von Waldmeister und Buschwindröschen bedeckten den Boden. Die Düfte waren derart intensiv, dass sie sogar den überdeckten, der ihr wichtig war.

Sorgfältig prüfte sie noch einmal die Windrichtung, bevor sie weiter schlich. Es ging einigermaßen, im Gegenwind zu bleiben und regelmäßig den Geruch zu kontrollieren – zu dumm nur, dass sie vergessen hatte, den Wasserschlauch abzuhängen. Nun musste sie ihn fest an sich pressen, damit es darin nicht gluckerte.

Abrupt blieb Viviane stehen. Der Geruch nach Wildschwein wurde stärker. Sehen konnte sie noch nichts, aber das war gut für ihren Plan.

Bedächtig öffnete sie eine ihrer vielen Gürteltäschchen, fischte eine Holzdose heraus, zog sie auseinander und kippte einen grauen Flaum heraus. Diesen knautschte sie ein wenig in der Hand, während sie im Bogen weiterging, sich in den Wind hinein bewegte … sachte, ganz sachte, bis er von hinten kam und der Flaum in ihrer Hand vom Sog ergriffen wurde. Rasch knautschte sie ihn stärker, hielt ihn in den Wind und schaute sich nebenbei um.

Drei Schritt rechts von ihr ragte eine Hainbuche in die Höhe, zehn Schritt vor ihr ein wild wucherndes Himbeergestrüpp. Falls die Sau wider Erwarten dort herausbrechen sollte, musste sie schnell sein; die Hainbuche war nicht ideal, sah aber recht stabil aus.

Natürlich hoffte sie, dass dieser Notfall nicht eintreten würde.

Sanft strich sie über den grauen Flaum, zerpflückte ihn leicht, blies hinein, lauschte, bewegte den Arm auf und ab, blies wieder in den Flaum, lauschte, bewegte den Arm … Es schnaubte hinter dem Gestrüpp.

Die Sau schnaubte lauter, schnüffelte, grunzte, dann rannte sie quiekend davon. Zum Kessel mit ihren Jungen, da war sich Viviane sicher, aber die Himbeeren vor ihr waren einfach zu dicht, um es zu sehen. Also wartete sie noch eine Weile und horchte.

War da nicht ein leises Wimmern? Es hörte sich nicht wie Wildschwein an. Zielsicher lief sie los und schlängelte sich mit erhobenen Händen durch die Hecken; es ging leichter als gedacht.

Kurz darauf stand sie vor einer lang gestreckten Lichtung mit weichem Bärenfellgras, Wiesenblumen und einem Bach, der sich um große Steine wand und voll schillernd bunter Kiesel war. Sein Plätschern hatte etwas Besonderes, fand Viviane, es hörte sich fröhlich an, vergnügt. Auf der anderen Seite wiegte sich ein junger Birkenhain im Wind, seine Blätter raschelten leise und schimmerten grün-golden in der Sonne; sie hatten etwas Beschauliches an sich, etwas Ruhiges, Friedliches.

Hier war ein Ort, wo Feen lebten, mit Sonnenstrahlen um die Wette flogen, auf Flusssteinen tanzten, in Blütenkelchen ruhten und nachts im Mondlicht badeten. Verträumt steckte sich Viviane eine Handvoll Gänseblümchen in den Mund und sah sie vor sich, die Feen, wie sie durch die Lüfte schwebten auf zarten Flügeln mit seidigem Schimmer in wundervoller Farbenpracht. Fröhlich flatterten sie von Blüte zu Blüte, tranken Nektar und …

„Ist das wahnsinnige Vieh weg?“, blökte ein Schaf und rupfte an einem azurblauen Vergissmeinnicht, auf dem sich gerade eine Fee mit zitronengelben Flügeln sonnte.

Viviane zuckte zusammen, hob den Kopf und schüttelte ihn verwirrt. Nun hatte sie so einen schönen Tagtraum gehabt, bis dieses blökende Schaf aufgetaucht war und alles zerpflückt hatte. Vom wundersamen Feen-Volk war nichts mehr zu sehen, aber wenigstens waren die schönen Blumen noch da. Das Schaf seltsamerweise auch.

„Ich habe gefragt, ob die irre Sau weg ist, Viviane!“, blökte es noch lauter, diesmal vom Birkenhain aus. Das Schaf, genauer, Loranthus, hockte hoch oben auf der dicksten Birke und spähte ängstlich durch die Blätter. Viviane fragte sich tatsächlich für einen Moment, ob sie immer noch träumte. Sie musste sich erst einmal die Hand vor den Mund halten, um ein Kichern zu unterdrücken, bevor sie ihm antwortete. „Du kannst dich runtertrauen, die kommt so schnell nicht wieder.“

„Na, hoffentlich.“

Vor sich hin grummelnd hangelte Loranthus von Ast zu Ast und baumelte eine Weile am untersten, bis er endlich losließ. Ächzend landete er im weichen Gras drei Handbreit unter sich.

Viviane schlug die Hände vors Gesicht und unterdrückte einen Hustenanfall, während Loranthus mittels der Steine über das Bachbett trippelte; sie beobachtete ihn genau durch die Finger hindurch. Er hatte etliche Kratzer an Händen und Gesicht, sonst sah er den Umständen entsprechend gut aus und konnte sich auch recht geschmeidig bewegen.

„Ich habe schon gedacht, die geht nie mehr weg“, murmelte er verlegen, kaum stand er bei ihr. „Aber mit einem Mal hat das wilde Vieh ganz seltsam geschnüffelt, den Kopf umhergeworfen und ist davongerannt wie auf der Flucht.“

Loranthus richtete sich zu seiner vollen Größe auf und Viviane konnte einen Anflug von Genugtuung aus seiner Stimme heraushören: „Ich habe noch gar nicht gewusst, wie grandios ich sprinten kann. Urplötzlich stand diese Sau vor mir und scharrte mit den Hufen. Da haben sich bei mir sämtliche Nackenhaare aufgestellt und ich bin gespurtet wie Herakles bei Olympia. Meinen Sprung übers Wasser hättest du sehen sollen! Allerdings habe ich auch nicht gewusst, wie schnell eine Sau rennen kann. Zum Glück habe ich diesen Baum gesehen, also bin ich hochgesprungen und geklettert. Ich bin noch nie auf einen Baum gestiegen, schon gar nicht dermaßen rasant.“

„Das hast du gut gemacht.“

„Ja, das sehe ich auch so. Oryeithai!“

Viviane verstand nicht ganz. Nun hatte sie ihn ordentlich gelobt, und kaum hatte er sich in Pose geworfen, schaute er unglücklich drein. Ja, er begutachtete mit wachsendem Entsetzen seine Erscheinung, dabei waren die paar Schrammen eher harmlos, auf dem rechten Handrücken befand sich die einzig klaffende Wunde.

Auffordernd streckte sie ihm den Wasserschlauch hin und wie erwartet begann er gierig zu trinken.

„Diese Blessuren“, sie zeigte auf sein Gesicht und die linke Hand, „da brauchst du bloß Spucke drauf machen. Einzig dein rechter Handrücken sieht schlimm aus, da ist besonderer Schutz notwendig. Am besten auf den Schnitt urinieren, jetzt sofort! Oder hast du das schon erledigt?“

„Was?!“ Hastig überprüfte Loranthus den Sitz seiner Hose und jammerte: „Das wollte ich gerade tun, als es hinter mir so seltsam knackte. Mir kam es vor, als ob mich jemand beobachtet. Da habe ich meine Hosen lieber wieder hochgezogen, um woandershin zu gehen. Aber da stand auch schon dieses Riesenvieh vor mir und ich vergaß, was ich eigentlich vorhatte. Nur eines wusste ich: Die würde mich umbringen, falls sie mich zu fassen bekäme! Das habe ich in ihren Augen gesehen!“

Loranthus betrachtete seinen anderen, nur leicht zerkratzten Handrücken und schnaufte schwer.

„Wegen des Biestes habe ich mir einen Fingernagel abgebrochen! Nein, vier! Ganze vier Stück!“

Eilig knabberte er am ersten verunstalteten Finger herum und schimpfte nebenbei über Wildschweine im Allgemeinen und irre Sauen im Besonderen.

Viviane staunte, wie lange er jammern und auf seinen Zeigefinger beißen konnte. Was für ein Aufwand wegen vier Nägeln, wo ihm doch noch viel mehr hätte abbrechen können.

„Oh, du armer kretischer Stier! Deine Hufe sind eingerissen? Mach nicht so viel Muh und Mühe, deine Leiden sollen auf wundersame Weise enden“, sang Viviane die zweite Stimme in seinem Gejaule und kramte in einer ihrer Taschen. Mit übertriebener Verbeugung überreichte sie ein schmales Kupferplättchen, das vorne eine spitze Kerbe hatte.

„Perfekt!“, jauchzte Loranthus und riss ihr das Teil fast aus der Hand. Sofort schabte er damit hoch konzentriert über seinen Fingernagel. „Dein Nagelschneider ist sehr scharf, ich danke dir, aber …“ Er legte seinen Kopf schief und schaute sie von unten her an.

„Ich werde das Gefühl nicht los, dass du dich über mich lustig machst.“

„Da trügen dich deine Sinne nicht, denn ich werde das Gefühl nicht los, dass du gar nicht begreifst, wie viel Glück du eigentlich hattest.“ Vivianes Hand zuckte verächtlich zu den Schrammen. „Die paar Blessuren sind kaum der Rede wert, du jedoch lamentierst wegen abgebrochener Fingernägel, als sei jemand gestorben! Was meinst du? Ob du noch jammern könntest, wenn sie dich erwischt hätte?“

Betreten schaute Loranthus auf seine Hände, wo ihn noch drei weitere Nägel zu besagtem Jammern animierten.

„Deinen Spott habe ich wohl verdient“, gab er zu und sah fest in Vivianes Augen, damit sie nicht mitbekam, wie er so rasch wie möglich die anderen Nägel bearbeitete. „Ich bin nie besonders agil gewesen. Ich habe eine sehr angesehene Schule durchlaufen und die Bücher meines Vaters studiert. Mich körperlich zu betätigen, ist mir gar nicht in den Sinn gekommen, höchstens, wenn ich musste, wie in der Schule. Sobald ich alt genug war, habe ich meinen Vater auf seinen Handelsreisen begleitet. Ich habe viele Orte kennengelernt, viele Menschen. Ergo hatte ich stets adrett auszusehen, eben vorzeigbar. Was meinst du, was ein Handelspartner von meinem Vater gedacht hätte, wenn ich auch nur ein winziges bisschen schäbig gewesen wäre oder gar gestunken hätte vor lauter Schweiß wie ein ranziger Ziegenbock! Wir sind eine uralte und sehr bedeutende Händlerdynastie!“

Loranthus merkte, wie er sich in Rage redete; den Nagel vom kleinen Finger hatte er schon viel zu kurz geschoren. Außerdem schien Viviane nicht besonders überzeugt. Er holte tief Luft und fuhr nun ruhiger fort: „Nun gut, ich merke, dies ist kein triftiger Grund für dich. Du bist wesentlich anders als ich. Noch so jung und trotzdem allem gewachsen. Du bist bestimmt als kleines Kind schon auf Bäume geklettert. Du kannst mir wirklich viel beibringen, Viviane.“ Mit seinem besten Hundeblick schaute er bittend zu ihr auf.

„Na, das Auf-Bäume-Klettern überlasse ich gerne meinen Brüdern, die haben mir das schließlich auch beigebracht.“

„Du hast Brüder?“ Loranthus bekam ganz große Augen. „Ich habe mir auch immer welche gewünscht, aber meine Mutter hat nur mich bekommen und dann ist sie gestorben. Damals war ich gerade elf Jahre. Mein Vater vermisst sie immer noch sehr.“

„Oh weh, das tut mir leid, mein Freund.“ Mitfühlend tätschelte Viviane seinen Arm und zog ihm nebenbei den Nagelschneider aus den Fingern. „Meine Brüder werden dich gern unter ihre Fittiche nehmen. Allerdings befürchte ich, du wirst bald froh sein, keine gehabt zu haben, wenn du so derart ruhig und behütet aufgewachsen bist wie niemand sonst, den ich kenne.“

„Ach, da fällt mir ein …“ Loranthus druckste verlegen herum. „Wie bist du eigentlich so schnell darauf gekommen, dass ich ein Grieche bin?“

„Na, das ist doch klar wie ein Gebirgsbach, ich habe dich gehört. Jemand, der in Griechisch mit sich selbst redet, kann ja schlecht ein anderer sein als ein Grieche, oder? Außerdem …“ Viviane hätte nun sagen können, dass sie Loranthus bereits kannte und ihn für einen harmlosen Händler hielt. Doch sie war sich dessen noch nicht ganz sicher. Sie traute den Römern durchaus zu, auf die Mitleidstour einen Spion bei den Hermunduren einzuschleusen; noch dazu einen echten Griechen, der diese Aufgabe – warum auch immer - bewerkstelligte. Im Hinblick auf den zu erwartenden Krieg zwischen Chatten und Hermunduren wäre das schlichtweg eine geniale Idee, die sie persönlich als ‚leicht durchführbar‘ bezeichnet hätte. Immerhin wäre sie selbst der beste Beweis, wenn es sich so verhielte, denn gestern hatte sie Loranthus bedenkenlos unter ihre Fittiche genommen und heute nahm sie ihn mit nach Hause. Womit sie wieder am Anfang ihrer Gedanken war: Sie traute es Loranthus zwar nicht zu, doch sie vertraute ihm auch nicht wirklich. Es war an der Zeit, ihm ein wenig auf den Zahn zu fühlen, daher zeigte sie in weite Ferne gen Westen. „Außerdem erkennt man es an deiner Wortwahl.“

„An meiner Wortwahl?“

„Ja, Loranthus. Du sagst ‚Galatai‘ oder ‚Keltoi‘, wie schon die alten Griechen vor langer Zeit. Die Römer sagen mittlerweile ‚Germanen‘ zu unsereins. Die sind nämlich an guter Nachbarschaft interessiert, jedenfalls offiziell. Die würden niemals darauf hinweisen, dass wir den gleichen hellen Teint aufweisen wie die Leute in den besiegten Gebieten links vom Rhein oder wir allgemein höher gewachsen sind als die Römer. Das Wort ‚Nachbarn‘ zieht wie von selbst eine Grenze und es hört sich doch viel kleiner an, als das riesige Gebiet der unbesiegten Sueben in Wirklichkeit ist.“ Sie hob in einer resignierenden Geste die Hände. „Tja, als die großen Imperatoren kommen sie mit dieser Einstellung durch. Wer es nicht besser weiß, glaubt alles, was er erzählt bekommt. Der Name der mächtigen Sueben wird verschwinden, wenn wir nicht aufpassen. Du als Grieche weißt ja: Der Sieger schreibt die Geschichte.“

Bevor Loranthus einen beleidigten Schmollmund ziehen konnte, packte sie ihn an den Schultern und rüttelte kräftig. „Ist doch egal, mein Freund! Was zählt, ist hier und jetzt! Und nun komm, wir gehen zurück zu Hanibu. Sie macht sich bestimmt große Sorgen.

Obwohl …“

Sie schaute zum Bach und schnippte mit den Fingern.

„Zuerst pflücke ich noch Sauerklee, Wasserminze und Brunnenkresse. Das wächst hier so schön üppig, das kommt mir sehr gelegen. Und du …“ Mit großer Geste zeigte sie auf eine blickdichte Stelle im Birkenhain und befahl: „Du kümmerst dich derweil um deine Wunden. Und zwar hurtig, hurtig.“

Artig trabte Loranthus in die angegebene Richtung und übersprang den Bach wieder mit Leichtigkeit. Viviane begutachtete seine Rückansicht und fand es sehr aufschlussreich, wie geschickt er auf den Zehen trippelte und mit den Armen die Balance hielt – wahrscheinlich gab es in seiner Schule keine dazu passende Disziplin, sonst hätte er sich doch körperlich betätigt. Grinsend drehte sie sich in die andere Richtung, zog ihr Hemd unter dem Gürtel hervor und nahm es vorne zusammen. Bis Loranthus zurückkam, hatte sie schon alle Kräuter in der Hemdtasche untergebracht. Neugierig warf er einen Blick hinein.

„Was kann man mit dem Grünzeug machen?“

„Erstmal Essen.“ Grinsend marschierte Viviane los.

Loranthus folgte ein wenig zögerlich. Er machte sich keine Sorgen wegen der Wildsau – sie gingen in die andere Richtung – aber dieses teilweise recht nasse Grünzeug machte doch einen fragwürdigen Eindruck auf ihn. Jetzt warf sie auch noch mit wachsender Begeisterung kleine weiße Blümchen hinein und versicherte diesen, wie gut sie schmecken würden. Erst Pferde, jetzt Blumen! Den ganzen Weg überlegte er, was ihr im Kopf herumging und wie er um die Mahlzeit drum herumkommen könnte, ohne Viviane vor selbigen zu stoßen. Zum Glück war der Weg recht lang, weil sie das Revier der Sau meiden mussten und so von der gegenüberliegenden Seite auf die Wiese kamen.

Und hier, am Waldrand, bot sich ihm ein Anblick, der sämtliche anderen Gedanken in den Schatten stellte: Hanibu stand neben Dina, hatte ihnen den Rücken zugedreht und starrte wie gebannt auf die Stelle am Waldrand, an der er vorhin verschwunden war.

Viviane tippte Loranthus auf die Schulter und gestikulierte: Heranschleichen wäre ungünstig und durch die Wiese trampeln kaum möglich – so oder so hätte sich Hanibu erschreckt. Darum riefen sie schon von Weitem ihren Namen.

Mit einem glücklichen Aufschrei ließ Hanibu die Zügel los, breitete die Arme aus und rannte ihnen entgegen. Schluchzend umklammerte sie die beiden und wollte gar nicht mehr loslassen; Viviane musste aufpassen, damit ihr nichts aus der Hemdtasche fiel, während Loranthus zu viel Schwung holte, um Hanibus Kopf zu tätscheln. Er stellte sich recht unbeholfen an, doch er schien ehrlich gerührt. Fürsorglich nahm er seine Sklavin am Arm und führte sie zu den Pferden zurück. Als sie ankamen, hatte Viviane längst ihren Mantel ausgebreitet, ein Tuch darübergeworfen und ein Brot sowie Sauerklee und Gänseblümchen in zwei Haufen darauf drapiert. Gerade zog sie die gut sitzenden Deckel von zwei Holznäpfchen ab.

„So, da haben wir auch Butter und Salz, alles Geschenke von unserer guten Wirtin. Setzt euch, wir haben uns eine Stärkung verdient.“

Mit ihrem Messer schnitt sie dicke Scheiben vom Brot herunter, bestrich sie großzügig mit Butter und legte alle der Reihe nach vor sich auf das Tuch. Loranthus wollte schon zugreifen, doch sie hob mahnend den Finger und er zuckte vor ihrem Messer zurück.

„Keine Bange, Loranthus, mein Freund, du musst dich nur noch ein wenig gedulden. Jetzt kommt doch erst das Wichtigste.“

Sie nahm ein Bündel Brunnenkresse in die Linke, schnippelte mit dem Messer kleine Stückchen über die Brote und streute Salz aus dem Näpfchen darüber. Nun machte sie eine einladende Handbewegung.

Misstrauisch beäugten die zwei Auswärtigen ihre Kochkünste, nahmen aber jeder ein Brot. Viviane kaute schon längst genüsslich und strahlte, als beide nach dem ersten Bissen große Augen machten.

„Das schmeckt ja wunderbar“, lobte Loranthus und sicherte sich gleich noch eine zweite Scheibe.

„Ich habe gehofft, es würde euch schmecken. Außerdem reinigt es das Blut und gibt neuen Schwung. Probiert ruhig auch den Sauerklee und die Gänseblümchen. Die Wasserminze kann ich euch leider nicht anbieten, die habe ich für andere Zwecke vorgesehen.“

Nach dem Essen ließ Viviane ihr Trinkhorn herumgehen.

Hanibu sah verdutzt auf. „Das schmeckt ja ganz anders als vorhin!“

Viviane feixte. „Loranthus hat eine verwunschene Lichtung entdeckt. Dort fließt ein kleiner Kieselbach. Wasser ist eben nicht gleich Wasser. Dieses hier hat vielleicht eine heilsame Wirkung auf Haut und Nägel.“

Hanibu wurde ernst. „Wie hast du ihn vor der Wildsau gerettet?“

Loranthus lachte laut auf und erzählte seine unheimliche Begegnung, als wäre es ein lustiges Abenteuer gewesen. Nebenbei schob er sich alles in den Mund, was seine Finger erwischen konnten.

Hanibu starrte ihn mit großen Augen an. „Und die Sau ist ganz von allein wieder weggelaufen? Verstehe ich nicht.“

„Sie hatte wohl keine Lust zu warten, bis ich herunterfalle.“

Viviane saß etwas versetzt hinter Loranthus und schnitt Grimassen, damit Hanibu nicht weiter fragte. Zur Sicherheit drückte sie die Deckel auf die Näpfchen, schüttelte ein paar Krümel vom Brottuch und sagte: „So, eine milde Gabe für die kleinen Freunde. Wir reiten weiter. Bald sind wir an der nächsten Furt und zum Mittag sind wir zu Hause.“

„Was gibt es denn bei euch zum Mittag?“ Loranthus hatte es plötzlich enorm eilig, auf Arions Rücken zu kommen, er brauchte nicht mal Hilfe.

Die weise Schlange

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