Читать книгу Zugtiere in Trägerhosen - Phil Gaimon - Страница 6

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EINLEITUNG

Ich erwachte mitten am Nachmittag auf einem Bürgersteig auf Trinidad, in ein Stück eines verstaubten Teppichs gewickelt, das ich von einer Rolle in der Garage eines Fremden gerissen hatte. Mein linker Arm, der als Kissen herhalten musste, war taub, also schüttelte ich ihn aus, während ich mit der rechten Hand Fliegen verscheuchte, die mir um die Augen summten, bevor ich in meinem Rucksack nach dem Trikot des Teams kramte, für welches auch immer ich mich in dieser Woche gerade abstrampelte, zusammen mit Fahrern, von denen ich noch nie gehört hatte, und bezahlt von Sponsoren, deren Namen ich nicht aussprechen konnte. Inzwischen 26 Jahre alt, hatte ich in dieser Saison ein paar größere Rennen gewonnen und mir nach Jahren harter Arbeit und vieler Opfer endlich einen richtigen Profivertrag erkämpft. Ich hatte gedacht, dass die schweren Zeiten damit hinter mir liegen würden, aber inzwischen weiß ich, wie falsch ich damit lag.

Hört das jemals auf? Wann darf ich mir einbilden, es geschafft zu haben?

Als ich klein war, bläuten Sportler und Prominente meiner Generation ein, dass wir stets an unseren Träumen festhalten sollten und dass wir Großes erreichen könnten, wenn wir uns nur tüchtig anstrengten und an uns glaubten. Klingt toll, aber was sie uns verschwiegen, war, dass auf jeden strahlenden Sieger tausende andere kamen, die sich ebenso sehr anstrengten, aber einfach nicht gut genug waren. Den Unterlegenen hält man kein Mikrofon hin, damit sie ihre Geschichte erzählen, man ahnt daher nicht, wie viel Scheitern es da draußen gibt und wie verzerrt die eigene Perspektive ist. Ich schätze, ich konnte von Glück sagen, immerhin irgendwo in der Mitte zu landen.

Ich kam am Tag der Challenger-Katastrophe zur Welt und malte mir daher aus, irgendwann Astronaut zu werden oder notfalls der nächste Michael Jordan – Träume, die meinen Eltern sicher nicht behagten. Mom war in Brooklyn groß geworden. Mit 24 machte sie ihren Doktor in Betriebswirtschaft an der Carnegie Mellon University, wo sie meinen Dad kennenlernte. Er war im Deutschland der Nachkriegszeit aufgewachsen und kam dank eines Fulbright-Stipendiums in die Staaten, um Informatik zu studieren. Sie erhielten beide eine Anstellung als Dozenten am Georgia Tech, und während Jordan mir also riet: »Just do it«*, mach’s einfach, erinnerten meine Eltern mich lieber regelmäßig an einen Typen, der mir mal als Sportschuhverkäufer bei Stride Rite die Nikes geschnürt und dabei von seiner Zeit als Basketballprofi in Europa erzählt hatte. Er diente ihnen als ein warnendes Beispiel, um mir und meiner Schwester den Wert von pragmatischen Zielen, Sicherheit und Stabilität zu vermitteln. Mom und Dad verdienten gutes Geld, schnitten aber Gutscheine aus der Zeitung aus und fuhren Toyotas mit Kurbelfenstern, um für unsere College-Ausbildung zu sparen – oder für schlechte Zeiten.

Wir lebten in Georgia, in einer ehemaligen Eisenbahnersiedlung namens Tucker, die heute ein Vorort von Atlanta ist und wo die Geschäfte an der Main Street allesamt Namen wie »Grandma’s Attic« hatten und nie mehr als ein oder zwei Jahre durchhielten. Das Radgeschäft »Bikeways of Tucker« befand sich jenseits der Gleise hinter dem Eisenwarenladen, und wie es hieß, diente das Gebäude, bevor es mit Speichen und Ritzeln vollgestopft wurde, dem Ku-Klux-Klan als Treffpunkt.

Als 1996 die Olympischen Spiele in Atlanta stattfanden, sahen wir uns die Leichtathletikwettbewerbe an. Ich war zehn Jahre alt, in Ehrfurcht erstarrt und malte mir aus, wie es wäre, eines Tages selbst zu diesem elitären Club dazuzugehören und einer der besten Sportler der Welt zu sein. Ich erkannte, dass es vermutlich nichts auf Erden gab, was begehrter und härter erarbeitet war als eine Goldmedaille. Dad war immer der Meinung gewesen, Sport sei unsinnig, aber mir zuliebe gab er zu meinem Geburtstag 299 Dollar bei Sports Authority aus und rührte in einer Schubkarre Zement an, um in unserer Einfahrt einen Basketballplatz anzulegen (er geriet ein bisschen schief, ich habe aber nie einen Ton gesagt).

Das Eheste, was meine Familie in Sachen Sport und körperlicher Ertüchtigung unternahm, war, gemeinsam Rad zu fahren. Eine meiner frühesten Erinnerungen ist ein Besuch bei Verwandten meines Vaters in Deutschland, wo wir einen Abstecher in die Niederlande machten und auf geborgten Tourenrädern die örtlichen Radwege erkundeten. Ich erinnere mich, dass wir direkt an einem Fluss in einem Restaurant mit einem Wasserrad vor dem Eingang zu Mittag gegessen haben. Holländische Pfannkuchen sind gelb und haben die Größe eines Gullydeckels, daher teilte ich mir einen mit meiner Schwester, und auf dem Heimweg musste Dad mich im Gegenwind schieben, sonst hätten wir es niemals zurückgeschafft.

Jeden Sommer packten meine Eltern den Minivan voll und mieteten für eine Woche ein Haus auf Jekyll Island an der Küste von Georgia. Dad und ich standen jeden Morgen früh auf, um auf unseren Huffys zum Café im Hof des Jekyll Island Club Hotel zu fahren. Er kaufte einen Kaffee und eine Zeitung und ich bekam einen Fudge Brownie Chip Cookie, was das Leckerste war, was ich jemals gegessen hatte. Ich zog meinen Dad dafür auf, ständig einen Rucksack mit sich herumzuschleppen, wenn wir unterwegs waren, aber er hielt auf dem Heimweg gerne am Supermarkt an, um Lebensmittel einzukaufen. Ich erinnere mich an das eine Mal, als es an der Schnellkasse »15 Teile oder weniger« hieß und er 16 Teile in unserem Korb zählte und sich dann an der längeren Schlange anstellte, weil er nicht im Traum daran dachte, die Blumen zurückzulegen, die er für meine Mom ausgesucht hatte. Dad befolgte die Regeln und er blieb seinen Prinzipien treu.

Mit siebzehn hielt ich mich für zu alt, um im Urlaub die ganze Zeit mit meinen Eltern abzuhängen, also holte ich mir mit Dad meinen Cookie, drehte für mich allein eine ängstliche Runde um die Insel und schaute im Ferienhaus fern, während sie an den Strand fuhren. Erst war ich genervt, dass nichts lief außer der Tour de France*, aber dann gewann Tyler Hamilton mit gebrochenem Schlüsselbein eine Etappe und Lance Armstrong stürzte, setzte sich auf dem Weg zu seinem fünften Toursieg aber trotzdem in den Bergen gegen Jan Ullrich durch.


Ich, mein Vater und meine Schwester Valerie auf Jekyll Island, Georgia.

Dad meinte, ich würde meine Ferien verplempern.

»Wen interessiert schon, wer ein Radrennen gewinnt?«, fragte er.

Aber ich musste einfach sehen, ob die Discovery-Channel-Mannschaft von Armstrong die Ausreißer einholen würde. Seine Teamkollegen machten vorne im Hauptfeld das Tempo, während ihr Kapitän sich im Windschatten versteckte, um Kräfte für seine nächste verheerende Attacke zu sparen. Innerhalb des Rennens gab es alle möglichen Preise und Wertungen, die sich auf die Strategien der Teams auswirkten, von Etappensiegen und Sprints bis hin zum Bergtrikot für den besten Kletterer. Wie es sich an Schlössern vorbei- und an Küsten entlangwand, glich das Peloton einer Symphonie, und Radrennen kamen mir vor wie eine magische Kombination aus Boxen und Schach.

Die Stadt Atlanta gehört im Grunde genommen Coca-Cola. In unserer Schule gab es daher Getränkeautomaten mit dem Zeug und ich kann mich nicht erinnern, als Kind je Wasser getrunken zu haben. Den Großteil meiner Teenagerzeit verbrachte ich übergewichtig und deprimiert, mit Bewegung hatte ich nichts am Hut, aber als wir von Jekyll Island heimkehrten, begab ich mich direkt zu Bikeways, wo mir der Eigentümer ein gebrauchtes Trek 1200 verkaufte. Es war zwei Nummern zu klein, ich kann also bestätigen, dass der Typ ein Arschloch war (wenn nicht gar Mitglied des KKK), aber ich liebte die Freiheit, die mir dieses Rad verschaffte. Unterwegs mit meinen Freunden war ich wie ein Entdecker, der zum ersten Mal die Welt sah. Wenn ich heimkam und mein Rad in der Garage an die Wand lehnte, ertappte ich mich dabei, zu lächeln und zu singen, und ich wusste, dass es meiner Seele guttat.

Als ich meine College-Ausbildung an der University of Florida begann, hatte ich 45 Pfund abgenommen, im UF Cycling Club war ich daher als »Skinny Phil« bekannt, und ich war mehr daran interessiert, die Geheimnisse des Windschattenfahrens zu lernen, als an meinen Hausaufgaben. Auf Ebay ersteigerte ich ein richtiges Rennrad und kehrte zu Weihnachten mit rasierten Beinen und hautengen Shorts nach Tucker zurück. (Dad schüttelte den Kopf, fast genau wie in einer Szene aus dem Rennrad-Film Breaking Away.)

Bikeways machte pleite und ich bemerkte ein Schild an der Main Street, das hochtrabend ein »Verschönerungsprojekt« für Tucker ankündigte. Man plante, eine Fahrspur zurückzubauen, um Platz für mehr Parkplätze zu schaffen, und es waren bereits ein paar erhöhte Betonflächen angelegt worden, die man mit Erdreich aufgefüllt und mit grauem, kniehohem Gestrüpp bepflanzt hatte. Ich stellte mir die Sitzung vor, in der die Stadtoberen über die Bereitstellung der Mittel für das Projekt entschieden hatten, und fragte mich, ob jemand gewagt hatte, das Unaussprechliche anzusprechen: Wie jede Antiquität hatte Tucker gewiss seinen Charme, aber es war alt und runtergekommen, ein Relikt voller stolzer Geschichte – im Grunde war da nichts mehr zu retten. Als ich die Gleise überquerte, bremste neben mir ein Pick-up ab und das Fenster wurde heruntergelassen. »Runter von der Straße, du Schwuchtel!«

Ich trainierte hart in jenem Winter und mein Gehirn setzte ein paar spitzenmäßige Chemikalien frei, als ich mein erstes Rennen gewann. Ich war süchtig und in den nächsten zehn Jahren meines Lebens war nichts anderes mehr wichtig. Ich fühlte mich lebendiger, wenn ich Rennen fuhr, und es war das Erste, was ich je gemacht hatte, bei dem ich auf Anhieb gut war. Als ein Freund mich zu einem Labortest drängte, kam ich auf einen irren VO2max von 88, und ich fühlte mich, als hätte ich eine Superkraft in mir entdeckt.*

Da es mir an den schnell kontrahierenden Muskelfasern mangelte, die man dafür benötigte, verlor ich jeden Sprint, aber bergauf war ich fast immer der Schnellste und meistens auch im Zeitfahren – eine Disziplin, bei der man auf speziellen Rädern allein gegen die Uhr fährt. Meine Freunde absolvierten im Sommer Praktika und zerbrachen sich die Köpfe über albernen Kram wie Berufsaussichten und Einstiegsgehälter, während ich an der Ostküste umherstreifte und mir in Amateurkreisen einen Namen machte. Wie ein verschlagener Wanderprediger tauchte ich an irgendwelchen Orten auf, mischte ein wenig die Lokalrennen auf und zog wieder ab. Oft verdiente ich kaum genug, um den Sprit und einen Burrito für den Heimweg bezahlen zu können, aber manchmal strich ich 1.000 Dollar ein, und als ich zwanzig war, hatte ich genug gewonnen, um bei einem der führenden Amateurteams unterzukommen, das bei den größten Rennen im nationalen Rennkalender startberechtigt war.

Profisportler neigen anscheinend dazu, recht nachtragend zu sein, was ihre frühen Zweifler betrifft. Michael Jordan beispielsweise ritt ständig auf dem Highschool-Coach rum, der ihn damals aus dem Team gestrichen hatte, aber der einzige Zweifler, an den ich mich aus dieser Zeit erinnere, war der Leiter des US-Nachwuchsprogramms, das junge Amerikaner fit für die UCI ProTour machte, die damals höchste Liga im weltweiten Straßenradsport. Ich war in meinem zweiten Jahr am College, als er meinte, ich sei zu alt, um mich der Mannschaft in Belgien anzuschließen, und dass ich an der Uni bleiben solle. Was soll’s. Wer will schon in Belgien rumhängen? Nach ein paar Wochen würden mir Waffeln sicher zum Hals raushängen.

Davon abgesehen hätten meine Eltern mich umgebracht, hätte ich das College geschmissen. Dad meinte immer, ich würde meine Zeit verschwenden, indem ich so viele Stunden auf dem Rad verbrachte, dennoch würde ich ihn nicht als Zweifler bezeichnen – er wollte einfach nur das Beste für mich. Wenn er das Wort »ProTour« hörte (beziehungsweise »WorldTour«, wie die Serie seit 2011 heißt), dann waren das für ihn nur Männer in hautengen Shorts, die ein Spiel spielten und sich grundlos die Beine rasierten, aber für mich waren Lance und seine Kollegen Gladiatoren: der Gipfel menschlichen Potenzials in Sachen Kraft, Ausdauer und Teamwork, gemeißelt aus Granit. Gut, stimmt schon: in hautengen Shorts und mit grundlos rasierten Beinen.

Die Leute, die an mich glaubten, waren in jenen Jahren wesentlich lauter als die Zweifler: Als ich mit dem Gedanken spielte, Jura zu studieren, bekam ich von den älteren Herren unter den lokalen Radrennfahrern während unserer gemeinschaftlichen Trainingsausfahrten immer zu hören, wie elend es doch sei, einer »ordentlichen« Arbeit nachzugehen. Sie versicherten mir, dass ich das Talent hätte, um »Profi« zu werden und »den Traum zu leben«.

Ich glaubte, sie wollten mir Mut zusprechen, aber inzwischen weiß ich, was wirklich dahintersteckte: Diese Männer hatten keineswegs meine Zukunft im Sinn, sie erinnerten sich vielmehr an eine Zeit, als sie selbst aufgegeben hatten – nicht unbedingt den Radrennsport, aber irgendwann hatten sie sich von irgendeinem Traum verabschiedet. Nun mochten sie einen Beruf, eine glückliche Familie und ein Rad für 5.000 Dollar haben, aber es gab immer noch Höhen und Tiefen. Da konnten sie sich leicht einreden, dass ihr Leben perfekt wäre, hätten sie es damals nur darauf ankommen lassen.*

Lance Armstrong war mit seiner inspirierenden Geschichte jedermann ein Begriff, und als bei meinem Dad Krebs festgestellt wurde, bezog meine Mom Kraft aus seinem Buch. Dad besiegte die Krankheit nach monatelanger Chemotherapie und meine Mom wurde zum Radsportfan.

Als Lance 2009 ein Comeback wagte, gab es im Radsport zahlungskräftige Sponsoren zuhauf. Den etablierten Rennställen stand daher reichlich Geld zur Verfügung, und für junge Fahrer war es ein Leichtes, einen Job bei einem der kleineren Teams auf »Continental«-Ebene zu finden, der Rennserie, die unterhalb der ProTour angesiedelt ist und sich auf den jeweiligen Kontinent beschränkt. Mit 22 schloss ich mich einem solchen Team an. Es wurde von Jelly Belly gesponsert, und so erhielt ich ein mit Geleebohnen lackiertes Rad, Trikots, auf denen Süßigkeiten zu sehen waren, und Gepäck, auf das unser Teamlogo und mein Name aufgedruckt waren. Klingt ein bisschen albern, aber ich war stolz wie Oskar.

Wenn Sie »Profisportler« hören, denken Sie vielleicht an verwüstete Hotelzimmer und schicke Autos, aber das entsprach nicht unbedingt meiner Erfahrung bei Jelly Belly. Die besten Fahrer auf diesem Niveau verdienten sechsstellige Summen, aber das durchschnittliche Gehalt lag eher bei 15.000 Dollar im Jahr und meins betrug 167 Dollar im Monat. Ich fuhr in einem Toyota Matrix mit Kurbelfenstern kreuz und quer durch die Staaten und traf meine Teamkollegen in Städten, von denen kein Mensch je gehört hatte, um an Rennen teilzunehmen, bei denen es keine Fernsehkameras und bestenfalls mickrige Preisgelder gab. Wir kamen bei Gastfamilien unter, die auf die harte Tour lernten, niemals »bedient euch in der Speisekammer« zu sagen.

Als Jelly Belly mir nur 6.000 Dollar für ein weiteres Jahr bot, wechselte ich zu einer kleineren Mannschaft, die vom Reifenhersteller Kenda gesponsert wurde. Sie zahlten mir 15.000 Dollar, eine für mich damals erkleckliche Summe, waren aber nicht gut genug, um zur Tour of California, zur Tour of Utah und zur Tour of Colorado eingeladen zu werden – den einzigen Rennen, bei denen amerikanische Continental-Fahrer sich mit den Spitzenteams messen konnten. Stattdessen juckelten wir zu jeder kleineren Rundfahrt, bei der die Veranstalter für unsere Reisekosten aufkamen, oder zu sogenannten Kriterien. Das sind schnelle Rennen auf innerstädtischen Rundkursen, bei denen die Veranstalter die Gehsteige in den engeren Kurven mit Heuballen ausstaffieren, weil sie genau wissen, dass es dort zu Stürzen kommen wird. Ich wurde Gesamtzweiter bei der fünftägigen Tour de Taiwan (hinter einem Typen, der eine zweijährige EPO-Sperre hinter sich hatte), riss mir aber das Kinn auf, als bei der Tour de DMZ in Korea, einem Etappenrennen durch die Demilitarisierte Zone, das Führungsmotorrad stürzte.* Hätte es eine Somalia-Rundfahrt mit Gratisbüfett gegeben, ich wäre gewiss dabei gewesen.

Die UCI (Union Cycliste Internationale, der Radsport-Weltverband) verlangt von Profis, krankenversichert zu sein, doch nur wenige Teams sind bereit, die Kosten dafür zu tragen. Angesichts meines Gehalts meldete ich mich pro forma bei einer Versicherung an, zeigte meine Versichertenkarte beim Verband vor, um meine Rennlizenz zu bekommen, und kündigte meine Krankenversicherung dann sofort wieder. Meine Eltern fürchteten, ich würde das Geld verschleudern, das sie in meine Ausbildung gesteckt hatten (tat ich auch), aber sie kümmerten sich weiter um mich, ließen mich die Versicherung erneuern und übernahmen die Beiträge. Ich hatte gedacht, ich würde meinen Traum leben, als ich Profi wurde, aber ich war weit davon entfernt, unabhängig, abgesichert oder gefestigt zu sein.

Alle Continental-Fahrer hofften, einen Platz in der WorldTour zu ergattern. Sprinter waren scharf darauf, sich bei einem der legendären Kopfsteinpflaster-Klassiker wie Paris-Roubaix durchrütteln zu lassen, während Kletterer davon träumten, an einer dreiwöchigen Grand Tour teilzunehmen, doch von den mehr als hundert Jungs in der Serie, die alle das gleiche Ziel hatten, schaffte es vielleicht alle paar Jahre mal einer nach Europa. Keine tollen Aussichten, aber weil die Saison kurz war, blieb Zeit genug, sich auf andere Weise die Brötchen zu verdienen. Ich verdingte mich als Personal Trainer, schrieb als freier Autor für Magazine* und eröffnete einen Online-Vertrieb für Radsportbekleidung. Manches davon lief ziemlich gut, aber ich lebte weiterhin nicht auf großem Fuß und sparte mein Geld in der ständigen Furcht, jeder Dollar, den ich verdiente, könnte der letzte sein.

Ich startete in diesen Jahren ein paar Versuche, eine Beziehung anzufangen, was aber nicht recht klappte. Ich war zu beschäftigt damit, mich um meinen Traum zu kümmern – den ganzen Aufwand, den ein verantwortungsvoller Mann getrieben hätte, um sich um seine Familie zu kümmern, investierte ich in meine Radsportkarriere. Als einmal eine Freundin sagte, sie wolle mehr gemeinsame Zeit verbringen, nahm ich mir dies zu Herzen, indem ich ein bisschen Popcorn machte und einen Film anstellte, nebenbei Bauchpressen auf dem Teppich absolvierte und in den Pausen zwischen den einzelnen Serien noch ein paar geschäftliche E-Mails schrieb. Aus irgendeinem Grund wollte sie mich trotzdem heiraten, doch wir trennten uns, als sie sagte, dass sie eines Tages Kinder wollte. Ich bekam es ja kaum auf die Reihe, für mich selbst zu sorgen, und konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, solche Verantwortung zu übernehmen.

Ich habe das Leben als Profi in der Continental-Serie nicht gerade in rosigen Farben geschildert, aber wenn man sich einredet, dass die Zukunft besser sein wird, rechtfertigt das die Gegenwart, und sein Dasein als Profisportler bestreiten zu können, war gewiss ein Privileg. Und überhaupt: Sollte ich mich in diesen Jahren schwergetan haben, so hatte ich offenbar viel zu viel Spaß dabei, um es zu bemerken. In Straßenrennen beispielsweise gibt es immer wieder lange Phasen, in denen nicht viel passiert. Sobald sich die frühe Ausreißergruppe gebildet hat, kann man sich mit seinen Freunden unterhalten und herumdölmern. Wenn man pinkeln muss, begibt man sich normalerweise auf einer Abfahrt an den Straßenrand und lässt sich von einem Teamkollegen schieben, während man sich bei 50 km/h erleichtert. Manchmal ließ ich mich anschieben, so dass es aussah, als würde ich pinkeln, hielt dabei aber eine Trinkflasche in Hüfthöhe und verpasste dem halben Feld eine Dusche, was ein entsetztes Geschrei gab, bis sie mir auf die Schliche kamen. Anschließend kam es zu einer spontanen Wasserschlacht, die Ausreißer wurden geschnappt und wir passten wieder auf. Nach dem Rennen gab es Champagner, wenn wir gewonnen hatten, oder Bier, wenn wir leer ausgegangen waren. So oder so war es eine Party.

Jedes Jahr hatte ich ein oder zwei Teamkollegen, die Freunde fürs Leben wurden. Zwischen Brad Huff, Jeremy Powers und mir gab es seit 2009 einen Running Gag, dass wir uns gegenseitig bescheuerte Fotos mit noch bescheuerteren Kommentaren schickten. Zum Beispiel ein Bild, auf dem meine Eier zur Seite raushängen, garniert mit der Frage »Sagt mal, Jungs, die Shorts passen ganz gut, oder?« – etwas in der Art. Einmal, als ich mit ein paar Leuten, die ich gerade erst kennengelernt hatte, auf einer Kneipentour war, lachte ein Mädchen über das Video eines hin und her schlenkernden Pimmels, das ihr Freund ihr geschickt hatte, und zeigte es am Tisch herum.

»Hey, woher kennst du Jeremy Powers?«, fragte ich.

Sie war ganz perplex, denn die Person in dem Video sah man nur vom Oberschenkel bis zum Bauchnabel, aber den Schwanz würde ich überall erkennen. Wie sich herausstellte, fuhr Powers in der gleichen Mannschaft wie ihr Freund.

Auf meinem Handy habe ich immer noch eine ganze, ähm, Latte an Fotos der Genitalien meiner Freunde. Ich hatte in den Jahren damals wirklich Spaß ohne Ende, ich habe tolle Freundschaften geschlossen und einmalige Erfahrungen gesammelt. Mit 25 war ich, einen Familienurlaub auf Hawaii eingerechnet, in 49 US-Bundesstaaten gewesen (komm endlich in die Puschen, Alaska, und veranstalte ein Radrennen) und hatte Rennen auf drei Kontinenten bestritten – nur nicht auf dem, der wirklich zählt. Manchmal gewann ich sogar, und ganz gleich, wie trüb meine Aussichten auch generell waren: In den Momenten, in denen mein Körper von den Chemikalien des Siegestaumels geflutet wurde, lebte ich den Traum.

Irgendwann kriegten wir spitz, dass in der ProTour beziehungsweise WorldTour hemmungslos betrogen wurde. Viele Sportarten hatten ein Dopingproblem, aber besonders effektiv waren leistungsfördernde Mittel bei Zeitfahren und im Hochgebirge; im Radsport setzten sich folglich die Fahrer durch, die besonders gewissenlos waren. Auch als Fahrer eines Continental-Teams musste ich die US-Anti-Doping-Agentur (USADA) stets über meinen Aufenthaltsort unterrichten. Mitbewohner kamen manchmal nach Hause und trafen mich, Formulare ausfüllend und Urinbecher versiegelnd, mit einem Vertreter der USADA und einem Aufpasser in der Küche an – dem letzten Ort, an dem man Körperflüssigkeiten sehen möchte.

Der bis dahin größte Dopingskandal war die sogenannte Operación Puerto, bei der die Behörden bei einem zwielichtigen Arzt 211 Blut- und Plasmabeutel sicherstellten. Die Beutel waren mit den Decknamen der Fahrer beschriftet, von denen sie stammten. Ein Rechtsstreit machte es zwar unmöglich, die jeweilige Herkunft zu bestätigen, aber es war doch teils ersichtlich, welcher Fahrer im Einzelnen dahintersteckte.

Auch wenn er es abstritt, stammten beispielsweise 20 Beutel vom Spanier Francisco Mancebo. Mancebo fand keinen Job mehr im schrumpfenden europäischen Peloton, also verdingte er sich stattdessen bei einem amerikanischen Team der Continental-Serie. Ich glaube nicht, dass er weiterhin dopte, aber Mancebos Motor war nach all den Jahren schmutziger Rundfahrten gut geölt, in kleineren Rennen war er daher fast unschlagbar. Ich kam mir fast vor wie der Held in einem Videospiel: Gegen alle anderen hatte ich mich durchgesetzt, nun musste ich einen Weg finden, ihn zu besiegen.


Leiden an Mancebos Hinterrad, Redlands Classic 2012.

Als weitere Skandale herauskamen, sahen Sponsoren den Radsport als Risiko, viele Geldgeber stiegen aus und große Teams mussten dichtmachen. Ich war jung und besaß noch Entwicklungsspielraum, aber da es immer weniger Jobs gab, war jedes Jahr ein »schlechtes Jahr«. Aufstrebende Talente gingen mit 25 zum College zurück oder beendeten mit 30 ihre Karriere. Ich teilte mir die Wohnung mit meinem Teamkollegen Pat Lemieux, als dieser mit der Profi-Triathletin Gwen Jorgensen zusammenkam. Als sie ein paar Wettkämpfe gewann und beschloss, ihren Job als Buchhalterin an den Nagel zu hängen, um ihren Traum von den Olympischen Spielen zu verwirklichen, waren wir alle der Meinung, dass es sinnvoller wäre für Pat, sie zu den Rennen zu begleiten, sich um ihr Rad zu kümmern und für sie zu kochen, statt sich fürs nächste Kriterium in meinen Toyota zu quetschen. Ich dachte, dass jede Saison meine letzte sein könnte, aber ich bekam immer einen neuen Vertrag, der gerade so reichte, um mich durchzuschlagen, sofern ich noch etwas nebenbei verdiente, und es gab immer einen Sieg, einen Moment der Hoffnung, an den ich mich klammern konnte. Mehr brauchte ich nicht, um auf der gepunkteten Linie zu unterschreiben, und mit jedem Fahrer, der aufgab oder weiterzog, kam ich der Spitze ein kleines Stückchen näher.

Verbittert über die Situation, in der ich mich mit 25 befand, ließ ich mir das Wort »Clean« auf den rechten Bizeps tätowieren, wo es nicht zu übersehen wäre, wenn ich auf dem Podium den Arm hob. Die Leute dachten, ich hätte es gemacht, weil ich Doper nicht ausstehen konnte, und ich gebe zu, dass ich diesen Kerlen bei jeder sich bietenden Gelegenheit die Meinung geigte, aber der wahre Grund war ein anderer: Ich verstand, warum manche Fahrer betrogen. Die Motivation als solche war mir nicht völlig fremd. Ich selbst wollte es so sehr schaffen, dass es mir bisweilen Angst machte, und das Tattoo sollte mir Kraft geben für den Fall, dass ich in Versuchung käme. Meine Kollegen Nick Waite, Adam Myerson, Isaac Howe und Brad Huff hatten ähnliche Tätowierungen und wir schlossen einen Pakt: Falls einer dopte, würden die anderen ihn sich schnappen und sein Tattoo mit einer Käsereibe runterraspeln.

Es kam schließlich heraus, dass Armstrong – das Aushängeschild unseres Sports – nicht einfach nur gemogelt hatte wie alle anderen. Er war ein Superbetrüger, heuerte Spitzenärzte an und heckte neue Methoden aus, um zu gewinnen, koste es, was es wolle. Während seine Konkurrenten erwischt wurden, nutzte Lance seine Macht und sein Geld, um jeden zu verfolgen, der ihm in die Quere kam, verklagte unter anderem einen früheren Soigneur, der ausgepackt hatte*, und hinterließ per Voicemail Drohungen, die seine Feinde um ihre Familien fürchten ließen. Frankie Andreu war einer der Ersten, der auspackte, und stand in der Branche jahrelang auf der Schwarzen Liste, bis er schließlich als Sportlicher Leiter meines Kenda-Rennstalls zurückkehrte.

Ich versuchte, mich in meine Kollegen hineinzuversetzen und die Grauzonen zu verstehen, aber mein ehemaliger Held schien ein Soziopath sondergleichen zu sein, ein Bösewicht wie aus dem Comic. Ich fürchtete, dass Dad doch recht habe könnte und dass ich meine Zeit verschwendete, aber in der WorldTour schien ein Umdenken stattzufinden. Jonathan Vaughters – auch er ein früherer Teamkollege von Lance – baute eine neue Mannschaft auf, die sich dem Kampf gegen Doping verschrieb, und heuerte einen Haufen Amerikaner an, um in Europa sauber Rennen zu fahren, wie David gegen Goliath. Angesichts seiner gewaltigen Koteletten, dem winzigen Budget und seltsamen Trikots, die mit Argyle-Karomuster verziert waren, war schwer zu sagen, ob JV es ernst meinte, aber als er Garmin als Hauptsponsor an Land zog, warfen auch andere Teams die Nadeln weg und die Ära des flächendeckenden Dopings war in Auflösung begriffen.

Ich war nur ein dummer Junge, der aus seinem Auto heraus lebte und Preisgelder für ein Tattoo ausgab, aber als ich das Team Garmin bei der Tour de France fahren sah, fühlte ich mich nicht mehr ganz so verloren. Ich flog nach China, um Muster für meinen Radklamotten-Shop abzunehmen, und holte einen Partner ins Boot, der sich um das Tagesgeschäft kümmern würde, so dass ich mehr trainieren und für ein kleines monatliches Gehalt halbtags arbeiten könnte. Dann gab ich meine Ersparnisse von 80.000 Dollar für ein zwangsversteigertes Haus in Athens, Georgia, aus, riss den Hundekampfplatz ab, den der Vorbesitzer hinter der Garage eingerichtet hatte (ja, Sie haben richtig gelesen), und wandelte das Untergeschoss in eine Wohnung mit kleiner Küche um. Mein neues Schlafzimmer hatte eine massive Tür und kein Fenster nach draußen (ideal für Ruhe und Regeneration). Ich stellte die Garage mit Rädern voll, und im oberen Stockwerk waren drei Schlafzimmer und zwei Badezimmer, die ich als zusätzliche Einnahmequelle vermieten konnte.

Athens ist eine tolle Stadt für einen Radprofi mit kleinem Budget. Ein Parkticket kostete vier Dollar und eine meiner Trainingsstrecken umfasste zwei überdachte Brücken und eine Tankstelle, wo es einen Riesenbatzen Maisbrot für läppische 25 Cent gab. So wie die Dinge nun geregelt waren, mit dem Geschäft und dem Haus, befand ich mich in einer ungeahnt komfortablen Situation, aus der heraus ich neu angreifen konnte – mein »Piratenschiff«, wie ich es nannte. Die Rechnungen waren bezahlt, und der Radsport wurde von einem Hobby zu einem richtigen Job. Ich legte mir einen Entsafter zu, bekam jede Woche eine Massage und heuerte einen Coach an, der mein Training steuerte. (Meine Eltern zahlten immer noch meine Krankenversicherung.)

Derart neu gestärkt, gewann ich die Auftaktetappe beim Redlands Classic, einem legendären Etappenrennen in der Nähe von Los Angeles, das als Sprungbrett zur WorldTour gilt. Ich wäre fast eingebrochen, als Mancebo am Schlusstag attackierte, aber ich flog in strömendem Regen durch nasse Kurven und ging dermaßen an die Reserven, dass ich am nächsten Tag nicht laufen konnte, aber ich holte ihn wieder ein und sicherte mir den Gesamtsieg. Mein Vorsprung: zwei Sekunden. Praktisch nichts. Wie knapp das doch alles war: Es waren diese zwei Sekunden, die dafür sorgten, dass ich mir einen Namen machte, und es waren dieselben mickrigen zwei Sekunden, die mich davon trennten, gescheitert zu sein und nichts vorweisen zu können aus dieser Zeit. Ich erinnerte mich, wie ich als Amateur das Redlands Classic als Zuschauer verfolgt hatte und wie ich dann bei meiner ersten Teilnahme nur Kanonenfutter gewesen war und davon träumte, dieses Rennen eines Tages vielleicht gewinnen zu können. Auf dem Podium weinte ich und hatte zum ersten Mal das Gefühl, dass alles gut ausgehen würde, als ich meinen tätowierten Arm über Mancebo hob. Und ich weine wieder, wo ich dies schreibe, nur beim Gedanken an diesen Moment. Ich bin echt eine Heulsuse…


Das Piratenschiff in Athens, Georgia.

Die sechsstelligen Gehälter, die früheren Redlands-Siegern winkten, konnte ich mir nach den ganzen Skandalen abschminken. Ich war daher hocherfreut, bei einem finanzstarken Continental-Team namens Bissell einen mit 45.000 Dollar dotierten Vertrag für 2013 zu unterschreiben. Nach wie vor nicht erste Liga, aber Bissell wurde stets zu den großen amerikanischen Rennen eingeladen, ich würde also die Chance haben, mich mit WorldTour-Fahrern zu messen, und ich würde mit dem Flieger zu den Rennen anreisen und im Hotel übernachten, statt mit dem Auto zu fahren und auf einer Luftmatratze zu schlafen. Und, jawohl: Das Sponsoring umfasste auch Gratis-Staubsauger. Meine Böden in Athens waren blitzblank. Verzeihung, ich meine natürlich meine Veranda.

Es ging aufwärts, aber es gab ein Problem: Ich war bereits 25 Jahre alt und nur ein einziger Typ hatte es noch nach dem College-Abschluss und einem späten Start in die WorldTour geschafft. Sein Name war Ted King. Ted hatte verstanden, dass Verträge nicht nur an Resultaten hingen, also musste er Wege finden, sich gut zu verkaufen und für Sponsoren attraktiv zu sein. Andere Profis machten sich lustig über Ted, weil er einen Blog schrieb und die sozialen Medien intensiv nutzte, aber dank seiner Kontakte zum Pedal-Hersteller Speedplay bekam er einen Fuß in die Tür zur WorldTour und wurde schließlich zum Vorzeige-Amerikaner bei einer von Cannondale gesponserten italienischen Mannschaft. Seinem Beispiel folgend, legte ich mich ins Zeug, um etwaigen Teams mehr zu bieten als bloße Rennergebnisse, und fing an, für Sponsoren in sozialen Medien zu werben und Testberichte für Magazine zu schreiben. Die Leute twitterten mir, welche Arten von Böden und Haustieren sie hatten, und ich empfahl ihnen den passenden Staubsauger von Bissell. (Ich bekomme immer noch Gratis-Sauger. Mark Bissell ist ein netter Kerl.)

Ab Januar 2013 würde ich also endlich ein Gehalt bekommen, von dem ich leben konnte, und eine Chance auf die großen Fleischtöpfe erhalten, aber als Kenda Pro Cycling mitten in der Saison das Geld ausging und den Laden dichtmachen musste, war ich vorerst auf Preisgelder und Rennen angewiesen, um in Form zu bleiben. Daher nahm ich die Einladung an, im August als Gastfahrer (quasi als Söldner) für eine Amateurmannschaft die Tour of Trinidad zu bestreiten, ein zehntägiges Etappenrennen in der Karibik, wo dem Sieger ein Auto winkte. Ich war so verzweifelt, dass ich nicht einmal fragte, was für eins.

Einhundert Fahrer zwängten sich um fünf Uhr morgens in Trinidads Hauptstadt Port of Spain in Schulbusse und traten die zweistündige Fahrt zum Eröffnungszeitfahren an. Die zweite Etappe ging abends in der gleichen Stadt über die Bühne, anstatt uns also in der Zwischenzeit zum Hotel zu fahren, luden sie uns einfach bei irgendjemandem zu Hause ab. Nach einem kargen Mahl aus Weißbrot und gebackenen Bohnen begab ich mich in die Stadt, um ein Roti aufzutreiben. Das ist eine trinidadische Spezialität aus Curryhähnchen, Kartoffeln und scharfer Soße, eingewickelt in Fladenbrot.*

Nachdem mein Magen besänftigt war, setzte die Erschöpfung ein, aber das Eheste, was ich als Bett ausfindig machen konnte, war eine Teppichrolle, also riss ich einen Streifen ab und schlief auf dem Bürgersteig ein – eingewickelt wie ein Roti.

Einer meiner Teamkollegen führte die Gesamtwertung an, ich fuhr daher an der Spitze des Feldes, als der Polizeiwagen, der die Aufgabe hatte, den Verkehr zu stoppen, unvermittelt an einer Tankstelle abbog, so dass es mir überlassen war, uns durch eine Hölle aus Lastwagen zu manövrieren, die auf beiden Seiten mit 60 Sachen an uns vorbeirasten. Im Rennen gab es auch eine Bergwertung, allerdings waren die Passhöhen nicht markiert, weshalb ich doch schmunzeln musste, als man mir hinterher das traditionelle gepunktete Trikot für den besten Kletterer überreichte. Jemand meinte, ich hätte außerdem einen Bullen gewonnen, aber ich habe ihn nie zu sehen bekommen, das mag also Bullsh… ähm, ein Witz gewesen sein. Nach der Etappe kaufte ich meinen Teamkollegen einen Sechserpack Corona und nahm den nächsten Flieger nach Hause. Die Jungs waren stinkig, ihre Zugmaschine zu verlieren, aber als ich hörte, dass zwei Etappen wegen starker Regenfälle und Überflutungen abgesagt werden mussten, musste ich mein Bestes geben, mir die Schadenfreude zu verkneifen, um ein wirklich schönes deutsches Wort aufzugreifen, das die Freude bezeichnet, die man über das Missgeschick anderer empfindet. Nach der Rundfahrt litten manche Fahrer unter einem Virus, das Fieber und Magenprobleme mit sich brachte, und ich gab mein Bestes, mir die Scheißenfreude zu verkneifen, um ein nicht ganz so schönes Wort aufzugreifen, das ich mir gerade ausgedacht habe und das die Freude bezeichnet, die man über den Dünnpfiff anderer empfindet. Ich habe nie herausgefunden, welche Art Auto der Sieger erhielt. Ich wette, es war gebraucht. Oder von Hot Wheels. Und irgendjemand da unten schuldet mir einen Bullen.

Wieder zurück in Georgia nahm ich mir ein paar Wochen frei, um mich von einer langen Saison zu erholen, und nutzte die Zeit, um an einem Buch über meine Reise durch den Radsport zu arbeiten. Gemütlich daheim in Georgia sitzend, auf meinen ersten richtigen Scheck als Radprofi wartend, dachte ich, meine Reise wäre vorbei – Ende gut, alles gut. Doch als ich mein Manuskript einem Verlag vorlegte, hieß es, es würde ein richtiges Ende fehlen*, was stimmte, aber irgendwie auch traurig und beleidigend war. Inzwischen empfand ich das Schreiben als etwas Erlösendes, ein Gefühl ganz ähnlich, als würde man eine juckende Stelle kratzen, also starrte ich in jenem Herbst und Winter, wenn ich nicht gerade auf dem Rad saß, auf mein Laptop. Als ich endlich wieder aus meiner Höhle kroch, meinten Freunde, ich sei über Monate verschwunden gewesen. Aber mein Versuch, imaginären Lesern Dinge zu erklären, hatte doch was gebracht. Er hat mir geholfen, diese Dinge selbst besser zu verstehen, und er zwang mich dazu, Emotionen zu verarbeiten, die zu empfinden ich seinerzeit zu beschäftigt gewesen war. Und so entschuldigte ich mich nun telefonisch bei Freunden, deren Hochzeiten ich versäumt hatte, und kontaktierte frühere Teamkollegen, um mich für aufmunternde Worte zu bedanken, an die sie sich in der Regel nicht mal mehr erinnerten. Ich nahm mir vor, ein inneres Gleichgewicht zu finden und ein besserer Mensch zu sein, dann ging ich mit meinen Kumpels zum »Weinabend« in eine Kneipe, wo ein Glas Cabernet und ein Stück Pizza 4,50 Dollar kosteten und ich mit der Barkeeperin nach Hause ging. Sie hatte blaue Haare.

Ich ging nicht davon aus, dass es mein Laptop je verlassen würde, trotzdem war es ein gutes Gefühl, mein Buch zu vollenden. Das Thema von Pro Cycling on $10 a Day*: Folge deinem Traum, aber geh auf Nummer sicher, beende die Schule, bring nicht zu viele Opfer. Sie verstehen schon, was ich meine. Ich weiß aber nicht, wie ich inzwischen dazu stehe.

* Lesen zufällig Anwälte mit? Können wir Nike wegen irreführender Werbung verklagen?

* Und Der Preis ist heiß.

Nicht zu verwechseln mit einem Typen, der … EIN NIGELNAGELNEUES AUTO gewann.

Radprofis machen sich genau wie NASCAR-Fahrer den Windschatten zunutze. Am Hinterrad eines Vordermanns spart man bis zu 30 Prozent Energie.

* VO2max ist ein Maß der Sauerstoffaufnahme und gilt als einer der wichtigsten genetischen Faktoren im Ausdauersport.

* Ich weiß nicht, wie oft ich den Satz »Ich hätte Profi werden können, aber …« zu hören bekam.

* Sie denken bestimmt, ich hätte mir die Tour de DMZ nur ausgedacht, aber weit gefehlt. Drei Tage lang fuhren wir unentwegt an Stacheldrahtzäunen entlang, und die einzigen Zuschauer waren Soldaten mit Ml6–Gewehren. Die Rennleitung warnte uns, zum Pinkeln nicht die Straße zu verlassen, denn dort gab es scharfe Landminen, und der Offizielle auf dem Motorrad – dessen Aufgabe es ist, die Fahrer zu leiten und den vor uns liegenden Verkehr zu blockieren – unterschätzte auf einer Abfahrt eine enge Kurve und rutschte mit seiner Harley aus, und die gesamte Führungsgruppe rauschte in ihn hinein.

* Ich sagte zum Beispiel dem Bicycle-Magazin, dass ich gerne über Standpumpen schreiben würde. Sie schickten mir sechs Stück, ich probierte sie aus, schrieb 500 Wörter für ein Honorar von 500 Dollar und vertickte die Pumpen bei Ebay.

* Soigneurs sind spezielle Betreuer im Profiradsport, die sich um Dinge wie Massage, Logistik und Verpflegung kümmern.

* Mir läuft das Wasser im Mund zusammen. Warum hat es Roti nicht in die USA geschafft?

* Übersetzung: »Du bist immer noch ein Loser. Trainier weiter.«

* Der Titel war eine Parodie auf das berühmte Reisebuch Europe on $5 a Day, den Witz hat aber keiner verstanden.

Zugtiere in Trägerhosen

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