Читать книгу Der uninterpretierbare Traum - Philip Hautmann - Страница 5
(Rompfs Kindheit)
ОглавлениеÜber dem Gras, erdfarben, und der Scholle, grün: Himmel – ein silberner Schild. Rompf und sein Kumpel Holz lungern in meinem Geist abermals am Sinnloszaun:
Du, hebt Rompf nach einigen Stunden des Schweigens an, um anschließend wieder innezuhalten,
Du, die eine Kellnerin vom Shabu, die Sarah....
Die Sarah, unterbricht Holz die Stille,
... ich habe immer gestaunt, was für unglaubliche Titten die hat, so Rompf.
Titten..., so Holz, und nach einer Weile: Titten, die Sarah, ja.
Dann hat eine Zeitlang darauf dort auch noch die Stella zum Arbeiten angefangen.
Stella... so Holz.
Und die Stella... also: die hat noch ein wenig unglaublichere Titten als die Sarah, stell dir das mal vor!
Noch unglaublichere..., so Holz impressionistisch.
Noch unglaublichere Titten, also, da glaubt man immer, der ihr Oberteil würde platzen, also, würde weggesprengt werden, weißt du, einfach ... weggesprengt. Von ihren Titten. Man glaubt, das würde gleich platzen, alles das. Solche Titten hat die, redet Rompf für seine Verhältnisse für einen Moment fast wie ein Wasserfall.
Die Stella!
Die Stella.
Ein Vogel fliegt von rechts ins Bild und ruft GUGURUGU, GUGURUGU. Schon trifft ihn der Plattschuss des Jägers außerhalb des Bildes, versteckt im Hinterwald, und er stolpert GUGURUGUUUUUU, UUUUUGUUUU sich ergebend irgendwo hinten zu Boden.
Jetzt habe ich neulich erfahren, hebt Rompf nach einer weiteren Weile an, um wieder eine Weile zu pausieren,
Jetzt habe ich neulich erfahren, dass die Sarah und die Stella, also die Sarah und die Stella, dass die beide Schwestern sind, schließt er erläuternd.
Mööööh, so Holz nach einer Weile.
Mööööh! – genau das war es, was Rompf der Lehrerin entgegnet hatte, als er, wie alle anderen Kinderchen am ersten Tag in der Grundschule mit seinem Namen aufgerufen wurde. Während alle anderen Kinderchen die Nennung ihres Nämchens mit ICH! oder HIER! bestätigten, tat Rompf dieses also mit MÖÖÖÖH! Auf die Frage der sogleich etwas verstimmt dreinblickenden Lehrerin (die damit bereits am ersten Tag einen unumstößlichen Hinweis erhalten hatte, wen von den Kinderchen sie sich die nächsten Jahre über als Klassentrottelchen zu erwarten hatte), warum er statt mit ICH! oder HIER! und im Gegensatz zu allen anderen Kinderchen den Aufruf seines Namens denn mit MÖÖÖÖH! quittieren würde, entschied sich Rompf dann lange nichts zu sagen, entweder weil er sich auf diese Frage keine Antwort überlegt hatte oder aber um zusätzliches Ärgernis hervorzurufen, bis er am Ende des Tages dann einen Purzelbaum nach vorne ausführte und der Lehrerin endlich zur Antwort gab: Weil ich eine Kööööh bön! – Jööööh, öne Kööööh! Höbön wör alsö öne Kööööh ön dör Klassööööh! Önd? Wö göht`s önöm sö öls Kööööh? bögte söch döe Löhrörön dö öber mit dem lieblichsten wie gleichzeitig gömönstön Löchöln nach vorne und streichelte Rompf am Köpfchön: Die Runde ging doch eher eindeutig an sie, und Rompf wurde dabei instinktiv klar, dass er es hier mit einem gar nicht so inkompetenten Gegner zu tun hatte, also antwortete er achselzuckend: Mööööh! bevor er sich beeilte, aus dem Klassenzimmer zu verschwinden. Von seiner anwesenden Mutter, Aase, mit heller Bestürzung... – Nun denn, davon später, denn zunächst hatte Rompf niemand mit seinem Auftreten so beeindruckt wie den, der sich auf den Aufruf seines Nämchens beinahe gar nicht zu antworten getraut hatte und sich am liebsten unter dem Tischchen verkrochen hätte – wenn er es sich getraut hätte – nämlich: Holz, der daraufhin zu Rompfs bestem Freund und größtem Bewunderer mutieren sollte. Während Rompf das Kuh-Thema in weiterer Folge im Übrigen nur mehr eher selten strapazierte, war das erste, was sich Holz angewöhnte, oft und gerne, vor allem, da sein Hirn sonst selten etwas ausspuckte, mit dem Ausruf Mööööh! zu hantieren, aber das war noch lange nicht alles, denn Sämtliches, was Rompf tun sollte, und Rompf ganz im allgemeinen, sollte für Holz zu dem werden, was für viele Angehörige der halbgebildeten Mittelschichten in den selben Jahrzehnten das Land Indien wurde: der „Weg“. Das galt für alle möglichen Dummheiten, und nicht nur für alle möglichen Dummheiten, sondern sogar für alle möglichen Krankheiten, mit denen Rompf im Laufe der Zeit ankam (Warum nicht auch für die Gescheitheiten? fragen sie mich, schöne Leserin – Nun: weil es nie Gescheitheiten gab.) Als Rompf zum Beispiel im Halbwüchsigenalter aufgrund übermäßigen Haschischkonsums mit den üblichen daraus resultierenden paranoiden Schizophreniesymptomen ins Krankenhaus eingeliefert wurde, dachte sich Holz, selbst dabei müsse was dran sein, und setzte alles Mögliche daran, auch selber solche Symptome zu entwickeln, was ihm aber nicht gelang, da Geisteskrankheit auf Knopfdruck nun doch nichts ist, was sich so leicht bestellen ließe. Zu einer der wenigen Eigenschaften, die Holz aber ab in etwa dieser Zeit geradezu selbstständig zu kultivieren begann, zählt aber ohnehin die... DIE.... (Tusch!) Hypochondrie, über deren Vehikel sich Holz von da an ständig einredete, irgendwelche Krankheiten zu haben. Beziehungsweise, da es weder für Rompf noch für Holz, noch für die meisten Leute sonst aus ihrem Umkreis, noch für die meisten Leute im Allgemeinen charakteristisch ist, sich über etwas allzu viele Gedanken zu machen, respektive irgend etwas allzu sehr zu vertiefen, sich nicht irgendwelche konkreten Krankheiten einzureden, sondern sich ganz einfach hauptsächlich „komisch“ zu fühlen – Wenn man Holz nach seinem Befinden fragt, bekommt man in aller Regel in seinem charakteristisch halb geraunten und halb gemurmelten Tonfall zur Antwort: Irgendwie komisch, wobei es natürlich auch häufig vorkommt, dass man sich mit Spezialfällen konfrontiert findet, sprich: Jetzt habe ich eine Wurstsemmel gegessen ... und jetzt, jetzt habe ich voll Bauchweh, oder aber: Weiß nicht, nicht so gut... die Leute hier sind so komisch. Überhaupt deutet die Häufigkeit, mit der er das Wort gebraucht, darauf hin, dass Holz nicht nur „die Leute“ oder sein eigenes Befinden oftmals als „komisch“ einschätzt, sondern nahezu alles. – Zumindest, wenn man einen sinnvollen Wortgebrauch seitens Holz annimmt, was freilich so nicht so einfach oder ohne, dass sich Protest oder Dissens dagegen geltend machen ließe, gehen würde, aber egal. – „Komisch“ war und ist bis heute Holz aber sichtlich stets das wertvollste Kleinod in seinem Wortschatz, und wenn die Lehrerin ihn sich zu fragen erlaubte Du da! Wie viel ist zwei plus zwei? konnte es schon mal heißen: Irgendwas Komisches... Was es sonst noch über Holz zu sagen gibt? Nun, eigentlich nur mehr, dass Holz seiner ungeheuren Pflegeleichtigkeit und Anhänglichkeit ein Gegengewicht entgegenzusetzen versteht, das dann auch nicht minder irrational ist, nämlich das eines unglaublichen iterierenden Starrsinns in Bezug auf andere, meistens längst so gut wie bewiesene Angelegenheiten.13 Wann immer sich Holz irgendwas eingeredet hatte, war und ist es so gut wie unmöglich, es ihm wieder auszureden, außer vielleicht, man führt vor seinen Augen ein chemisches oder physikalisches Experiment durch, das hieb- und stichfest aufzeigt, wie sich eine Sache nun eben mal tatsächlich verhält, natürlich war das aber meistens nicht bewerkstelligbar. Den größten Starrsinn ist Holz zu allem Überfluss fähig an den Tag legen, wenn es um die Behandlung von seinen tatsächlichen Krankheiten oder seinen häufigen Verletzungen geht, worin er so gut wie immer das tut und verfolgt, was sich zum allgemeinen medizinischen Rat ganz genau entgegengesetzt verhält, vor allen Dingen, wenn jemand, der kompetent in solchen Angelegenheiten ist, ihn nachdrücklich auf sein verkehrtes Verhalten warnend, ja, alarmiert hinweist – auf was hin seine Gesundheit sich dann tatsächlich stets unnötig verschlechtert und seinen hypochondrischen Ahnungen auch noch brauchbare Zuarbeit leistet. Die Gesundheitsmenschen kamen schließlich auf die Idee, Holz immer das genaue Gegenteil zum eigentlich richtigen und medizinisch angezeigten Rat einzubleuen, um sein Verhalten in die richtige Richtung zu lenken, was aber in ausgerechnet diesen Fällen dann aber auch wieder nicht funktionieren sollte. UND JA! Holz liebt es außerdem, buddhistische Witze zu erzählen. Wo andere Kinderchen und Erwachsenenchen nämlich gerne rassistische oder sexistische Witzchen wechselten, fielen seine Beiträge immer so schwach aus, dass man sie eines Tages als „buddhistisch“ etikettierte, was Holz aber in seiner Indolenz gar nie was ausmachte, ja, mehr noch, er die Form des buddhistischen Witzes stets in die luftige Höhe seiner ganz persönlichen Ausdrucksform zu heben bestrebt war.
(He... He! Ich habe schon wieder einen voll neuen, voll superen buddhistischen Witz: Geht ein Mönch über die Wiese –
Mein Gott Holz, halt einfach die Schnauze!
Ja, aber: Geht ein Mönch über die Wiese –
Mein Gott Holz, das interessiert doch keine Sau!
(Murmel, raun, murmel) Arschlöcher (murmel, raun) komisch)
So viel also zu Holz. Und zwar wirklich: So viel also zu Holz. Was würde ich bloß machen, wenn ich einen Roman über Holz schreiben müsste? Er wäre also schon wieder zu Ende! Je mehr ich mich in diesen Gedanken vertiefe, desto klarer tritt mir vor Augen, dass es in dieser Welt wohl wirklich einiges an Unmöglichem geben muss, abgesehen von dem, was sowieso den Naturgesetzen widerspricht, aber auch unabhängig davon: Eine ganze Masse und Menge an potenziell unmöglichem Material. Zu diesem virtuellen unmöglichen Material müsste auch ein Roman über Holz zu rechnen sein. Oder aber doch nicht, frage ich mich wiederum? ... Jetzt will ich es aber wissen, also probiere ich halt mal
Es war der kälteste Sommer des ausgehenden zwanzigsten Jahrhunderts. Grau legte sich die allmächtige Wolkendecke zwischen Menschenwelt und Firmament. Das Wolkengeflecht schien sich in der Elefantenhaut des allgegenwärtigen trostlosen Asphalts zu spiegeln, und diesem, konnte man meinen, die Hand zum ruchlosen Gruß zweier Verschworener darzureichen. Und jener schien dankend und der Menschenwelt gegenüber Hohn aussprechend zu erwidern. Hessenplatz, Hessenpark: Das Heterotop hinter der Landstraße, wo sich die Innenstadt mit einem Mal ins Neustadtviertel verirrte. „Ein kleines Zimmer, ähnlich einer Badestube auf dem Lande, verräuchert und in allen Ecken Spinnen, so stelle ich mir die Ewigkeit bisweilen vor“, sagte einst der liederliche Swidrigailoff in Dostojewskis „Schuld und Sühne“. Ein Satz, der sich einem ins Gedächtnis schiebt, hier, angesichts dieser Szenerie. Dampfend ragten die Häuserreihen in die freie Bahn, es war als ob sie in der unterdrückten Schwüle Schweiß absonderten und dabei einen dumpfen Klagelaut fahren ließen. Laternen entsprossen dem Grund, mit traurig geknickten Köpfen, könnte man meinen: Auch die Laternen leiden. Obdachlose vermaßen die Gegend, Punks, Aussteiger, andere traurige Gestalten. Ein Springbrunnen spritzte. Bäume arbeiteten sich aus der Erde, der Sonne entgegen, welche entfernt schien, weit wie noch nie. So auch Gras. Und Blumen. Ein kleines Restaurant, das sich „Victor`s Cafe Imbiss“ nannte, mit natürlich unkorrekt montiertem Apostroph, und das Klo draußen hatte; als Gast bekam man den Schlüssel ausgehändigt. Zwei Pornokinos in der Nähe, beide führten unglaublich schlechtes und selbst für Pornoverhältnisse uninspiriertes Programm. Regen fiel endlich vom Himmel und reicherte die dämmrige kalte Schwüle mit Feuchtigkeit an. Zuerst tröpfchenweise, dann in bedeutender und konstanter Anzahl, im Takt eines verrückt gewordenen Metronoms. Ein Freund, der Regen? Ein Feind? Es war einer dieser Tage, wo die Antwort darauf uneindeutig war wie ein Transvestit. Einer der transsexuellen Tage. Des transsexuellen Wetters, dachte sich Holz. Holz ging schnellen Schrittes in seinen Mantel eingehüllt die Straße entlang. Da passierte etwas: Ein Auto fuhr an ihm vorbei. Ein Matchbox 500, dachte Holz bei sich, und beschleunigte –
OH JA, so könnte das gehen. Aber ich bin hier ja auf keiner Kinderjause. Ich möchte hier schließlich die Geschichte von Rompf erzählen und dabei eine Linie zwischen Kosmos und Chaos ziehen; außerdem verlangt es mein Konzept, dass am Schluss dann der Satz „All das Leben ein Traum, uninterpretierbar“ steht, wohin ich also mit all dem einen Bogen spannen muss. Geschichte von Rompf erzählen – Linie zwischen Kosmos und Chaos ziehen – Bogen spannen zwischen Einleitungsdoppelsatz und Schlusssatz: Das ist mein dreidimensionales Projekt, und es würde mich nicht wundern, wenn noch was anderes dazukäme, aber ich werde mich aus inhaltlichen und formalen Gründen versuchen, dahingehend zu beschränken. Allzuviel Überfluss ist kein Muss und Übermut tut selten gut. Der größte Wunsch wird winzig klein gegen den, gesund zu sein, und ein Apfel am Tag verjagt den Zahnbelag, sowieso. OH JA! SCHREIEN – zählt außerdem noch zu den Lieblingsbeschäftigungen von Holz, kommt mir noch in den Sinn. Sich zu beschwipsen – nicht aber gleich die „Keule“ zu geben, wo ihm das dann, wie wir bereits untersucht haben, doch nicht mehr möglich ist – in den Hinterwald zu laufen und dann HIER KANN ICH SCHREIEN! SO LAUT WIE ICH WILL! herumzuplärren, beziehungsweise: HIER KANN ICH SCHREIEN! SO LAUT WIE ICH WILL! UND KEINER KANN MIR WAS TUN!
AAAAAEEEEEAAAAAEEEEOOOOOOOOH! AAAAAEEEEEAAAAAEEEEOOOOOOOOHAAAAH!
RAAAAAAAAAAAAAAAAAHH!
AAAAEEEE! AAAAEEEEAAAAEEEEUUUUUUUH!
UUUUUUUUUUUUUUUUUUUUUUUUH!
AAAAAAAAAH! AAAAAEEEEAAAAAEEEERAAAAAAAAAAH-AAAAAAAH!
Artverwandt bereichert Holz auch gerne Sing- und Tanzveranstaltungen, indem er sich auf die Tanzfläche stellt, EEEEEEEEEEEEEEEEH! WUUUUUUUUUUUUUUUUUUH! LAUTER!!! SUPER!!! WUUUUUUUUUUUUUUUUUUUH!!! herumschreit, sich an seinen eigenen Haaren zieht und spastische Bewegungen ausführt, was ihm auch bei seiner Hochzeit mit Betty Geröllheimer passierte. So erkläre ich euch zu Mann und Frau, hatte der Gottesbeamte zuvor feierlich erklärt, und so kam es, dass man Betty Geröllheimer das ebenso feierliche erste Mal flennen hören sollte: DU BLUADAO MUAO!!! DU SUABLUADAO M –
-öööh! hat er gesagt,
als die feine Lehrerin ihn hat
nach seinem Namen aufgerufen!
Oh, welche Schande, welche Schmach!
Dabei haben wir ihm doch, ach,
einen so schönen Namen gegeben
Noch dazu!
Oh, werd ich in diesem Leben
Jemals froh,
Werd ich jemals glücklich sein,
Wenn mein Sohn ein solches Schwein?
Bei diesem Kopf gefüllt mit Stroh?
Und ein so schönes Kleid hatte ich auch an! Ein so schönes Kleid! flennte außerdem Aase am Abend nach dem ersten Schultag zu Hause in der Stube. Rompfs Vater, den ich vorher aus klangsymmetrischen Gründen Aasus genannt habe, der aber Jon heißt, was ich nun auch beibehalten zu gedenke, saß in der Haltung des Philosophen ihr gegenüber und zog an seiner Pfeife. Rompf auf dem Sofa, wo er sich inzwischen wieder einmal, wie so oft am Tag, während Aases Klage mit der Hand tief hinten in den Hosenbund reinfuhr, dann die Hand wieder hervorholte und sich unter einem charakteristisch verwegen-(und zu allem Überfluss auch noch)hochmütigen Blick den Finger unter die Nase hielt um daran verstohlen zu schnüffeln – HERRSCHAFTZEITENGOTTSAKRAMENTSEIBEIUNS!!! HÖR ENDLICH MIT DIESEM FINGERKUNSTSTÜCK14 AUF! schrie Aase auf, stürze von ihrem kleinen Schemel auf ihn zu und verpasste ihm eine knallende Ohrfeige, woraufhin Rompf sogleich zu weinen begann, das heißt, nicht zu weinen, sondern, wie immer in solchen Situationen, durchdringend und mit aller Gewalt zu schreien – RAAAAAAAAAAAAAAAAAH! RAAAAAAAAAAAAAAIIIIIIIAAAAAAHHHH! – es war einem unklar, ob das halt mal seine Art war oder er das absichtlich machte um Bestrafungen zu sanktionieren und unwirksam zu machen, woraufhin Aase in einer Mischung aus Beschämtheit, Rationalität, Mutterinstinkt und unterdrücktem Ärger ihn schnell auf ihren Schoß setzte und ihn wippte um ihn zu beruhigen, weiterhin etwas geiferte und ihm unter einem nur knapp unterdrückten deftigem Fluch ärgerlich die Hand wegzog, die er sich schon wieder an die Nase geführt hatte (hin und wieder, wenn er auf den Schoß gesetzt wurde, führte er die Hand, nachdem er sie sich hinten in den Hosenbund gesteckt hatte, auch an die Nase Aases, doch das war bei dieser Gelegenheit zufälligerweise nicht der Fall). Ein so schönes Kleid habe ich mir extra angezogen, ein so schönes Kleid! Das Kleid mit dem Rot und den Rüschchen! Ein so schönes Kleid! Und dann sagt er, als die Lehrerin ihn aufruft: Möööh! Ein so schönes Kleid! (Pause) Jetzt sag doch was, Vater Günt! Sag doch endlich was! Jon Günt aber sollte, wie immer in solchen Fällen, noch eine Weile zuwarten. Dann erhob sich Vater Günt und sprach: Du, leg dich auf deine linke Seite! Dann lege ich die Schuld des Hauses Israel auf dich. So viele Tage, wie du auf dieser Seite liegst, trägst du ihre Schuld. Und ich setze für dich fest: So viele Jahre, wie die Schuld des Hauses Israel dauert, so viele Tage sollst du ihre Schuld tragen: dreihundertneunzig Tage. Wenn du diese Zeit beendet hast, leg dich auf die andere, die rechte Seite, und trag vierzig Tage lang die Schuld des Hauses Juda: einen Tag für jedes Jahr; so setze ich es für dich fest. (Ezechiel 4,4-7). Vater Günt hatte es durch seinen Hof über die Jahre hinweg zu einem gewissen Rang und Wohlstand gebracht, weswegen er sich, wie nahezu alle halbwegs erfolgreichen Geschäftsleute, auch irgendwann einzubilden begonnen hatte, überhaupt alles zu wissen und überhaupt alles zu können. Komischerweise ist es dann bekanntlich das Reich des Geistes, das dafür gerne herhalten muss. Dabei bemühte sich Vater Günt weniger, als Philosoph oder Künstler aufzutreten, sein Erleuchtungsdünkel bezog sich neben dem Buch Jesus Sirach, das er ebenfalls schätzte, insbesondere und hauptsächlich auf Kenntnisse des Buches Ezechiel, in welches er sich täglich vertiefte. Was er damit bezweckte, war zu diesem Zeitpunkt keinem klar, es fragte, mangels Interesse, auch keiner nach. Aase fand den Ezechiel-Komplex ihres Gatten zwar einerseits reichlich verwirrend, war jedoch auch stolz darauf, mit jemandem verheiratet zu sein, der neben dem alltäglichen Geschäft auch „höhere Interessen“ kannte und verfolgte, so wie sie es auch an sich selbst wahrzunehmen glaubte. Für Rompf bedeutete das alles nur, dass er, wenn er irgendeinen Blödsinn ausgefressen haben sollte, dann als Leviten gelesen bekam: Höre, Menschensohn: Das Ende kommt, das Ende kommt über die vier Ecken der Erde. Jetzt ist das Ende für dich da; ich lasse meinen Zorn gegen dich los, ich spreche dir das Urteil, das dein Verhalten verdient, und strafe dich für all deine Greueltaten. Mein Auge zeigt kein Mitleid, und ich übe keine Schonung, sondern dein Verhalten lasse ich auf dich zurückfallen, und deine Greueltaten sollen sich in deiner Mitte auswirken. Dann werdet ihr erkennen, dass ich der Herr bin. (Ezechiel 7,1-4). Ansonsten passierte nichts. Auch insgesamt saß die Erziehung Rompfs durch Vater Günt einigermaßen locker. Hin und wieder kam es vor, dass Vater Günt Rompf irgendwas von seinem höheren Wissen zu vermitteln versuchte, aber nicht oft, da er offenbar der Meinung war, dass Rompf dafür noch nicht reif genug war, beziehungsweise, wie sich später herausstellen sollte, der Meinung war, dass an und für sich so gut wie überhaupt niemand „reif“ für dieses Wissen sei. Nehmen wir, um sich das mal näher anzuschauen, zum Beispiel den einen Tag heraus, wo Rompf sich gerade in der Stube mit seinen Spielzeugautos spielte, sprich seine Spielzeugautos miteinander zusammenstoßen ließ, und dabei immer wieder begeistert ausrief: Und jetzt stoßen der Audi und der Mercedes zusammen! Und jetzt stoßen der Ford und der Opel zusammen! Und jetzt stoßen der Ford, der Volvo und der Mercedes zusammen! Und der Aston Martin fällt von oben drauf! Und der Honda fährt mitten rein! Da kam es, dass Vater Günt, der die ganze Zeit daneben gesessen war und ihn erwartungsvoll beobachtet hatte, plötzlich den Zeigefinger bedeutungsvoll in die Höhe streckte, sich an ihn wandte und ihm mitteilte: Höre Menschensohn! Dieses Handzeichen verjagt den Teufel – Alles klar, Mann, entgegnete Rompf lebhaft und rannte nach draußen, wo Holz schon auf ihn gewartet hatte. Vater Günt nahm da wieder die Haltung eines Philosophen an, schmauchte an seiner Pfeife und sagte bis zum Abend nichts, niemand wusste, was in seinem Gehirn vorging. Nachdem Rompf dann am Abend von Aase ins Bett gesteckt worden war und dort gerade damit beginnen wollte, sich mit seinem Dong zu spielen, erschien dann halt noch Vater Günt bei ihm im Türstock, nahm die Pfeife aus dem Mund, und verkündete ihm: So spricht Gott, der Herr: Das Ende kommt. Das Ende nähert sich dir. Siehe, es kommt. Jetzt ist die Reihe an dir. Bald gieße ich meinen Zorn über dich aus. Ich stille meinen Zorn an dir, ich spreche dir das Urteil, das dein Verhalten verdient, und lasse all deine Greueltaten auf dich zurückfallen. Mein Auge zeigt kein Mitleid, und ich übe keine Schonung, nach deinem Verhalten vergelte ich sie dir. Deine Greueltaten sollen sich in deiner Mitte auswirken. Dann werdet ihr erkennen, dass ich der Herr bin und dass ich zuschlage. (Ezechiel 7,5-9)
Ein Schwert, ein Schwert, / geschärft und poliert.
Zum Schlachten, zum Schlachten ist es geschärft; / um wie ein Blitz zu leuchten, ist es poliert.
Man gab es zum Polieren, dann packt es die Faust, / ein Schwert, geschärft und poliert, / für des Henkers Hand.
Verdoppelt wird das Schwert, ja verdreifacht. / Ein Schwert zum Morden ist es, zum Morden, / das gewaltige Schwert, das sie durchbohrt.
Das Herz soll verzagen, und viele sollen straucheln. / An all ihren Toren habe ich dem Schwert zu schlachten befohlen.
Ja, zum Blitzen bist du gemacht, / zum Schlachten poliert.
Zeig, dass du scharf bist! / Zucke nach rechts und nach links, / wohin deine Schneide gelenkt wird.
Auch ich schlage die Hände zusammen; / meinen Zorn will ich stillen. – / Ich, der Herr, habe gesprochen.
(Ezechiel, 21,14-22)
Vater Günts Tätigkeit und die Grundlage seines Wohlstandes begründete sich, wie schon bei Großvater Günt, auf dem Schlachten von Schweinen, und nachdem er sich mit dem Buch Ezechiel vertraut gemacht hatte, hielt er den Schweinen dann immer diesen Sermon, bevor er sie schlachtete. Schließlich kam der Tag, als der kleine Rompf mit dieser Tradition der Familie, beziehungsweise diesem erwürdigen Geschäft, das er schließlich fortführen sollte, von Vater Günt vertraut gemacht wurde. Zuerst der Sermon, dann das Abstechen der Sau, schließlich bekam Rompf noch einen Häfen voll mit dem aufgefangenen Schweineblut vorgesetzt: Erst dann sei er ein richtiger Mann, wenn er den in einem Zug runterstoße. Da trinke ich ja lieber mein eigenes Lulu, zeigte Rompf Vater Günt den Vogel und wollte hinausgehen. Aase versuchte sich ihm in den Weg zu stellen und ihm gut zuzureden von wegen, wie bedeutungsvoll der Augenblick sei, wie sehr er einer Initiation, einer Taufe, gleichkomme, wie gut der Vater Günt zu ihm sei, ihn bereits trotz seines jungen Alters – Hirnfurz, oder was? Da trinke ich doch lieber mein eigenes Lulu! zeigte Rompf ihr aber nur den Vogel und beeilte sich weiterzukommen. Mann oder Milch? ... betrat da die gute Solveig die Szene und versuchte ihn aufzuziehen, um ihn in die richtige Richtung zu lenken, Mann oder Milch? lächelte sie. Da blieb Rompf immerhin nachdenklich stehen. Müüüüh, sagte er aber schließlich und wollte trotzig weiterstapfen. Höre Menschensohn, donnerte nun aber endlich der ansonsten so stoisch auftretende Vater Günt, höre, was ich zu dir sage. Sei nicht widerspenstig wie dieses widerspenstige Volk! Öffne deinen Mund, und iss, was ich dir gebe. (Ezechiel 2,8) – Außerdem kannst du kein Schlachter sein, bevor du nicht, so wie wir alle, deinen ersten Häfen mit Schweineblut getrunken hast! Das verfehlte seine Wirkung auf den kleinen Rompf nun doch nicht, denn zuvor hatte es nichts in seinem Leben gegeben, was ihn je so fasziniert hatte wie die eben erlebte Schlachtung eines Schweins. Der Sermon – dann der rasch und sauber ausgeführte Stoß gegen die Halsschlagader des Tiers – das laute, aber kurze Quieken – schließlich sein Verenden und die Zuckungen in seinen Beinen, die in rascher Folge schwächer und schwächer wurden – schließlich, wie es dalag, das verendete Schwein, geschlossen das Maul, gebrochen das Auge... Mit glänzenden Augen seinerseits und unfähig sich zu rühren, man könnte schon meinen, entrückt, war Rompf dagestanden und konnte seiner Faszination und Bewunderung nicht Herr werden, zumindest, bis ihm Vater Günt mit dem Schweineblut gekommen war (dann kam eben das mit dem Vogelzeig und dem Lulu etc). Die Aussicht, selber Schweine schlachten zu dürfen, war ihm aber so verlockend, dass er sofort zu Vater Günt zurückkehrte, ihm geradezu den Häfen aus den Händen riss und das Schweineblut in einem Zug runtertrank. Darf ich rülpsen? fragte er dann respektvoll Vater Günt, der ihm vor lauter Wohlwollen, beziehungsweise, da er wusste, wie die Realitäten in solchen Fällen eben waren (und zumindest in Geschäftsdingen zog er es vor, sich an die Realitäten zu halten), bescheinigte Es geschehe, Menschensohn, woraufhin Rompf, nachdem er keinen Rülpser in der Röhre hatte, einen fahren ließ und unter dem mild-verklärten Lächeln aller Anwesenden nach draußen lief. Kurze Zeit nach dieser vorgezogenen Initiation verschwand dann übrigens Vater Günt auf Nimmerwiedersehen und ohne einen Abschiedsbrief zu hinterlassen. Dass man einen Selbstmord oder sonstiges tödliches Unglück ausschließen konnte, lag allein daran, dass der Haegstadtbauer ihn an jenem Morgen um fünf Uhr früh mit einem vollgepackten Rucksack und einem prophetenmäßigen Wanderstab eines ungewohnten Weges dorfauswärts hatte ziehen sehen, wenngleich danach keiner mehr von Vater Günt etwas hören oder sehen sollte. Fünfzehn Jahre später kam dann die Verständigung, dass man Vater Günt bäuchlings mit einem wilden Lächeln im Gesicht in einer Straße in Spanien liegend gefunden hatte, wo er in noch nicht allzu hohem Alter an Alkohol gestorben war. In seiner Tasche fand man auch zufälligerweise meinen Brief, den – Nun denn, Rompf auf jeden Fall schien dieses potenziell traumatische Verlusterlebnis, das für Therapeuten ein gefundenes Fressen dargestellt hätte (da es gar kein solches gab und man endlos hätte „tiefenpsychologisch“ weiterbohren können) dadurch zu bewältigen, indem er sich ganz in seine Rolle als zukünftiger Schlachter vertiefte und in ihr aufging. Ein Schlachter, ein Schlachter werde er sein, rief er dann immer aus (mit Begeisterung!), wenn die Lehrerin die Kinderchen fragte, was sie denn später werden wollten, ein guter Schlachter werde er sein, alle Säue der Welt wolle er schlachten! Alle Säue der Welt! Sollten ihm zum Opfer fallen! Werde er schlachten! Zur selben Zeit machten es sich Rompf und Holz übrigens auch zur Angewohnheit, auf dem Nachhauseweg von der Schule dann immer und grundsätzlich mit Steinen nach den Tieren zu werfen. Laut lachend liefen sie den kleinen Tieren hinterher und verfolgten sie, bewarfen sie mit Steinen und Erdklumpen und brachten sie in großer Zahl um – war das ein Gejohle und eine Freude! Am liebsten warfen sie mit den Steinen nach den Katzen, zuerst diesen Mai und dann für immer – DIE LIMITIERTHEIT, die Limitiertheit der menschlichen Persönlichkeit! der Mensch ein Automat, das Produkt der Verdrahtungen der Synapsen, ein durch sich selbst ferngesteuertes Etwas. Die Königin! Der Pudding! Der Tee! Und die bewaffneten Gangs! Ich muss raus aus diesem England! –